22.10.2018

22.11. – 02.12.2018, Polski Transfer – Festival des aktuellen polnischen Theaters, #1 – 2018

Künstler*innenkollektiv und Produktionshaus Komuna Warszawa

Komuna Warszawa ist eines der wichtigsten freien Avantgarde-Theater Polens, das zwischen den Grenzen der darstellenden Künste, Video- und Medienkünste sowie Musik experimentiert. In seinen auf Originaltexten basierenden Arbeiten erforscht das Theater wichtige Themen der Gegenwart und ist dabei ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und -mitteln. Komuna Warszawa wurde zu einigen der größten Festivals in Polen und weltweit eingeladen und trat unter anderem an Spielorten wie La MaMa in New York City, Hebbel am Ufer in Berlin oder 104 Centquatre in Paris auf. Darüber hinaus ist Komuna Warszawa ein Produktionshaus, in dem sich verschiedene Kunstwelten begegnen: Komuna hat sowohl Projekte von „Mainstream-Theaterkünstler*innen“ produziert (Grzegorz Jarzyna, Monika Strzępka und Paweł Demirski, Michał Borczuch, Markus Öhrn), als auch junge Talente der polnischen Tanz- und Performance-Szene gefördert (Marta Ziółek, Paweł Sakowicz, Iza Szostak, Ania Nowak, Cezary To- maszewski u.a.). Komuna Warszawa kooperiert mit Kurator*innen aus dem Bereich der darstellenden Künste und der Musik. Dabei    entstehen außergewöhnliche Projekte, die sich jeweils einem bestimmten Thema widmen, z.B. „We, the Bourgeois“, „The Future“ oder die Fortsetzungsreihe „Pre-war/War/Post-war“ und „Musicals. Musicals.“ Eines der wichtigsten Projekte, das für Kritikerlob und Publikumsinteresse gleichermaßen sorgte, war der pionierhafte Versuch einer „Archäologie“ der darstellenden Künste, bekannt als „RE//MIX“. Über einen Zeitraum von vier Jahren entstanden Inszenierungen, die sich mit vergangenen Meisterstücken der Avantgarde der performativen Künste beschäftigten. Eines der Highlights der Warschauer Theaterszene in der Spielzeit 2016-2017 war ein neues Format, die Reihe „Mikro Teatr“ (Mikro Theater). Im Rahmen von Polski Transfer wird es eine Präsentation einer polnisch-deutschen Variante von Mikro Teatr geben. Wie Komuna Otwock zur Komuna// Warszawa wurde: Ein Gespräch mit Alina Gałązka (AG), Grzegorz Laszuk (GL) und Tomasz Plata (TP) Mikro Theater TP: […] Und unser letztes Projekt, das Mikro Theater. Alle geladenen Künstler*innen spielten auf derselben Bühne: Grzegorz Jarzyna, Radek Rychcik, Weronika Szczawińska, Anna Smolar und Romuald Krężel. Sie arbeiteten unter denselben Bedingungen: Ihre Produktionen sollten höchstens sechzehn Minuten dauern; sie durften nur Requisiten verwenden, die in einen Koffer in Handgepäckgröße passen, sowie zwei Mikrofone, vier Scheinwerfer und einen Projektor. Der gesamte Zyklus bestand aus achtzehn Produktionen sowie weiteren in Lublin und Poznań – auf Franchise-Bühnen [Gelächter]. Bei Mikro Theater ging es um verschiedene Dinge. Erstens ging es darum, die Produktionsbedingungen am Theater sichtbar zu machen. Dadurch bekam das Publikum einen klaren Eindruck davon, wie Theater entsteht. Es erkannte die institutionellen Bedingungen, die bestimmen, was auf der Bühne gezeigt werden kann. Zweitens ging es um ein konkretes Nachdenken über das polnische Theater und in dem Zusammenhang um eine präzise Analyse. Wenn man nur sechzehn Minuten Zeit hat, muss man direkt sein, ohne Verzierungen, da muss man klar definieren, was man zu sagen hat. Ich mag solches Theater sehr: einfach, konzeptuell. Sozusagen Theater mit einer geringen Dosis Theater. Und drittens war Mikro Theater eine besondere Übung für ein Guerillatheater, hier wurde etwas mit begrenzten Mitteln geschaffen und frei von politischem Druck aus verschiedenen Richtungen. Wie wir wissen, muss das polnische Theater der Gegenwart eine Strategie des Widerstands gegen den politischen Druck entwickeln, und zwar schnell. Und das Format Mikro Theater kann uns einiges darüber lehren, wie das geht. Es gab einige Kritik, die meinte, dass unser Projekt die Verwirklichung eines neoliberalen Traums sei: schnell produziert, schnell konsumiert, geringe Kosten, prekäre Arbeitsbedingungen, das System zufrieden, weil es nicht viel investieren musste, und das Publikum zufrieden, weil es gleich drei Vorstellungen an einem Abend zu sehen bekam. Meiner Meinung nach hat das Projekt Mikro Theater diese institutionellen Verstrickungen eher offengelegt, als sie stillschweigend zu akzeptieren. Wo steht Komuna jetzt? AG:    Wir sind momentan in einer schwierigen Situation. Komuna Warszawa ist eine große Organisation geworden und wir können sie nicht länger unterhalten, ohne Vollzeitbeschäftigte irgendwie zu bezahlen. Fragen im Zusammenhang mit Finanzen sind für nichtstaatliche Organisationen sehr schwierig und ohne institutionelle Unterstützung ist es leicht, Fehler zu machen. Sie müssen wissen, dass der/die Kurator/in bei uns umsonst arbeitet oder zumindest fast, auch die Mitarbeiter*innen in der Verwaltung werden nicht für ihre Arbeit bezahlt. Einige Komuna-Mitglieder arbeiten ebenfalls kostenlos. Für die Künstler*innen, die von außerhalb kommen, zahlen wir normalerweise einen geringen Betrag. Aufgrund dieser Bedingungen brauchen wir jetzt Zeit, unser Vorgehen neu zu überdenken. GL:     Alina hat Recht: Uns fehlt die institutionelle Verankerung. Viele wichtige Theaterleute arbeiten mit uns (…) und viele andere, alte und junge, vertrauen uns und möchten mit uns arbeiten. Wenn wir keine verlässliche Finanzierungs- quelle finden, wird unser Konzept nicht aufgehen. Es ist ein Gebot der Würde, Künstler*innen gute Arbeitsbedingungen zu bieten. AG:     Seit einiger Zeit denken wir über ein neues Modell nach, das ich kurz skizzieren möchte. Eine nicht öffentliche Kultureinrichtung wird durch die Tatsache ihrer Permanenz definiert: Sie verfügt über ein permanentes Repertoire-Team aus Stammmitarbeiter*innen und ein erkennbares Profil. Nicht öffentlich meint hier, dass die Kultureinrichtung keine regelmäßigen Zuschüsse erhält und nicht durch staatliche oder lokale Behörden ver- waltet wird. Sie beantragt Mittel in einem Wettbewerb durch die Vorlage eines Programmkonzepts. Die Stadt oder das Ministerium kann in diesem Wettbewerb mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGO) auswählen, die als „Aushängeschild“ anerkannt sind, stabil und mit einem gesicherten Repertoire. In einer solchen Situation sollten die Wettbewerbe nur auf diese Form von Kultureinrichtungen (NGO) zugeschnitten sein. Und interessanterweise ist dies nach polnischem Recht möglich. Es gibt aber noch eine Alternative: Eine Nichtregierungsorganisation wird durch eine andere geleitet. Das Gesetz über kulturelle Aktivitäten erlaubt dies. Sie eröffnen ein Ausschreibungsverfahren oder gehen eine Direkt- vereinbarung ein. Auf diese Weise kann es funktionieren. Gemeinsam mit Aldona Machnowska-Góra [einer NGO-Aktivistin] haben wir uns bemüht, bei Politiker*innen ein Interesse für dieses Thema zu wecken, doch leider ohne Erfolg. In solchen unabhängigen Kultureinrichtungen ist es möglich, das Programm als Gruppe, als Team zu erarbeiten. So funktioniert es bei der Komuna: Entscheidungen werden üblicherweise gemeinsam getroffen. Grzegorz hat eine Idee, Tomasz hat eine andere, jemand anderes noch eine andere, dann sprechen wir über alles und am Ende kümmern wir uns um das Geld. Wir wollen unsere Projekte autonom entwickeln und uns nicht um jeden Preis an gewünschte Themen der Geldgeber anpassen. GL:     Wir haben bestimmte Geschmäcker, wir sind ein experimentelles Theater. Trotzdem sind unsere Vorstellungen meist ausverkauft. Es ist gut, dass das mündige Publikum wächst. TP:     Als Kulturorganisation ist Komuna Warszawa in Polen einzigartig. Die Gruppe hat dreißig Jahre lang ihre eigenen Produktionen erarbeitet, unterhält einen permanenten Spielort und ist außerdem noch zur Produktionsstätte geworden. Das ist angesichts der Größe dieser Stadt (Warschau) eine ganz schöne Leistung. Außerdem ist Komuna zu einem Bezugspunkt für andere Institutionen geworden, besonders weil viele Regisseur*innen und Schauspieler*innen wegen der Politik der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ aus dem offiziellen institutionellen Kreislauf aussteigen. Plötzlich müssen sie neue Formen der künstlerischen Arbeit suchen. Da kann die Geschichte von Komuna Warszawa hilfreich sein. Auszug aus Polnisches Theaterjournal 2017: Arkadiusz Gruszczyński (Hrsg.) Übersetzung aus dem Englischen von Hella Rieß

