23.09.2020

„Was frei zugänglich und alltäglich geworden ist, ist die Angst vor der Zukunft“, #2 – 2020

Stimmen von Künstler*innen während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 Die durch COVID-19 ausgelöste Krise trifft Kunstschaffende künstlerisch und ökonomisch weltweit hart und unmittelbar. Aufführungen wurden abgesagt, die Grenzen geschlossen, es gab keinen Applaus und keine Aussicht auf eine baldige Rückkehr der alten Normalität. Der digitale Raum entwickelte sich schnell als neue Plattform des Austauschs, der Kommunikation, der Präsentation und machte es möglich, die individuellen Situationen im größeren Rahmen sichtbar zu machen und zu teilen. Das Bündnis internationaler Produktionshäuser hat 35 internationale Künstler*innen eingeladen, Statements aus ihrer individuellen und künstlerischen Situation während des Lockdowns zu teilen und dadurch Einblicke aus der ganzen Welt erhalten. Hier finden Sie eine Auswahl der VOICES Marta Keil, Grzegorz Reske/ResKeil (Warschau) „Merkwürdigerweise geschieht diese plötzliche (Re-)Materialisierung der Grenzen auch genau in dem Moment, in dem wir mit dem EU-Projekt „Moving Borders“ beginnen. Dieses Projekt, das vor fast zwei Jahren als künstlerisches Mapping von materiellen und immateriellen Grenzen, Trennungen und Brüchen in städtischen und sozialen Texturen entwickelt wurde, bekam plötzlich völlig neue Dimensionen.“ Xiao Ke x Zi Han (Shanghai) „Das Verständnis von Entfernung hat sich verändert und die Stadt, in der wir leben, scheint weiter entfernt. Die Epidemie hat die reale Welt in eine leere Stadt verwandelt, in der die Menschen in isolierten Räumen leben und persönliche Äußerungen in virtuelle Welten werfen. Unsere Identität wird aufgefrischt und ist zugleich ein ewiges Thema, das jetzt besonders sensibel und wichtig ist. Wir verbringen immer noch mehr Zeit zu Hause, wobei wir erstens die Möglichkeit einer Ansteckung und zweitens eine zu starke Verfolgung vermeiden.“ Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen/Gintersdorfer/Klaßen (Berlin) „Was dann passiert ist: Absage aller folgenden Vorstellungsdaten, Corona-Ausgangsbeschränkung und Reisestopp. Die Folgen: Aufenthaltsgenehmigungen können nicht rechtzeitig verlängert werden, sie verfallen genauso wie die schon gebuchten Flüge zu den Vorstellungen. Einfach Puff: einige von uns sind seit April papier- und arbeitslos zugleich. Wo sind die beiden transnationalen Gruppen jetzt, die wir seit Jahren aufgebaut haben? Eine Rückkehr in eine lokale Existenz ist ein Albtraum für uns, wir wollen die transnationale Arbeit fortsetzen, um einer eurozentristischen Welt- und Kulturauffassung etwas Vielstimmiges entgegenzusetzen.“ Dóra Büki/Proton Theatre (Budapest) „Das Stichwort ist: Unsicherheit. Als unabhängige Company ohne staatliche Unterstützung kennen wir dieses Wort gut. In der gegenwärtigen Situation hat die Unsicherheit ein völlig neues Niveau erreicht: Eine Zeit mit fast nur Fragen und kaum Antworten.“ Trinidad Gonzáles (Santiago de Chile) „Vor einigen Monaten lebten wir unsere Revolution, und die Straßen meines Viertels waren die ganze Zeit übervoll mit Menschen. Wir waren wütend, aber glücklich. Etwas sehr Wichtiges ging vor sich, und wir hatten die Zukunft unseres Landes in unseren Händen. Wir tanzten viel. Wir teilten Essen und Wein. Die Straßen waren sehr lebendig. Jetzt befinden wir uns im umgekehrten Szenario.“ Eisa Jocson (Manila) „Weiter zu leben, trotz der Bedingungen weiter zu produzieren ist ein Akt des Widerstands.“ Russ Ligtas (Manila) „Die Arbeit war Zuflucht, Befreiung und Erholung.“ Alle Statements sind zu finden unter www.produktionshaeuser.de/voices