Verhaftet: WIR

Anlässlich der Warschauer Premiere von „Der Prozess“ (Franz Kafka) im November 2017 führte der Dramaturg des Nowy Teatr Warschau Piotr Gruszczyński ein Gespräch mit dem Regisseur Krystian Lupa. Das Gespräch ist hier gekürzt abgedruckt. Warum hast Du Dich entschieden, den „Prozess“ von Franz Kafka zu inszenieren und nicht „Amerika“? „Der Prozess“ kam als Antwort auf die Wirklichkeit, weil unsere Wirklichkeit ständig dieselben Motive erklingen lässt. Diese Art des merkwürdigen, dunklen Angriffs gegen den Menschen mit Hilfe des Gerichts, der Anklage, Beseitigung und Verstoßung mit Hilfe des Gesetzes, wie auch diesem erstaunlichen, demagogischen Diskurs, dessen sich heute die Regierenden – aber nicht nur sie – in den Abrechnungen zwischen der Regierung und dem Einzelnen bedienen, all dies erinnert ständig an das Muster Kafkas, an Irrationalität und an das Gefühl von Panik, wie auch an die Zwecklosigkeit von Verteidigung und den Verlust des Realitätsgefühls, der uns zuteil geworden ist. All dies sind Bestandteile Kafkas, die hier vielleicht in einer anderen Konstellation, in einem anderen Cocktail auftreten, doch im Grunde genommen gleich sind. In dem Moment, wo wir diese Bestandteile gesondert betrachten, können sie für den Theaterzuschauer zu einem Instrument werden, die heutige Realität zu verstehen. Und umgekehrt, vielleicht gibt die heutige Realität einen anderen Schlüssel, um Kafka zu verstehen. Das funktioniert in beide Richtungen. Interessant ist, dass in Polen erst jetzt ins allgemeine Bewusstsein dringt, wie sehr die Gesetzgebung die Realität kreiiert. In dem Stück „Engel in Amerika“ gibt es den Satz, den Roy Cohn sagt, dass es die Juristen gewesen seien, die Amerika aufgebaut haben. Der Satz war mir früher seltsam vorgekommen, weil er so weit entfernt schien, doch im Moment erfahren wir selbst, wie sich die Gesetzgebung auswirken kann. Ja, und das ist sehr gefährlich, weil es viele Fallen enthält, beinahe ägyptische Fallen, in die wir geraten. Man kann auch sagen, dass die Juristen die Demokratie betrügen. Die Demokratie erweist sich als eine juristisch zu schwach begründete Konstruktion, die man beliebig verformen kann. Und dann entsteht ein hybrides Gebilde, ein Monstrum, das an ein demokratisches Gebilde erinnert, wo es angeblich weiterhin um Gerechtigkeit, die Entwicklung des Menschen und all diese positiven Dinge geht, die als menschliche Menge den Staat bilden, um eine gemeinsame Kultur, die voranschreitet und neuen Generationen neue Ziele setzt. All diese Dinge können auf irgendeine Weise überlistet und im Namen des Gesetzes forciert werden, und der Mensch wird betrogen. Kafka taucht auf der Suche nach einem kompetenten Menschen in den Gerichtsweg ein, wo er schließlich dem Advokaten Masala begegnet. Es ist eine Odyssee auf der Suche nach Rettung, in der der Mensch immer weiter versinkt und bis zur Zerstörung, im Grunde genommen Selbstzerstörung durch diese ganzen Rettungsbewegungen kommt. In seiner Suche nach kompetenten Menschen, die ihm helfen könnten, gerät er an die Perversion und Absurdität der Rechtssysteme und –strukturen. Schließlich kommt er bei den Eingeweihten an, die sich als Wahnsinnige erweisen und bei diesen Machenschaften das Prinzipium des Menschseins vergessen haben, all das Positive, das es in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gibt, in den gesellschaftlichen Beziehungen. Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter Kafkas Prozess ein rätselhaftes Gebilde steht: es ist kein offizieller Staat. Kafka sagt, dass es kein offizielles Gericht ist. Im Staat entsteht ein unsichtbares Gebilde, das sich Dinge anmaßt, Strukturen aufbaut, die sich parasitenhaft in das Vorgefundene einschleichen…Bis es schließlich den ganzen Organismus durchwächst… Wie eine Wucherung, wie ein von der Mafia beherrschter Staat. Ein Organismus, der vom Pilz aufgefressen wird. Ja. Dieser Weg auf der Suche nach kompetenten Menschen ist symptomatisch und sagt sehr viel aus. Wir könnten diesen Weg des Josef K. durch dieses heutige, rätselhafte Gebilde gehen. Wir wissen, wer uns regiert, wer unsere Regierung ist, aber de facto wissen wir immer weniger. Das, was wir von außen sehen, mit unserer Regierung mit Kaczynski an der Spitze, beginnt, eine immer geringere Bedeutung zu haben. Es scheint, dass wir zusammen mit ihnen allen in eine seltsame Falle getappt sind. Sie werden versuchen, ihre Existenz zu retten, denn es geht für sie um ein Entweder – Oder. In dem Moment weiß man nicht, in welchen Raum des Minotauros unser Schiff hineingeworfen wird. Im kommunistischen Polen wurde „Der Prozess“ oft inszeniert, weil er ideal zur totalitären Vision des Staates passte. Welche Bedeutung hat das für dich? Heißt das, dass wir zu irgendetwas zurückgekehrt sind? Oder vielleicht war jene Betrachtung Kafkas vereinfachend? Damals versuchte man, Anspielungen aufzubauen. Ich habe auch die Befürchtung, dass dieses Werk so gut auf unsere Intuitionen wirkt, dass es sofort zu bestimmten Assoziationen anspornt und darin sehr ansteckend ist. Das verleitet zu oberflächlichen Anspielungen. Aus diesem Grund haben wir versucht, dem Werk erst einmal seinen österreichisch-ungarischen Beigeschmack zu nehmen. Vor einem Jahr, als wir mit den Proben in Breslau angefangen hatten, interessierten wir uns auch für die jüdische Spur; im Moment steht sie nicht im Vordergrund, weil sie uns zu sehr fasziniert hätte und wir darin hätten ertrinken können. Wir versuchen vor allem die Geschichte eines Menschen zu erzählen, so als ob „Der Prozess“ heute geschrieben worden wäre. Es ging nicht darum, riskante Aktualisierungen vorzunehmen, sondern eher, die gröbsten Anachronismen herauszustreichen. Plötzlich stellte sich heraus, dass es genügt hat, diesen typischen Beigeschmack des 19. Jahrhunderts zu entfernen. Diese Erzählung über den Angriff, die Verteidigung und das Schuldgefühl ist absolut zeitgemäß, ohne jegliche Anspielungen. Sie selbst enthält genügend Gedanken, die im Moment von enormer Bedeutung sind und sehr stark ertönen. Wir haben versucht, noch eine weitere Spur zu verfolgen und haben uns dafür interessiert, dass Kafka den Roman nicht vollendet hat. Wir sprechen von Schuld, es gibt einen Prozess, ein Gericht, vom angeklagten oder festgenommenen Josef K. Worin besteht für dich seine Schuld? Kafka scheint mir ein genauso faszinierender wie suspekter Mensch zu sein, unwahrscheinlich verschlossen, er war zu verletzt und von der Welt abgeschoben, zu einsam, um ein normaler Mensch zu sein. Das sagen alle: so verhält sich kein Unschuldiger. Kafka selbst hat ein seltsam sadistisches und gehässiges Verhältnis zu seinem Protagonisten, wir können sogar sagen, dass Kafka seinen Helden auf eine rachsüchtige Weise tötet. Es ist eine Art demonstrativer Selbstmordakt, der sehr komplex ist, deshalb reiten Psychiater so gern auf Kafka als einen kranken Menschen herum. Das Krankhafte von Kafkas Persönlichkeit ist nicht zu überschätzen. Kafka ist ein Exemplar unserer gesellschaftlichen Kulturkrankheit. Er ist kein Weiser, der über der Gesellschaft steht, oder jemand, der sich anmaßt, ein Weiser zu sein. Kafka sagt etwas anderes: jeder ist schuldig, es gibt keine unschuldigen Menschen, unschuldige Menschen wurden vom Gesetz erfunden, alle sind verdorben und angesichts des Gesetzes zur Lüge verurteilt, Unschuld ist reine Einbildung. Schau doch, wie sich das verändert hat, man hatte doch diesen Roman lange Zeit so gelesen, dass Josef K. unschuldig gewesen ist, ein Opfer des Systems, der Maschinerie. Das Buch wurde nicht als die Geschichte eines unschuldigen Menschen geschrieben, das ist die Geschichte eines Menschen, der eine verborgene Schuld hat. Wir nehmen an diesem Roman wie an einem Traum teil, in dem wir verfolgt werden, aber dieser Protagonist ist weder sympathisch noch verständlich. Er ist krankhaft egozentrisch, nimmt keine Gewissensabrechnung vor, er ist ein merkwürdig verlogener Mensch, der nur die Spur seiner Rettung verfolgt, er wird in eine Lügenmaschinerie hineingezogen. Der Prozess selbst strebt auch nicht nach Wahrheit, sondern nach der Auslöschung und Zerstörung des Individuums. Ich verstehe das so, dass Josef K. r dich kein empathischer Held ist? Er ist überhaupt kein Vorbild. Josef K. verteidigt nur sein Leben, man kann aus ihm keinen Helden machen. Aber wenn er schon solch ein Mensch bleibt, verkrüppelt und asozial, dessen Ambitionen ausschließlich egoistischer Natur sind, der keine mit der Welt verbundenen Träume hat und keine Mission, der Welt irgendetwas zu geben – es gibt keine Spuren davon – dann lässt er in dem Moment, in dem er angegriffen wird, doch viele Beobachtungen los, nicht zu Ende gesprochener Sätze im Moment der Reflexion, einen verzweifelten Kampf, völlige Benommenheit durch diesen zu lange dauernden Prozess – diese Worte sind für uns treffend. Wir brauchen uns nicht mit dem Protagonisten zu identifizieren, wir brauchen ihn nicht als Vorbild zu zeigen, er soll ein unvollendeter Mensch bleiben. Wegen dieser Unvollendung und seinem fehlenden Mut, seiner fehlenden Konsequenz wird er getötet. Kafka tötet den erbärmlichen Menschen in sich. Ich dachte, es würde mir schwerfallen, mich mit diesem Helden zu identifizieren; doch leider oder zum Glück ist das unumgänglich. Wenn wir Kafka anfangen zu inszenieren, so tauche ich in diesen Menschen mit seinen ganzen Gebrechen ein, und finde mich in ihm wieder. Das ist genauso erschreckend wie faszinierend, wir erleben das alle, wenn wir versuchen, tiefer zu gehen, eine Art Selbsterniedrigung. Dieser vampirhafte Autor verlangt sehr seltsame Erlebnisse und Erfahrungen vom Schauspieler, der versucht, ihn mutig, nicht oberflächlich, bis zum Letzten zu verstehen. Übersetzung aus dem Polnischen von Agnieszka Grzybkowska

22.10.2018

9. – 11.11.2018, 4:3 Kammer Musik Neu, #1 – 2018

4:3 kann auf einer Fussballanzeigetafel stehen, 4:3 steht aber auch für das Frequenzverhältnis der reinen Quarte, es kann Spannungs-, rhythmische und Mehrheitsverhältnisse benennen, kann Raumdimensionen und Musikerformationen beschreiben — 4:3 stellt immer die Frage nach der Konstellation. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich vor allem das Streichquartett als „Königsklasse“ der Kammermusik etabliert. Luigi Nono wiederum hatte sich viele Jahre dieser Gattung verweigert, erst 1980 wurde sein Streichquartett „Fragmente – Stille. An Diotima“ uraufgeführt. Vielleicht war Nono – als betont politischer Komponist – lange skeptisch gegenüber einer musikalischen Gattung, die zu seiner Zeit eher mit konservativen und weniger avantgardistischen oder sozial engagierten und kritischen Haltungen in Verbindung zu bringen war? Dass Nono sich letztlich doch für diese Komposition entschied, bezeichnete er als Ausdruck eines „gegenwärtigen Experimentierstandes“, entdeckt hatte er für sich eine kollektive und politische Seite des Zarten und Privaten, die Möglichkeit zur großen aufrührerischen Aussage mit kleinsten Mitteln. Es ist sicherlich richtig, die Anfänge europäischer Kammermusik in der Spätrenaissance zu sehen. Dieser vor allem aus kompositorischer oder musikhistorischer Sicht interessante Ansatz vernachlässigt aber oft eine eher musiksoziologische Perspektive, die Kammermusik auch in der Tradition musikalischer Versammlungskulturen, musikpraktischer Netzwerke und Hör- gemeinscha en beschreiben kann. Hinsichtlich europäischer Traditionen erscheint deshalb z.B. der Beginn der Entwicklung europäischer bürgerlicher Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhun- derts als interessanter Bezugspunkt, könnte man doch hier kammermusikalische neben literarischen Salons als prägend und essenziell für diese Entwicklung benennen und damit klarer ein gesellschaftlich relevantes Potenzial beleuchten. Auch heute ist musikalische Versammlungskultur stark in unserem Alltag verankert, allerdings sind gerade im Bereich der sogenannten ernsten oder klassischen Musik – im Gegensatz z.B. zu Entwicklungen in Jazz, Rock, Electro- nic oder Punk – die benannten gemeinschaftsbildenden Ursprünge musikalischer Salon- und Kammermusikkultur, vor allem aber die von Nono betonten Aspekte des Kollektiven und Politischen, verblasst. 4:3 wird als neues Format in HELLERAU Kammermusik in den Mittelpunkt stellen und dabei ganz bewusst auch kol- lektive und politische Seiten des Zarten und Privaten und die Möglichkeiten zur großen aufrührerischen Aussage mit kleinsten Mitteln untersuchen, will die Rolle der Künstler*innen wie auch des Publikums thematisieren, will Spannungs- wie Raumverhältnisse austesten und Mehrheiten wie Minderheiten zu Wort kommen lassen. 4:3 wird vor allem aktuelle Kompositionen und jüngere Ensembles präsentieren und – gemeinsam auch mit dem Publikum – Plattform für Experimente und die Entwicklung von communities of practice (Jean Lave/Etienne Wenger, 1991) sein. 4:3 wird langfristiger Partner des künstlerischen Nachwuchses sein; 2018 wird die Komponistenklasse Dresden in Kooperation mit dem Bozzini Quartett Uraufführungen präsentieren, Absolvent*innen der Internationalen Ensemble Modern Akademie werden u.a. „Hölderlin Lesen“ von Hans Zender aufführen. Als zwei der spannendsten jüngeren Vertreter*innen neuer musikalischer Kollektive sind 2018 Ensemble Adapter und Ensemble Decoder bei 4:3 zu Gast. Adapter ist ein deutsch-isländisches Ensemble für Neue Musik mit Sitz in Berlin. Den Kern der Gruppe bildet ein Quartett aus Flöte, Klarinette, Harfe und Schlagzeug. Mit progressivem und kraftvollem Stil widmen sich die Musiker*innen in Konzerten und im Studio einem individuellen und internationalen Repertoire zeitgenössischer Musik, hinterfragen in experimentellen Settings den Begriff des Kammermusikalischen. Erworbenes Wissen über Komposition, Studium und Aufführung von zeitgenössischer Musik teilen sie weltweit mit Komponist*innen, Instrumentalist*innen und anderen Kreativen. Ensemble Decoder, gegründet 2011 in Hamburg, versteht sich als „Band für aktuelle Musik“ und zählt zu den innova- tivsten und unberechenbarsten Vertreter*innen der internationalen Neue-Musik-Szene. Die Formation, bestehend aus elektronischen und akustischen Instrumenten, zeichnet sich durch einen besonders charakteristischen energetischen Sound aus, hebt sich dadurch deutlich vom Klangbild konventioneller Kammermusikgruppen ab und bricht spielerisch und mit großer Ernsthaftigkeit scheinbar selbstverständliche Rollenverständnisse zwischen Publikum und musikalischen Akteur*innen auf. Zentral ist für Decoder die Zusammenarbeit mit Komponist*innen der jüngeren Generation – wie z.B. mit Brigitta Muntendorf, die das Konzertprogramm von Decoder für HELLERAU kuratieren wird. Moritz Lobeck Programmleitung Musik und Medien  