23.09.2020

Den Rahmen befragen, #2 – 2020

Ein Gespräch über Solidarität und die Zukunft der Kritik anlässlich der Akademie für Zeitgenössischen Theaterjournalismus Von November 2019 bis März 2020 fand auf Initiative des Bündnisses internationaler Produktionshäuser die erste Akademie für Zeitgenössischen Theaterjournalismus statt. In Essen, Dresden und Hamburg haben sich 20 Kritiker*innen aus ganz Deutschland mit den Möglichkeiten und Anforderungen an einen Journalismus auseinandergesetzt, der den vielfältigen Produktionen und Produktionsweisen zeitgenössischer Theaterformen gerecht wird. Hier sprechen die Organisator*innen Esther Boldt (EB) und Philipp Schulte (PS) mit zwei Teilnehmer*innen, der freien Autorin Theresa Luise Gindlstrasser (TLG) und dem taz-Redakteur Jan-Paul Koopmann (JPK), über ihre Erfahrungen. EB: Warum habt ihr euch für eine Teilnahme bei der Akademie beworben? JPK: Ich habe eigentlich nie Gelegenheit, mich außerhalb eines konkreten Auftrags mit Kolleg*innen über Texte auszutauschen, die nicht in einem aktuellen Produktionsfluss entstehen. Das Nachdenken und Diskutieren über Grundsätzliches kommt in meinem Arbeitsalltag einfach zu kurz. EB: Wie habt ihr die Akademie bis jetzt wahrgenommen, haben sich eure Erwartungen erfüllt? TLG: Die Auswahl der Teilnehmenden finde ich sehr stimmig, Kompliment an die Jury. Es kommen hier sehr unterschiedliche Personen zusammen, aus verschiedenen Altersgruppen und von verschiedenen Medien – wie Fernsehen, Radio oder Zeitung. Die Teilnehmer*innen haben dort auch verschiedene Positionen inne, etwa als Redakteur*in, Volontär*in oder freie*r Mitarbeiter*in. Das ist zum einen ausgewogen und zum anderen divers – die Themen gehen uns also nicht aus. JPK: Und trotzdem kriegen wir es immer hin, uns auf einer Ebene zu finden. Der gemeinsame Nenner ist unser aller Interesse an zeitgenössischen Formen, an zeitgenössischem Theater. PS: Theaterkritik wie das Schreiben generell sind einsame Tätigkeiten. Gespräche, Momente des Austausches sind jenseits einer bestimmten medialen Struktur oder Hierarchie vielleicht ungewöhnlich. Kann man das so sagen? TGL:  Ja, es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Schreiben auf der einen und der Kunst, dem Theater, auf der anderen Seite, wo Gespräche, Austausch und Work-in-progress stets Teil der Arbeit sind. Die konzentrierten Besprechungen unserer Texte ohne Produktionsdruck, die wir bei der Akademie geführt haben, unterscheiden sie beispielsweise auch vom Theatertreffen-Blog. EB: Innerhalb von Redaktionen gibt es durchaus Austausch: Im besten Falle wird eine Diskussion über Sinn und Zweck eines Textes geführt und man erhält auch eine Rückmeldung der betreuenden Redakteurin. JPK: Ja, aber das ist eine ganz andere Ebene, in einer Redaktionskonferenz reden wir nicht über Grundsätzliches. Bei der Akademie hingegen eröffnet sich ein Raum, in dem über Leitfragen gesprochen werden kann: Was ist eigentlich zeitgenössisches Theater, welche Formen gibt es, welche Themen werden verhandelt? Und was bedeutet es über Theater zu schreiben? Solche Debatten können in einer Redaktionskonferenz nicht geführt werden. Wann auch? EB: Gibt es einen Moment in der Akademie, der euch besonders in Erinnerung geblieben ist, den Ihr als besonders wahrgenommen habt? JKP: Für mich war die Dichte besonders, in der wir gearbeitet haben, in der alle immer präsent waren. Du sitzt bis spät abends im Theater, und beim Frühstück geht die Diskussion schon weiter, und das nicht nur über Tage, sondern auch über mehrere Module. TGL: Mir fallen zwei Momente ein: Aus Essen ist mir ein Gespräch darüber in Erinnerung geblieben, wo das Korrektiv sitzt. Ich glaube, dass diese Frage eine der drängendsten unserer Zeit ist – nicht nur in Bezug auf Kulturkritik, sondern auch ganz konkret politisch in unserer Demokratie. Und zweitens hat Lisa Lucassen von She She Pop als geladene Expertin in Dresden gesagt: „Was, ihr glaubt, dass Kritik ein Dialog ist? Das habe ich ja noch nie gehört!“ Diesen Zusammenprall von Vorstellungen fand ich interessant! PS: Seht ihr einen konkreten Nutzen der Akademie über den ideellen Wert hinaus? TLG: Ich finde, dass eine Solidarisierung stattgefunden hat oder ein Bewusstsein dafür geweckt wurde. Wenn ich will, dass das, was ich tue, als Angebot zum Dialog wahrgenommen werden soll, dann muss ich vielleicht mehr dafür tun. EB: Was wünscht ihr euch für die Zukunft des Theaterjournalismus? JPK: Ich würde gerne mehr von Menschen lesen, die über Kultur nachdenken und bei uns in der Zeitung einen Theaterdiskurs führen, ohne ausgebildete Journalist*innen zu sein. Damit es neben den ausgebildeten Kritiker*innen, die es weiterhin braucht, auch andere Perspektiven gibt, andere Arten von Zuschauer*innen, die am öffentlichen Diskurs teilnehmen. TLG: Es gibt so viel Ego, so viel Amazon, so viele Sternchen-Bewertungen. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann wäre es, dass sich die Kritik entschleunigt. Nicht unbedingt in Bezug auf Produktionsabläufe, aber in Bezug auf Umgangsformen und Urteile. Dann wäre Kritik etwas im besten Sinne Altmodisches, Langsames, Tastendes, etwas, das nicht nur gegenüber dem Gegenstand kritisch bleibt, sondern auch gegenüber sich selbst. Esther Boldt arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin u.a. für nachtkritik.de, Theater heute und die taz sowie für den Hessischen Rundfunk. Dr. Philipp Schulte ist Professor für Performancetheorie an der Norwegischen Theaterakademie und Geschäftsführer der Hessischen Theaterakademie. Der Theaterwissenschaftler publiziert zu zeitgenössischen Theaterformen und lehrt an Hochschulen im In- und Ausland. Theresa Luise Gindlstrasser, geboren 1989, lebt in Wien. Sie arbeitet als freie Autorin und Kritikerin u.a. für nachtkritik.de, Falter, Wiener Zeitung. Jan-Paul Koopmann, geboren 1982, arbeitet als Redakteur für die taz in Bremen und schreibt frei für nachtkritik.de und andere Medien über Kultur und Gewalt.