15.10.2018

Kunst ist ein Kran, #1 – 2018 – Ein Gespräch mit Johanna Roggan und Anna Till

„ZWEI für Dresden – Initiative zur Stärkung der Freien Darstellenden Künste in Dresden“ ist ein 2017 vorgelegtes Positionspapier der Koalition Freie Darstellende Künste Dresden (KFDK) nach einer Vorlage der Künstlergruppen Cie. FREAKS UND FREMDE, the guts company, Katja Erfurth, JuWie Dance Company, shot AG, Theater La Lune, theatrale subversion. Zu den Unterzeichner*innen des Papiers gehören 33 Dresdner Künstler*innen verschiedener Sparten, unter anderem auch Johanna Roggan (JR) und Anna Till (AT). Mit ihnen sprach André Schallenberg, Programmleitung Theater und Tanz in HELLERAU. Was bedeutet der Begriff Freie Szene, und was bedeutet er für euch ganz persönlich? AT: Der Begriff Freie Szene ist sehr verwaschen. Grundsätzlich meint Freie Szene, dass Künstler*innen freischaffend und unabhängig von Theaterhäusern, also auch ohne feste Ensemblestruktur, tätig sind. Da viele Choreograf*innen ihre Stücke innerhalb von Koproduktionen mit mehreren Partnern (darunter Theaterhäuser, Festivals und andere Spielstätten) produzieren, verwischen aber auch die Grenzen. Für mich bedeutet Freie Szene, einen großen Spielraum für Experimente und neue künstlerische Ausdrucksformen zu haben. Als Choreografin entscheide ich allein das Thema für mein neues Stück und stelle selbst das künstlerische Team zusammen. 