23.09.2020

Gesichter in HELLERAU – Werner Lange, TOP Gebäudereinigung Sachsen GmbH & Co. KG, #2 – 2020

Seit wann arbeitest du in HELLERAU und was sind deine Aufgaben? Seit 2009 bin ich im Festspielhaus Hellerau für die tägliche Reinigung zuständig, also für Sanitäranlagen, Böden, Künstlergarderoben, Tanzteppiche, Oberflächen, Lüftungen, Heizungen und noch vieles mehr. Jeder Tag ist anders. Wenn ich früh komme, schaue ich erstmal auf den Plan, was an diesem Tag ansteht. Wenn beispielsweise vormittags Künstler*innen proben, muss ich meinen Ablauf so organisieren, dass der Raum zu Beginn der Probe fertig ist. Alles andere muss sich unterordnen. Ich führe selbst mein Reinigungsbuch, um den Überblick zu behalten. Wenn der Gast zufrieden ist, hat man alles richtig gemacht. Wichtig ist, dass ich die verschiedenen Materialien im Haus beachte, zum Beispiel die historischen Bodenfliesen, die Steintreppen oder die Geländer. Die werden nicht so geputzt, dass sie glänzen, sondern sie sollen den historischen Anschein behalten. Wie bist du nach HELLERAU gekommen? Von meiner damaligen Firma Piepenbrock Dienstleistungen ist mir das Festspielhaus Hellerau zugeteilt worden. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Arbeitswoche. Anfangs habe ich mich immerzu verlaufen. Gab es eine besondere Herausforderung, die du gemeistert hast? Wir hatten einmal einen extrem verschmutzten weißen Tanzteppich. Ich habe mich mit vielen verschiedenen Mitteln an die Arbeit gemacht und dabei herausgefunden, dass er sich gut mit Scheuermilch reinigen lässt. Nach der Reinigung ist der Tanzteppich aber meist zu glatt und muss abgestumpft werden, damit die Tänzer*innen nicht ausrutschen. Bei einem dunklen Tanzteppich arbeite ich dafür mit Cola, bei einem hellen Teppich mit Sprite. Und es waren Künstler*innen hier, die auf der Bühne Kurkuma oder Ruß und Sonnenmilch verwendet haben. Letztes Jahr bei „Mystery Magnet“ von Miet Warlop haben die Künstler*innen mit ganz viel Farbe gearbeitet. Der ganze Weg von der Bühne über das Treppenhaus bis zu den Garderoben war betroffen. Da musste ich eine richtige Grundreinigung mit Glitzischwamm, Scheuermilch und Einscheibenmaschine machen und alles wieder sauber bekommen. Aber bevor ich sage „Das geht nicht“, dauert es lange. Was findest du in HELLERAU so besonders? HELLERAU ist das einzige Objekt, wo ich sage: Hier gehe ich mit Freuden arbeiten. Es ist eine angenehme Arbeitsatmosphäre und auch der Kontakt zu den Künstler*innen ist schön. Seit ich hier arbeite, habe ich ein ganz anderes Verhältnis zur Kunst. Einmal hat das MDR Sinfonieorchester hier geprobt. Da habe ich mich über die Südempore leise in den Saal reingeschlichen und kurz zugehört. Wenn man beim Saubermachen Musik im Hintergrund hat, geht alles viel schneller. Andere müssen bezahlen und ich bekomme das einfach so geliefert. Im Dezember 2020 verabschiedet HELLERAU Werner Lange in den Ruhestand. Wir danken ihm herzlich für seine langjährige Arbeit.