Ich trage die Verantwortung für einen reibungslosen Ablauf dieser Vorgänge

Freie Szene bedeutet allerdings auch, dass ich mit einer weniger gut ausgebauten Infrastruktur agiere als an einem Staats- oder Stadttheater. Neben der künstlerischen Arbeit muss ich darauf achten, dass alle administrativen Schritte funktionieren. Das heißt, ich muss innerhalb meiner Company eine eigene Infrastruktur aufbauen, Personen beschäftigen für Mittelakquise, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Produktionsmanagement, Abrechnungen und vieles mehr. Ich muss außerdem in der Lage sein, Proberäume zu mieten und Material für Bühnen- und Kostümbild zu bezahlen. Alle Mitarbeiter*innen meiner Company werden von mir bezahlt und ich trage die Verantwortung für einen reibungslosen Ablauf dieser Vorgänge. Ich unterhalte also als Choreografin ein eigenes Unternehmen. JR: Für mich persönlich bedeutet der Begriff, dass ich meine eigene Arbeit in meinem Tempo und mit Menschen, die ich aussuche, zusammen gestalten kann. Ich muss keinen Spielplan bedienen. Ich kann mich also Themen widmen, die mir auf der Seele brennen. Das bedeutet für mich auch, keine Weisungsempfängerin und nicht an eine unmittelbare Hierarchie gebunden zu sein. Was, mit Blick auf die Institutionen, mit denen ich zusammenarbeite, auch nur so halb stimmt. Wir brauchen die Institutionen (seien es nun die Theaterhäuser oder z.B. Förderinstitutionen) und sie brauchen uns. Ihr habt das Koalitionspapier für die Freie Szene in Dresden mit entwickelt. Von wem wurde es verfasst, und was ist euer Grundanliegen? JR: Den Beginn haben sieben freie Tanz- und Theatergruppen und Einzelkünstler*innen gemacht, die in enger Verbindung zum Societaetstheater stehen. Damit war auch klar, wir können erst mal nur für die Darstellenden Künste sprechen, nicht für die gesamte Freie Szene. Wobei es gut wäre, wenn andere Sparten auch solche Papiere erarbeiteten und wir uns dann zusammenschließen würden. Unser Grundanliegen ist eine Erhöhung und Neustrukturierung der Fördermaßnahmen für freie Projekte/Gruppen. Momentan ist nicht nur unverhältnismäßig wenig Geld in dem Fördertopf, man kann auch jedes Mal nur für ein einzelnes Projekt beantragen. Eine stetige Förderungsmöglichkeit wie z.B. eine Konzeptförderung über mehrere Jahre gibt es nicht. Eine flexiblere Förderlandschaft wäre aber angesichts der Arbeitsrealitäten freischaffender Künstler*innen die richtige Antwort. Der Landesverband Freie Theater Sachsen hat, wie auch der Bundesverband Freie Darstellende Künste, eine Honoraruntergrenze berechnet, mit der Künstler*innen mindestens bezahlt werden müssten. Würde man diese hier anwenden, könnte die Stadt Dresden vielleicht zwei Projekte pro Jahr fördern. Das kann sich weder eine Landeshauptstadt, noch eine Stadt auf dem Weg zur Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas leisten. Hier muss also nachgebessert werden. Unsere Analyse ist sehr detailliert und genau in ihrer Beschreibung der Lage, des Bedarfs und möglicher Lösungsansätze. Ich würde sagen, wir bzw. die Kolleg*innen haben da ganze Arbeit geleistet – und das ehrenamtlich. Das darf man nicht vergessen! Gibt es ähnliche Initiativen auch in anderen Städten? JR: Ja. Zum Glück! Wir haben uns viel von Berlin (Koalition der Freien Szene Berlin) abgeguckt. Aber auch Frankfurt am Main hat nun so eine Art Koalition und in Mecklenburg-Vorpommern hat man sich auch zusammengesetzt. Leipzig hat schon vor Jahren die verschiedenen Akteur*innen an einen Tisch geholt und die Forderung „5 für Leipzig“ rausgegeben. Wo man hinschaut, raufen sich vor allem die Künstler*innen zusammen und erheben eine gemeinsame Stimme. Die Missstände, die dadurch deutlich werden, sind auf finanzieller Ebene so groß, dass man sich oft gar nicht auszusprechen traut, wie viel Geld wirklich fehlt, um unsere Arbeit fair zu bezahlen. Nebenbei gesagt, wird z.B. der Straßenbau auch subventioniert. Also Kunst ist nicht der einzige Sektor, der öffentliche Gelder erhält. Wie beeinflussen diese Arbeitsbedingungen eure Arbeit? AT: Ich würde sagen, dass die Arbeitsbedingungen unsere künstlerische Arbeit enorm beeinflussen. Deswegen sind die wichtigsten Fragen zu Beginn einer Produktion: Mit welcher Spielstätte möchte ich kooperieren? Welcher Ort passt zu meinem nächsten Thema und kann ich meine Visionen dort verwirklichen? Danach kommen die Fragen nach der Finanzierung und den Förderern. Wenn das Stück z.B. eine Kooperation mit Tänzer*innen aus Mosambik ist, kann ich bei anderen Stellen Förderung beantragen, als wenn es eine Produktion mit einem Team von ausschließlich Dresdner*innen ist. Wenn es eine interdisziplinäre Arbeit ist, die Fotografie oder Video stark einbezieht, gibt es wieder einen anderen Fonds usw. Schritt für Schritt nähert man sich dann seinem künstlerischen Ziel über ein mitunter sehr komplexes Netz aus Kooperationen, die natürlich immer die Arbeitsweise mitbestimmen und in diesem Sinne auch das Endprodukt. Aber diesen Deal geht man von Anfang an ein und ist sich dessen bewusst. Wie wünscht ihr euch eine Zukunft, wie sollte die Tanzszene – oder die Welt – in 20 Jahren aussehen? AT: In 20 Jahren wünsche ich mir eine Dresdner Tanzszene, die weitreichend vernetzt und über Europas Grenzen hinaus aktiv ist. Tanz wird in Schulen als eigenständige Kunstform vermittelt und auch unabhängig von Theaterhäusern und Ballettcompanys verstanden. In 20 Jahren ist es nichts Besonderes, dass Menschen mit Behinderung Tanz studieren und als Tanzschaffende arbeiten, sodass man keine inklusiven Förderprojekte mehr auflegen muss, sondern Tanzkünstler*innen insgesamt grundsätzlich besser (meint: ausreichend) gefördert werden. Das Publikum interessiert sich in 20 Jahren für Tanz mit hohem Unterhaltungswert ebenso wie für spezielle Experimente und ungewohnte Projekte. Bei den Politiker* innen ist angekommen, dass das Mit- und Nebeneinander von institutioneller Kultur und Freier Szene notwendig ist und allen Künstler*innen die gleiche Anerkennung zusteht. JR: Die Welt in 20 Jahren, also wenn mein Sohn 20 ist, dann soll er nicht erklären müssen, was der Beruf seiner Mutter ist und was sie tagsüber macht. Kunst, und eben auch der Tanz, sollten dann fest im Weltverständnis der Menschen verankert sein. Dass sie einen Wert hat, der schwer mit Geld zu beziffern ist. Einen Wert, der in die Seele wirkt, der uns befriedet, erhellt, erhebt, belebt, bewegt, kurz: am Leben hält. Kann Kunst bewegen? JR: Mit einem Kran kann ich (fast) alles bewegen. Ich stelle mir die Kunst manchmal als Kran vor. Mit schweren Gewichten, um nicht umzukippen, ragt er riesig in die Luft. Der Kran kann sich drehen und im Wind schwanken und eben Dinge anheben und bewegen. Man sieht den Kran von weitem, aber nicht immer, warum er da steht. Lange kann man gar nichts erkennen, aber irgendwann ist das Haus oder die Brücke fertig und am Ende weiß keiner mehr, wie es vorher aussah oder wie das Leben vorher ohne die Bauwerke funktionierte. Ganz oben sitzt der Kranführer. Der hat einen super Ausblick, aber auch genügend Abstand, um sich nicht verwirren zu lassen. Er macht einfach seine Arbeit. Nur schwindelfrei sollte er sein. Ja, Kunst kann bewegen. Das Werk bewegt. Der Künstler ist ja „nur“ derjenige, der das Werk sichtbar, hörbar, fühlbar, erlebbar werden lässt. Der Künstler macht seine Arbeit. Die Kunst bewegt dann im besten Falle. Und das kommt auch immer sehr auf den persönlichen Lebenshintergrund der Betrachter*innen an. Und auf die Risikobereitschaft, sich von Kunst bewegen zu lassen. AT: Wenn ich ehrlich bin, frage ich mich das selbst manchmal. Ich denke, es kommt extrem darauf an, wie Kunst wahrgenommen wird, auch wie sie präsentiert wird. Wird sie als ein Produkt unter vielen konsumiert oder habe ich die Zeit, ein Kunstwerk auf mich wirken zu lassen. Die zeitbasierte Kunst (also Film, Theater, Tanz, Performance, Musik etc.) ist für mich das ideale Medium, um dem Publikum wirklich nahe zu kommen. Die Zuschauer*innen schenken mir ihre Zeit und diese muss ich dafür nutzen, eine besondere ästhetische Erfahrung möglich zu machen. Danach liegt es nicht mehr in meiner Hand, wie, ob und wen meine Arbeit bewegt hat. Sicher bin ich nur dass ich während des Moments der Aufführung in meinem Gegenüber etwas in Bewegung gebracht habe. Innerhalb einer Live-Performance treten Darsteller*innen und Publikum in eine direkte Beziehung, sie teilen einen Ort und dieselbe Zeit. Das ist so einfach, aber fasziniert mich immer wieder. Niemand kann sich dem Bühnengeschehen entziehen.  Dieser Moment ist die einzige Chance, um etwas zu bewegen. Was sind eure persönlichen Vorhaben, was bewegt euch derzeit am meisten, aus künstlerischer Sicht? JR: Wenn ich auf meine Arbeiten schaue, sehe ich im Rückblick einen roten Faden, der sich durchzieht. Irgendwie geht es immer um gesellschaftliche Fragen, Situationen, Bilder … Will oder kann ich so leben wie im Moment? Wie lebt es sich mit Begrenzungen, wie lebt man mit Fremden, was macht Heimat aus, kann ich mein Umfeld beeinflussen und wie beeinflusst es mich? Wie bin ich mit meiner Umwelt verbunden? Das ist quasi ein Fass ohne Boden, denn mit jeder Arbeit entstehen neue, weiterführende Fragen. Aktuell treibt mich das Thema Macht um. Machtstrukturen, Masse als Macht und Ohnmacht, Macht des Einzelnen, Macht der Bilder, Macht von Sound/Musik, Macht und Geschlecht, Sprache und Macht – ein riesiger Themenkomplex! Da stehen wir (the guts company) gerade noch total am Anfang und ich bin sehr gespannt, wo die Reise hingeht. Auf jeden Fall wird die Arbeit mit Sprache und Chor weitergehen. Ich hätte auch gern wieder ein abgefahrenes, sich bewegendes Bühnenbild. Aber das kostet … Tanz hat einen Wert, der in die Seele wirkt, der uns befriedet, erhellt, erhebt, belebt, bewegt, kurz: am Leben hält. AT: Ich beschäftige mich gerade viel mit Zahlen, mit dem Weltraum und mit Zeit. Große Themen, aber genauer betrachtet, fragt jedes einzelne Projekt nach der Lücke zwischen persönlichem Erleben und dem Versuch, diese in Zahlen, Messwerten oder Worten auszudrücken. In dem Projekt „KARUSSELL“, das wir innerhalb unserer Company situation productions gerade erst planen, wollen wir gemeinsam mit einer größeren Gruppe von Künstler*innen verschiedener Genres einen Performance-Raum kreieren, der eine neue Erfahrung von Zeit ermöglicht. „Life in numbers“, eine Kooperation mit einer Choreografin aus Maputo, spielt mit dem (Un-) Sinn vergleichender Statistiken zwischen den Ländern Deutschland und Mosambik. „Lost in creation“ thematisiert das Universum als endlose Projektionsfläche und wissenschaftlichen Eroberungsraum. Mich beeindruckt die Tatsache, dass ungreifbare Größen wie der Abstand zwischen Erde und Sonne von Wissenschaftler*innen festgelegt werden und Galaxien erforscht werden, die niemand von uns je betreten wird, während wir auf der Erde nicht mal unsere Nachbarin kennen. Diese Sehnsucht nach dem Unbekannten beschäftigt mich, einfach weil ich es mir zurechtbiegen und definieren kann und nicht mit ihm in einen Dialog treten muss. So wird ja ein Planet nach dem anderen von uns benannt, analysiert und kategorisiert. Die Besessenheit, andere Planeten bewohnbar zu machen, steht für mich in großem Kontrast zu unserer Faulheit in Bezug auf die alltägliche (Völker-)Verständigung.

02.10.2018

The Great Tamer, #1 – 2018

Dimitris Papaioannou zähmt die Krise mit absurdem Zirkus, zerrissenen Körpern und zeitgenössischer Mythologie.

Auf einen wie ihn warteten die Festivals dieser Welt seit langem. Dimitris Papaioannou steigt auf wie Phoenix. Nicht aus der Asche, aber aus Griechenland, dem vermeintlichen Niemandsland der zeitgenössischen Bühne. Der Gründer des Edafos Dance Theater und Großinszenator der olympischen Zeremonien von Athen 2004 ist ein visueller Philosoph, der sich als Existentialist mit den Grundfragen des Lebens, des Daseins und des Menschseins auseinandersetzt. Der surreale Bilder skizziert, die in absoluter Prägnanz unsere Sinne verwirren, und der mit diesen in einem einzigen Stück so viele Aha-Erlebnisse schafft wie andere Choreografen in einem Jahrzehnt. Einer, der die Dinge – und die Körper – zerlegt, um sie wie Picasso neu zu komponieren, und der sie auf den Kopf stellt, einfach weil das ehrlicher ist. Der Vorstellungskraft des Illusionskünstlers Papaioannou scheinen keine Grenzen gesetzt. Er kann Arme, Beine und Rumpf separat von der Bühne hüpfen lassen oder eine Person kreieren, wenn mehrere Akteure jeweils Arm, Bein oder Rumpf beisteuern. Da kündigt sich ein Gesamtwerk an, eine Handschrift, so authentisch und persönlich wie überraschend und dennoch unmittelbar verständlich, da sie die Ursprünge der europäischen Philosophie mit dem Lebensgefühl von heute konfrontiert. Papaioannou verbindet die Wahrhaftigkeit und das Breitwandformat von Pina Bausch mit Josef Nadjs nie endender Erkundung des Absurden. Dazu gesellen sich in „The Great Tamer“ eine unsichtbare Maschinerie für Special Effects aus dem Untergrund und perspektivische Verschiebungen, die den Blick auf Abgründe des Unterbewusstseins auftun. Viele seiner Ideen zieht Papaioannou direkt aus den Wurzeln seiner eigenen Kultur und aus seinem Studium in zeitgenössischem Tanz und Butoh.

Schaulaufen für den Himmel

Seit 1986 macht Papaioannou Theater. Da studierte er an der Kunsthochschule von Athen und verkehrte auch in Hausbesetzerkreisen. In einem besetzten Haus in der Nähe der Akademie gründete sich sein erstes Kollektiv. „Aber es ist ein Missverständnis, dass ich dort auch gewohnt hätte. Ich war zwischenzeitlich auch mal Hausbesetzer, allerdings an einem anderen Ort. Richtig ist, dass meine künstlerischen Wurzeln in der No-Budget-Kultur liegen. Wir bauten mit unseren bloßen Händen das Erdgeschoss zu einem kleinen Theater Geld war uns egal, wir wollten einfach unser Ding machen. Doch nach und nach und traten wir auch in offizielleren Theatern auf und irgendwann flossen sogar Subventionen.“ Edafos Dance Theater hieß die Truppe, benannt nach der Erde. Dass man ihn vorher nicht außerhalb seiner Heimat sah, hat auch materielle Gründe. „Zuvor waren meine Produktionen und auch die Bühnenbilder einfach zu aufwändig, um auf Tournee zu gehen.“

Zeichnen statt schreiben

Natürlich weckte er Neugier, als er 2004 die Eröffnungszeremonie und die Schlussfeier der Olympischen Spiele von Athen inszenierte. Aber er löste seine Kompanie Edafos dafür auf und verschwand für Jahre von der Bildfläche, um sich allein den Zeremonien mit ihren achttausend Darsteller*innen zu widmen. Deren Choreografien hatten mit seiner eigenen Bühnenarbeit nichts gemein, denn Papaioannou steht nicht auf Massenszenen. Für die engagierte er andere Choreograf*innen. Er selbst zeichnete für das Gesamtkonzept verantwortlich, und das entsprach durchaus seiner Arbeitsweise. Seine Konzepte entstehen auf einer rein visuellen Ebene. Statt schriftlicher Notizen macht er ständig Zeichnungen. Aus den Improvisationen mit den Darsteller*innen, die er nach Bauchgefühl auswählt, entstehen neue Skizzen, die er auf der Bühne umsetzt und langsam zu einem großen Ganzen zusammenfügt. Frühestens einen Monat vor der Premiere sei er überhaupt in der Lage, Aussagen zu Inhalt, Thema, Titel oder Dauer eines neuen Stücks zu machen, erklärte er. So wie hier: „Der Große Zähmer ist nicht etwa ein antiker Held oder ein neuer Great Dictator . la Chaplin, sondern der Mensch als solcher, im Sturm seiner eigenen Energien und Instinkte.“

Knackpunkt Olympia

Seine Anfänge als Künstler liegen im Zeichnen, und bis heute malt und fotografiert er neben seiner Bühnenarbeit. Allerdings herrschte im Athen der 1980er Jahre ein besonders freies Ambiente. Papaioannou bebilderte Zeitschriften der Gay-Szene. Und heute? Er verrät nicht alles. „Was ich den Leuten zeige, ist nur ein Teil meiner Kreativität. Die visuelle Komposition ist für mich überlebensnotwendig.“ Aber gerade seine Darstellung des männlichen Körpers auf der Bühne ist extrem gefühlvoll und geprägt von antiker Skulptur und Renaissance-Malerei. Da sind viele Gottheiten im Spiel und Motive von Rembrandt bis Botticelli, von El Greco bis Magritte. Die olympische Eröffnungsfeier von 2004 widmete er Apollo, die Abschlusszeremonie Dionysos. Sein heutiges Schaffen zieht markante Inspiration aus den Recherchen zu dieser Mega-Arbeit, trotz kritischer Betrachtungen zu deren Hintergründen. „Natürlich hatte ich großes Glück, so zusammenfassen zu können, was mein Land für mich bedeutet. Es war wie eine Befreiung. “Olympia, das war doch der Moment, von dem an es bergab ging mit Hellas, mit seinem Finanzwesen und seiner Wirtschaftsleistung, gefolgt von einem Kahlschlag im Kulturbudget? „Die Spiele erschienen wie der Auslöser der Krise, aber die Wurzeln liegen viel tiefer, in der Korruption und dem schlechten Funktionieren von Politik und staatlicher Organisation. Griechenland musste sich mehr und mehr Geld leihen. Schließlich kam es zu einer Kettenreaktion. Olympia war ein letzter Illusionseffekt und ein großer Egobooster für das Land. Aber es ist eine lächerliche Idee, dass ein kleines Land so teure Spiele veranstalten könne. Lasst uns doch bei Olympia wieder den Sport in den Mittelpunkt stellen!“ In diesem Sinn wollte Papaioannou mit seinen technisch einfacheren Bühnenbildern im Angesicht der Krise bewusst ein Zeichen setzen.

Absurder Zirkus

Das Bühnenild von „The Great Tamer“ ist eine grau-schwarze Mondwüste aus starren Holz und biegsamen Gummiplatten. Auf und unter ihnen kreuzen sich elf Menschen, deren Körper aus Stahl und Gummi gleichzeitig zu bestehen scheinen. Einer von ihnen wirkt wie sein Alter Ego, eine Art Leitfigur, die im Prolog, einer Statue gleich, regungslos verharrt und das Publikum im Visier hat. Dann zieht sich der Mann in aller Ruhe aus und dreht eine dunkle Platte um, die ihm nun als Strandhandtuch dient. Doch das Sonnenbad wird zum Begräbnis, unter einem Leichentuch, so leicht, dass der Windhauch einer fallenden Platte es mühelos hinfort bläst. Die Szene spielen sie immer wieder durch, wie in einem Ritual, wie ein Bild, das einen traumatisch verfolgt. Dieses Motiv und viele andere kehren im Lauf des Stücks immer wieder: Zwei Männer, die übereinander liegend zu Johann Strauss einen horizontalen Walzer tanzen. Später spielt das Stück mit unserer Angst, dass Erdlöcher die Davonlaufenden verschlucken könnten. Papaioannou nennt seine Stücke, in all ihrer tragischen Reichweite, absurden Zirkus bzw. den Traum davon. Ausgangspunkt der Fantasien und Albträume in „The Great Tamer“ war der Selbstmord eines Teenagers. Von seinen (Facebook?-) Freund*innen verfolgt, grub er sich in die Erde ein. Die paradoxen, verstörenden und surrealen Kompositionen sind wie Zerrspiegel dieses Traumas. Auch mag in ihnen, genau wie zuvor in „Still Life“, eine Metapher der gegenwärtigen Situation Griechenlands zu erkennen sein. Doch das behagt ihm nur bedingt: „Die sogenannte politische Kunst ist reduzierte Kunst. Ich mag das nicht. Aber es ist unvermeidlich dass Kunst, die mit ihrer Zeit in Verbindung steht, auch auf der politischen Ebene wirkt. Meine Stücke enthalten eine Liste persönlicher Fragen, die ich an das Leben stelle. Es ist unvermeidlich, dass diese Fragen mein Land betreffen, was seine Gegenwart und seine Geschichte angeht. Das sind keine Kommentare, sondern ein Spiegelbild der Atmosphäre, in der wir die letzten Jahre gelebt haben.“