23.09.2020

BREATHING MEMORIES, TRANSPARENT HISTORIES, #2 – 2020

Die Tänzerin und Choreografin Gizem Aksu berichtet über ihre Erfahrungen während ihrer Residenzzeit in HELLERAU. „Mit dem Atem kommt die Vorstellungskraft, mit dem Atem kommt die Möglichkeit.“ (Sara Ahmed) Wie können Tanz und Choreografie das Leben atmungsaktiver machen? Wie können wir, Tänzer*innen und Choreograf*innen, das Bewusstsein im Atem kultivieren, um gegen die erdrückende Gewalt von Neoliberalismus, Rassismus und Militarismus zu kämpfen? Das sind die Schlüsselfragen, die sich mir am Ende meiner Residenz in HELLERAU stellen. Ich bin glücklich, dass ich die pandemische Situation in HELLERAU verbracht habe, begleitet von Vögeln, Bäumen, bunten chemischen Reaktionen der Wolken, Geistern von Generationen von Künstler*innen, Aktivist*innen und Soldat*innen. Ich war an einem Ort, der mich jeden Tag daran erinnerte, dass das Leben gegenwärtig ist. In dieser Gegenwart verstand ich sehr gut, dass die „Selbstisolierung“ bereits ein diskursives menschliches Konzept ist, um die Situation zu beherrschen. Wie können wir uns von der augenblicklichen, spontanen, transkörperlichen Lebenskraft isolieren, die uns das Universum in jedem Augenblick bietet? Selbst wenn wir tot sind, ist der menschliche Körper weiterhin Teil des biologischen, chemischen, energetischen Lebens, das immer gegenwärtig ist. Der menschliche Körper weist immer über sich hinaus. Diese Transkorporalität macht unseren Körper erst lebendig. Die Pandemie-Erfahrung erinnert mich daran, wie der menschliche Körper mit seiner Umwelt und seiner Umgebung verbunden und von ihr abhängig ist. Unser Fleisch ist nicht die Grenze, sondern der Durchgang für diese Transkörperlichkeit, unser Atem ist nicht nur mechanisch, sondern auch ökologisch. Die Relationalität des menschlichen Körpers kann durch den Atem gelesen werden. Dennoch mag es herausfordernd sein, diese transkorporale Existenz innerhalb der Durchlässigkeit des Atems zu erkennen, weil es schwierig ist, die transparente Qualität „scheinbar undurchsichtiger Körper, einschließlich des menschlichen Körpers“ wahrzunehmen. In der transparenten Gegenwart des Atems werden viele Leiden, Traumata, Einschränkungen und Pandemien geschrieben. Transparente Geschichten von Erstickung, Unterdrückung, Kampf, Konflikt und Widerstand. In diesen Zusammenhang entwickelte ich während der Residenz die Projekte „Archiv der Gefühle: HELLERAU“, „Selbstisolation“ und „Ein atmendes Gedicht“. Ich hatte nicht immer so viel Glück: Es war traumatisch, mich 2016 „selbst zu isolieren“, während in Istanbul Bombenexplosionen stattfanden. Wer kann nicht atmen? Wessen Leben ist atmungsfähig? Die Atmung ist nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch, politisch und ökonomisch zu begreifen. Rukeli Trollman wurde während der Isolation in Dresden mein geistiger Freund. Ich besuchte ihn oft in seinem von der BEWEGUNG NURR geschaffenen Denkmal im Garten. Es war absolut atemberaubend, von ihm das Boxen zu lernen, wie ich einst den Volkstanz der Sinti und Roma lernte. Ich wollte eine körperliche, verschwitzte Performance schaffen, um an seine Kampfgeschichte zu erinnern. In meiner Perspektive greifen in der Bewegung Körper, Spiritualität und Politik ineinander. Der Körper erstickt, wenn das System sein Potenzial nur auf körperliche Arbeit reduziert, um Profit zu machen und hegemoniale oder nackte Gewalt zu reproduzieren. Diese Art von spirituellen Begegnungen ermöglicht es uns, aus der Geschichte des anderen zu lernen, die lineare Geschichte von Zeit und Raum zu durchqueren und uns jenseits des kartesianischen Verständnisses von Körper zu treffen. Körper verschwinden, aber transparente Spuren unserer Körper können bleiben. Meine Zeit in HELLERAU war geprägt von der Suche nach solchen Spuren. Meine Forschungsmethode würde ich als mikroskopische Aufmerksamkeit beschreiben, die auf die Suche nach transparenten Spuren gegangen ist: dem Hören der Stille der Geschichte und dem Bezeugen der Gegenwart der Architektur. Jeden Morgen betrachtete ich das Yin-Yang-Symbol auf dem Dach des Festspielhauses. Ich erinnerte mich daran, wie sehr wir miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, ich versuchte, die non-duale Präsenz von Ausatmung und Einatmung zu spüren. Ich versuchte, die Non-Dualität in meiner Transkörperlichkeit zu spüren. Ich versuchte, Hoffnung einzuatmen, mehr auf Gerechtigkeit zu drängen. Ich glaube, dass Tanz und Choreografie das Bewusstsein im Atem kultivieren können. Statt mich der Flut an Informationen in der globalen Paniksituation hinzugeben, versuchte ich meine Gegenwart zu spüren. Der lokale Raum navigierte meinen Körper, meinen Geist und meine Seele in unerwartete Richtungen. Die Verortung meiner selbst gab mir einen konkreten Boden, auf dem ich meine künstlerische Forschung beginnen konnte. Ich ließ mich von den lokalen Bedingungen bewegen. Dann wurde ich transparent. Dann wurde ich zum Atem. Für all dies herzlichen Dank an das Europäische Zentrum der Künste HELLERAU, Zentrum für Inspiration, Zentrum der freien Meinungsäußerung, Heim zur Selbstisolierung. Zentrum für soziale Gemeinschaft, Zentrum für geistige Reinigung, Zentrum für kreative Einatmung, Zentrum für künstlerische Ausatmung. Gizem Aksu war im Rahmen des Residenzprogrammes „Be Mobile – Create Together“ von März bis Juni 2020 in HELLERAU und arbeitete hier unter anderem an ihrem Projekt „Archiv der Gefühle“. „Be mobile – Create Together“ wird getragen von Institut français de Turquie, Niederländische Botschaft in der Türkei, Goethe-Institut Istanbul und Istanbul Foundation for Culture and Arts (İKSV). Mehr Infos unter www.hellerau.org/residenzen