27.09.2018

„Wir sollten das Leben und die Kunst feiern“ – Eröffnung HELLERAU 14.09.2018

„Was für ein Auftakt! Berührendes Theater mit Inhalt, Rückbesinnung und voller Aktualität. Eine deutsche Erstaufführung, die gewiss nicht deswegen, nicht also als Selbstzweck nach HELLERAU geholt worden ist. Die neue Intendantin Carena Schlewitt bewies schon mal Mut und Haltung, indem sie die Produktion „Krieg und Terpentin“ von Jan Lauwers und der belgischen Needcompany nach Dresden eingeladen hat.“ Dieses Resultat zog die DNN nach unserer Eröffnung der Spielzeit 2018/2019 am 14.09.2018. Umrahmt wurde der Abend außerdem von Eröffnungsreden der Intendantin Carena Schlewitt, der Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Die Linke) und Kunstministerin Eva-Maria Stange (SPD). Allen Reden ist eins gemein: Das Ziel ist es, gemeinsam von einem von HELLERAU ausgehenden Ruf die Freiheit der Kunst zu wahren und das Miteinander unter allen Menschen zu fördern. Lesen Sie nun hier die Eröffnungsrede der Intendantin Carena Schlewitt: Liebe Gäste des Abends, HELLERAU – das Europäische Zentrum der Künste und auch das Festspielhaus Hellerau gäbe es ohne die Künste und ohne die Visionäre, die die Künste gefördert, unterstützt und auch begleitet haben, nicht. HELLERAU ist ein Haus für die Künstler*innen. Und ich kann Ihnen sagen, dass wir, das Team von HELLERAU, bereits am letzten Sonntag sehr froh, ja geradezu beschwingt, waren, am Tag des offenen Denkmals zu unserem Spielzeitfest viele Dresdner Künstler und Künstlerinnen im Haus zu haben. Die künstlerische Arbeit ist ein harter Beruf, ein permanenter Prozess der Suche, ein Prozess, der von Erfolg und Scheitern geprägt ist, ein Prozess der kollektiven Arbeit genauso wie der Einsamkeit. Und: Mit der Entscheidung, professionell in der Kunst zu arbeiten, gehen Künstler*innen bewusst Risiken der ganz privaten Lebensgestaltung ein. Es ist mir wichtig, zum Einstieg in meine neue Aufgabe meine Wertschätzung der Kunst, ihrer Prozesse und der Macher*innen zum Ausdruck zu bringen. Nun gehört zur Kunst, insbesondere in den performativen Künsten – Tanz, Theater, Musik, Performance – zwingend das Publikum. Wir werden mit unserem Spielzeitprogramm das Dresdner Publikum in den nächsten Wochen und Monaten erst kennenlernen. Aus meiner bisherigen Erfahrung bin ich überzeugt, dass die zeitgenössischen Künste in ihrer Breite und Vielseitigkeit ein ebenso breites Publikum anziehen und begeistern können. Damit meine ich auch sehr unterschiedliche Formate in der Begegnung von Künstler*in und Besucher*in. Ein open house ohne Tribüne, lichtdurchflutet vom Portikus, durch den Festspielsaal bis hin zum Garten, und eine Bespielung im ganzen Haus, wie am Tag des offenen Denkmals, zieht vielleicht andere Besucher*innen an, als eine Choreografie, ein Konzert, eine Inszenierung, die sich in einem geschlossenen Raum frontal an ein Publikum richtet, oder als ein performativer Spaziergang mit einem Künstlerkollektiv durch die Gartenstadt Hellerau. Diese Vielfalt, diese Formen bringen die zeitgenössischen Künste mit und verwickeln das Publikum in immer neue Situationen, Kunst nicht nur als Kunst, sondern auch in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen zu erleben. Jede Publikumssituation kann auch Risiken bergen – Begegnungen können nicht aufgehen oder gar nicht erst stattfinden. Sie können aber auch emotional, sozial und kulturell vieles auslösen. Ich denke, dass die Begegnung mit dem Publikum mehr sein muss als die Frage nach der Anzahl der Besucher*innen – so sehr auch ich am liebsten volle Säle, ein volles Haus habe. Wir werden es nicht schaffen, jede*n Besucher*in und jede*n Besucher*in persönlich kennenzulernen, aber wir möchten miteinander ins Gespräch kommen. Und eine Gesprächskultur über die Kunst ist immer auch eine Gesprächskultur über die Gesellschaft. Nun habe ich HELLERAU als ein Haus der Künstler*innen und des Publikums beschrieben. Das Haus steht jedoch auch als Kulturinstitution in der heutigen Gesellschaft und ist Teil dieser Gesellschaft – in Dresden, in Sachsen, in Deutschland und in der Welt. Selbst wenn das ein wenig vollmundig klingen mag: Wir sind vernetzt und verbunden mit vielen Partner*innen im In- und Ausland. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten viele Gespräche mit Dresdner Akteur*innen, Partner*innen und Institutionen geführt und meine große Hoffnung ist, dass wir gemeinsam nicht nur ein, sondern viele Zeichen setzen für eine pluralistische, vielfältige Gesellschaft, für ein Leben in Frieden und ein gesellschaftliches Miteinander. Dass diese Selbstverständlichkeiten des menschlichen Zusammenlebens immer noch und wieder verstärkt tagtäglich wiederholt werden müssen – nicht nur bei uns, sondern in vielen Ländern und Städten –, ist sehr alarmierend. Wir sollten das Leben und die Kunst feiern, mit vielen Menschen, und auch das ist ein politisches Zeichen, ein Zeichen gegen Ausgrenzung und Hass. An dieser Stelle möchte ich noch einige Worte zum heutigen Stück des Abends „Krieg und Terpentin“ oder „Der Himmel meines Großvaters“, wie der Titel in der ersten deutschen Buchübersetzung heißt, sagen. Stefan Hertmans hat diesen Roman als Hommage an seinen Großvater geschrieben. Die Geschichte läuft in Teilen zeitlich parallel zum Projekt der Erbauung des Festspielhauses HELLERAU: Hier die Vision und der Sprung in die Moderne, dort der menschliche Kampf mit der Industrialisierung und vor allem die Konfrontation mit dem Ersten Weltkrieg. Aber bei all den schweren Erfahrungen und Erlebnissen gibt es immer die existenzielle Sehnsucht nach der Kunst. Diese Perspektive ist es, die mich in der kongenialen Umsetzung der Needcompany mit der großartigen Erzählerin/Schauspielerin Viviane De Muynck so beeindruckt hat. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen anregenden Abend. Last but not least ist es mir ein großes Anliegen, mich bei den Förder*innen von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste – zu bedanken, an erster Stelle bei der Stadt Dresden. Es ist ein großes Glück, dass die Stadt Dresden ein Haus wie HELLERAU fördert und unterstützt. Ich möchte mich auch bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien bedanken, die HELLERAU im Rahmen des Bündnisses Internationaler Produktionshäuser fördert. Und wir freuen uns außerordentlich über die Unterstützung vieler Partner*innen und Stiftungen in dieser Spielzeit, wovon ich nur einige hier stellvertretend nennen kann: die Bundeszentrale für politische Bildung, die Ernst von Siemens Musikstiftung, die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, der Freistaat Sachsen, das Nationale Performancenetz, die Dresdner Stiftung Kunst und Kultur der Ostsächsischen Sparkasse Dresden, die Stiftung Kunst und Musik für Dresden, der Förderverein Hellerau e.V. u.v.m. Und alles, was in HELLERAU stattfindet und mit HELLERAU zu tun hat, wäre ohne den großartigen Einsatz aller Mitarbeiter*innen nicht möglich, die engagiert und mit guter Stimmung an die herausfordernden Aufgaben Tag für Tag herangehen. Dafür gilt mein großer Dank!