23.09.2020

Das Fließen der Zeit, #2 – 2020

Anna Till (AT) und Barbara Lubich (BL) sind zwei von 21 Künstler*innen, die im Rahmen von TANZPAKT Dresden in diesem Jahr eine Recherche-Residenz durchführen. Auf den Schiffen der Sächsischen Dampfschifffahrt wollten sie zum Thema „Zeit“ forschen. Dann kam Corona und die Schiffe fuhren erst einmal nicht mehr. Über ihre Recherche sprachen sie mit Christoph Bovermann, künstlerische Produktionskoordination TANZPAKT Dresden, und Karin Hildebrand (KH), Geschäftsführerin der Sächsischen Dampfschifffahrt. Bei den Residenzen von TANZPAKT Dresden treffen Künstler*innen auf Partner-Institutionen, um dort zu einem bestimmten Thema zu forschen. Das war und ist für uns alle ein Experiment. Mit welchen Erwartungen sind Sie in das Projekt gestartet? KH: Ich hatte erstmal gar keine Erwartungen, aber als ich von dem Vorhaben erfahren habe, fand ich das sehr spannend und wollte wissen, wohin das führen könnte. Unter den veränderten Bedingungen mussten wir ganz neue Mittel und Wege finden. Diesen Prozess fand ich super. BL: Wir hatten erwartet, dass wir viel Zeit auf den Schiffen verbringen würden. Wir wollten das Fließen der Zeit, das Fließen des Wassers erleben. Dann kam alles ganz anders und wir haben eine Erfahrung von Zeit gemacht, die nicht nur die Leute auf dem Boot betraf – plötzlich saß die ganze Gesellschaft in einem Boot und teilte Extrem-Erfahrungen mit Zeit. Da konnte niemand aussteigen. Wie kam es zu dem Recherche-Thema „Zeit“? KH: Für mich ist das Thema Zeit sehr spannend, weil die Zeit auf dem Schiff eine ganz andere ist als an Land, egal ob das ein Dampf-, Hotel- oder Containerschiff ist. Leider müssen wir die Menschen mit Zusatzprogrammen aufs Schiff locken, obwohl die Schifffahrt an sich schon ein sehr besonderes Erlebnis ist. Diese Zeit auf dem Schiff kann man einfach mal auf sich wirken lassen. BL: In unserer letzten gemeinsamen Arbeit („parallel situation“, 2017) haben wir uns mit dem Festhalten vom Augenblick und der Möglichkeit des Erinnerns beschäftigt. In unserem neuen Projekt „EXPERIENCING TIME or How to stand still?“ steht das individuelle Zeitempfinden im Mittelpunkt. Lebensdauer, Ungeduld, Aspekte von Effizienz, das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Freizeit oder die Sehnsucht nach einem Ort außerhalb von Zeitmessung – die Frage nach dem Umgang mit Zeit betrifft jeden. Wir möchten alltägliche Zeiterfahrungen besonderen Erlebnissen mit Zeit gegenüberstellen und dem Publikum die Möglichkeit geben, sich in ein Zeitloch zu begeben. Wie war die Residenz-Zeit für Sie? KH: Ursprünglich dachte ich, dass ich das Projekt viel schneller an meine Mitarbeiter*innen abgeben würde. Durch die stark veränderten Umstände hatte ich dann plötzlich Kapazitäten, um mich mit der künstlerischen Arbeit der beiden zu beschäftigen und sie ein bisschen zu begleiten. Gemeinsam konnten wir dann improvisieren und einen neuen Weg für das Projekt finden. Ich wurde richtig in das Projekt hineingesogen, dafür bin ich dankbar. Das ist auch meine Lebenserfahrung: Man kann viel planen, aber die Pläne gehen meist nie auf – da muss man einfach flexibel bleiben. AT: Die Residenz war für uns wirklich ein Luxus. Das Bedürfnis, künstlerisch zu forschen, ist oft präsent, aber es gibt keine Zeit, kein Geld dafür. Das findet dann eher zwischen Tür und Angel statt oder in Vorbereitung eines Projektantrags. Jetzt hatten wir Zeit, uns auch auf die Sächsische Dampfschifffahrt einzulassen. Ein Partner, der nicht primär im künstlerischen Bereich angesiedelt ist und uns ganz neue Perspektiven auf unser Recherchethema ermöglicht hat. Worin unterscheidet sich hier die künstlerische von der wissenschaftlichen Forschung? BL: Vielleicht liegen da Wissenschaft und Kunst gar nicht so weit auseinander, doch wir haben eine größere Freiheit im Umgang mit dem Recherche-Material. Unser Interesse lag auf der Erforschung des individuellen Zeitempfindens und wie wir dieses reproduzieren oder verändern können. Wir haben viele Gespräche geführt und unseren Interviewpartner*innen sehr persönliche, auch absurde Fragen gestellt. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Ansatz durften diese Fragen eine Richtung vorgeben. AT: Es bleibt Raum für Fantasie, für Science-Fiction, für Übertreibung und Humor. Unsere Recherche wird nicht an wissenschaftlichen Ergebnissen gemessen, sondern folgt unserem Interesse als Künstler*innen. Was nehmen Sie mit aus dieser Zeit? KH: Die Schiffe sind ein Kulturgut, daher würde ich mir wünschen, dass da viel mehr künstlerische Aktivitäten stattfinden. Ich hoffe, dass wir mit diesem Projekt Überlegungen zur kulturellen Nutzung der Schiffe anregen konnten. Vielleicht öffnet das für einige Mitarbeiter*innen auch neue kreative Möglichkeitsräume. Grundlage dafür ist allerdings, dass die Schiffe als Kulturgut anerkannt werden. Wenn ich immer nur Erträge erwirtschaften muss, habe ich weder die Zeit noch den Raum, um solche Initiativen zu unterstützen. Dabei finde ich diese Frage grade spannend: Was können wir mit den Schiffen noch machen? Im Januar 2021 treffen sich die TANZPAKT Resident*innen und weitere Choreograf*innen aus Sachsen zur Winterakademie in HELLERAU, um die Ergebnisse ihrer Residenzen zu reflektieren und sich gemeinsam über künstlerische Arbeitsprozesse auszutauschen. Im Herbst 2021 präsentiert TANZPAKT Dresden zehn Uraufführungen in einem großen Festival in HELLERAU und in der Villa Wigman.