04.09.2018

Der Engel und der Kopierfehler, #1 – 2018

Laßt uns, der trüben Zeit gehorchend, klagen: Nicht, was sich ziemt, nur, was wir hlen, sagen. Dem Ältsten war das schwerste Los gegeben, Wir Jüngern werden nie so viel erleben. Shakespeare, König Lear (Übertragung von Wolf Graf Baudissin)
 
Stellen wir uns vor, dass das 20. Jahrhundert sein Testament geschrieben hat. Was würde es uns vermachen wollen? Was würde das 21. Jahrhundert von seinem Vorgänger erben? Oder wir suchen ein anderes Bild. Stellen wir uns das 20. Jahrhundert als Patient auf der Couch eines Psychiaters vor. Von welchem Standpunkt aus würde es über sich selbst sprechen? Mit welcher Stimme? Über welche Traumata? Oder, konkreter gesagt, stellen wir uns vor, dass während einer Therapiesitzung das 20. Jahrhundert gebeten würde, sich in einem einzigen Bild auszudrücken. Welches Bild wäre das? Paul Klees Gemälde Angelus Novus vielleicht, das der deutsche Philosoph Walter Benjamin in seiner neunten These zur Geschichtsphilosophie unnachahmlich beschrieb: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind weit aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Füße sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammen gen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unau altsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Geschichte als Anhäufung von Trümmern und Katastrophen. Dies wurde 1940 geschrieben, wenige Monate vor Benjamins angeblichem Selbstmord an der französisch-spanischen Grenze auf der Flucht vor den Nazis, und das Bild des Engels der Geschichte hat auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner störenden Kraft verloren.
Urbain Joseph Emile Martien, der Großvater des flämischen Schriftstellers Stefan Hertmans, starb 1981. In diesem Jahr gab Hertmans auch sein Debüt als Schriftsteller. Vor seinem Tod schenkte der Großvater seinem Enkel zwei gut ge llte Notizbücher, in denen er einen Teil seiner Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. Mehr als drei Jahrzehnte später entstand aus diesen Schriften der Roman „Krieg und Terpentin“. Urbain Martien ist eine der Stimmen, durch die das 20. Jahrhundert spricht, obwohl er selbst nie auf der Couch eines Psychiaters lag. Urbain Martien war dafür noch zu sehr ein Bewohner des 19. Jahrhunderts, eine noch relativ stabile und zusammenhängende Zeit, die ihre verfallenden Fundamente bewahren konnte, bis der serbische Gavrilo Princip das ganze Haus mit nur einem einzigen gezielten Schuss zum Einsturz brachte. Die Katastrophe des Großen Krieges war gleichzeitig die erste große Zäsur im Leben des Großvaters von Hertmans. Der größte Teil der Notizbücher, die er füllte, war der Versuch eines alternden Mannes, sich mit den Schrecken seiner Jugend auseinanderzusetzen. Die zweite große Tragödie in seinem Leben, die indirekt auch mit dem Krieg verbunden war, war der vorzeitige Tod seiner großen Liebe, Maria Emelia, an der verheerenden spanischen Grippe. Diese wurde wahrscheinlich von amerikanischen Soldaten nach Europa gebracht und durch die großen Versammlungen, die zur Feier des Kriegsendes stattfanden, massenhaft verbreitet. Urbain heiratete später Gabrielle, die Schwester von Maria Emelia, und gab seiner Tochter den Namen seiner toten Geliebten. Er beschäfigte sich mit seinen Traumata, indem er Stillleben malte und in die Notizbücher schrieb, die sein Enkel erben sollte.
Wie vererbt eine Ära ihr Erbe? Eine Kultur überlebt durch ihre charakteristischen Muster, in denen ihr Wissen über die Welt und die Rituale der vorherigen Generation zur Bewältigung von Krisen gespeichert sind, um so vollständig und intakt wie möglich an die nächste Generation weitergegeben zu werden. […] Wie bleiben wir mit der Vergangenheit verbunden? Wie bewahren wir ein historisches Bewusstsein? Modernität ist der Bruch oder der Kopierfehler in dieser Übertragung. In der heutigen Zeit ist die Klu zwischen den Generationen so groß geworden, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, die Dinge intakt weiterzugeben. Wir erben nicht mehr die Erfahrungen oder die bewährten Erkenntnisse unserer Väter, sondern wir konsultieren Daten. Die Geschichte ist ein unberechenbares und anonymes digitales Archiv, das rund um die Uhr besucht werden kann. Das heißt, wenn wir online sind. Wir sind nicht mehr die Kinder unserer Väter, sondern Kinder unserer Zeit. Wir Modernen wollen nicht mehr erben (und können es wahrscheinlich auch nicht mehr). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir uns jedoch zunehmend der kulturellen und ethischen Armut einer Existenz bewusst, die durch eine rein „pragmatische“ Geschichte begrenzt ist. Unsere so genannte Freiheit ist verriegelt. Wir leben in einer Kultur, die unsere Wünsche ständig mobilisiert, pervertiert und kommerziell ausbeutet. Vergnügen im wahrsten Sinne des Wortes ist zum Zwang geworden. Freiheit ist ein Muss. „Protect me from what I want“ ist ein Slogan, den die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer in ihrer visuellen Arbeit verwendet. Es ist auch der Titel eines 2003er Songs der englischen Band Placebo, der mit diesem Vers beginnt: „It’s that disease of the age / It’s that disease that we crave / Alone at the end of the rave / We catch the last bus home“.
[…] Auf die Frage, wofür Literatur da ist, antwortete der deutsche Schri steller W.G. Sebald „Vielleicht nur, um uns zu helfen, uns zu erinnern und zu verstehen, dass es Zusammenhänge gibt, die von keiner kausalen Logik ergründet werden können“. Hertmans gt hinzu: „Literatur ist keine Form der Beschreibung um der Beschreibung willen, sondern der Beschreibung, um sie zu bewahren und folglich auch zu verstehen, um tief zu spüren, wie die Zeit wirklich war“. […] Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine Poetik des Widerstands gegen das Vergessen, der Suche nach der Verbindung mit der Vergangenheit und mit einer Gemeinschaft. Kunst als „Werk des Erinnerns“ und als „Werk des Verbindens“. Eine Form der Treue zur Vergangenheit, aber ohne Konservatismus und eine Form der Zugehörigkeit zu einer Kollektivität, allerdings ohne Verlust an Individualität. Die ethisch-politische Verpflichtung, der Geschichte zu gedenken, sie auszugraben und vor dem Vergessen zu bewahren, um damit auch die Gegenwart und die Zukunft zu reden, ist aktueller und dringender denn je. […] In einem Interview zitierte Hertmans einen Satz, den er im Jüdischen Museum in Warschau las: „Wenn man den Zeugen lange genug zuhört, wird man selbst einer“. Das Zeugnis wird durch treues Zuhören weitergegeben. Treu bleiben ist jedoch nicht nur eine Frage der Wiederholung oder Nachahmung, sondern auch eine Frage der Wahl einer neuen Perspektive. Hertmans wählte eine historische und psychologische Interpretation seines Großvaters in Form von essayartigen Passagen und bleibt eine ausgeprägte Autorenpräsenz im Roman. Wir lernen den Großvater durch die Augen seines Enkels kennen.
Lauwers, der Theatermacher, drängt in seiner Inszenierung den nachdenklichen Hertmans jedoch zum Schweigen. Wie reich und verfeinert die Gedanken des Autors auch sein mögen, sie wurden entfernt. Es gibt keinen Platz auf der Bühne r die explizite historische und psychologische Interpretation. Die Kommunikation dort ist direkter, physischer, visueller. Die Passagen, die Lauwers aus dem Roman ausgewählt hat, sind beschreibend, sinnlich und körperlich: Der tödliche Unfall, den der junge Urbain in der Schmiede sieht, seine schwere und ge hrliche Arbeit in der Eisengießerei, das erste Mal, als er ein nacktes Mädchen in einem Pool sieht, Zeiten, die er mit seinem Vater verbracht hat, der ein Freskenmaler war, das Grauen des Krieges … Lauwers behält die drei Teile von Hertmans’ Roman – die frühen Jahre, die Kriegsjahre und die Nachkriegsjahre –, aber wählt eine völlig andere Perspektive. […] Mit der Wahl von Viviane De Muynck als Erzählerin bringt Lauwers nicht nur einen Umbruch in der Erzählperspektive, sondern macht auch Platz für die Tragödie von Gabrielle, der Frau, die im Schatten ihrer toten Schwester leben musste. Außerdem lässt Lauwers sie aus dem Jenseits sprechen. Die Toten bleiben in Lauwers’ Produktionen als Hüter und Zeugen der Vergangenheit oft präsent. Die Inszenierung beinhaltet eine Figur, die nicht im Roman erscheint: eine Krankenschwester (Grace Ellen Barkey). Im Interview interpretiert Stefan Hertmans sie als eine Figur der Melancholie. In ihrem Wunsch, das Leiden zu lindern, ist sie wie der Engel der Geschichte, der die Trümmer wieder zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen und die Toten wieder zum Leben erwecken will. Macht sie damit auch die mögliche (oder unmögliche) Figur einer Kunst von der anderen Seite des Bruchs und der Entfremdung sichtbar? Kunst als Wiederentdeckung der verlorenen Verbindung zwischen Welt und Empathie? Der Engel, der immer noch versucht, den Kopierfehler der Moderne zu korrigieren? Erwin Jans Übersetzung in Auszügen aus dem Englischen von André Schallenberg