23.09.2020

Zweimal 40 Jahre im Zeichen der Moderne

Was Demokratie und der ausdrückliche Bezug zur Herkunft mit musikalischer Avantgarde zu tun haben? EM sowie OEIN werden Auskunft geben Demokratie und künstlerische Kreativität sind ein schwieriges Paar. Einerseits ist das Recht auf freiheitliche Betätigung unabdingbar für die Entfaltung von Ideen und Konzepten, andererseits braucht deren Umsetzung nicht selten eine Spur diktatorischer Stringenz, um nicht im absichtslosen Chaos auszuufern. Der richtige Mix dieser Faktoren belebt die Kunst jeder Moderne. Und auch der Bezug zur originären Herkunft bedeutet nicht zwangsläufig völkisch eitle Nabelschau und tumb nationalistische Selbstbespiegelung, sondern kann Traditionen bewahren, um sie in eine weltoffene Zukunft zu führen. Zwei auf den ersten Blick (und sowieso beim ersten Hören) höchst unterschiedliche Ensembles betreiben just dieses ambitionierte Herangehen seit nunmehr vierzig Jahren und haben daraus in jeweils sehr eigener Form ihre Markenzeichen entwickelt. Mit den Kürzeln EM und OEIN werden vermutlich nur intime Kenner*innen der Szene etwas anfangen können. Doch wenn vom Ensemble Modern die Rede ist, horchen nicht nur Expert*innen auf. Denn dieses Unikat steht seit seiner Gründung im Jahr 1980 für eine nahezu ungebundene Kreativität, die demokratische Grundlagen ganz für sich auslotet, sie erweitert und immer wieder neu unbegrenzt anmahnt. Just zum Jubiläum war das seit Mitte der achtziger Jahre in Frankfurt am Main ansässige Ensemble aber durch eine voll und ganz amusische Pandemie ausgebremst, musste Konzerte absagen und sich auf den virtuellen, virenfreien Raum zurückziehen. Noch stärker war das bolivianische Ensemble OEIN von der Krise betroffen, denn dieses Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos ist von Konzertabsagen und Reiseverboten fern seiner Heimat überrascht worden. Es sollte gemeinsam mit dem Stimmkollektiv PHØNIX16 die MaerzMusik in Berlin eröffnen und gleich darauf in HELLERAU gastieren, saß stattdessen jedoch fast drei Monate lang in deutscher Quarantäne fest. Fern von Familie und Freund*innen, aber immerhin im Schloss Rheinsberg, wo die Mitglieder dieses Projektorchesters ihr spektakuläres Uraufführungsprogramm weiterbearbeitet und vorproduziert haben. Einige der Musiker*innen um Carlos Guttierez waren sogar zum ersten Mal im Ausland, befanden sich also in mehrfacher Hinsicht in einer Ausnahmesituation. Seine Faszinationskraft entfaltet OEIN vor allem durch die Verbindung eines traditionellen Instrumentariums aus dem Andenland mit zeitgenössischem Schaffen. So retten sie seit nun schon vier Jahrzehnten indigene Musik vor dem Vergessen, indem sie durchs Land ziehen und sich traditionelle Spielweisen auf einem überwiegend handgefertigten Instrumentarium vorführen lassen, um diese Klangwelt mit neuen und experimentellen Ausdrucksformen zu erweitern. Darüber hinaus – und das ist wieder höchst demokratisch! – betreibt dieses Ensemble auch eine pädagogische Mission, indem es Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten den Zugang zur Musik ermöglicht. Zum Festival 4:3 im November (vgl. auch Text S. 22) werden die Rheinsberger OEIN-Aufnahmen in Audio-Installationen präsentiert. Auf ein nachgeholtes Konzert darf auch beim Ensemble Modern gehofft werden. Dieses in den vergangenen Jahren wieder regelmäßig in HELLERAU gastierende Urgestein eines Klangkörpers, der klingende Offenheit mit spielerischer Perfektion und ausdrücklichem Wagemut verbindet, wird im Januar 2021 zu „Happy New Ear“ wieder ins Festspielhaus kommen. Mit seinen nunmehr aus neun Ländern stammenden Solist*innen sollte EM ursprünglich im Frühjahr 2020 das vierzigjährige Bestehen feiern, doch auf dem prall gefüllten Terminkalender erschien dann nur noch das Wortpaar „Abgesagt/Cancelled“. Die Hoffnung jedoch stirbt zuletzt. Eine Binsenweisheit, die gerade in den Zeiten eines absolut undemokratischen Virus’ in ganz neuem Licht erscheint. Oder ist nicht gerade das C-Wort Ausdruck vollendeter Demokratie, da es unabhängig von Völkerschaften, Landesgrenzen und sozialem Status zuschlägt? Diese Frage mögen andere klären. Das Ensemble Modern jedenfalls will seine Projekttrilogie „riss“ von Mark Andre nachholen, einen in den Jahren ab 2014erarbeiteten Werkzyklus, der klangliche und kompositorische Zwischenräume erforscht. Gibt es Risse zwischen den Tönen, vielleicht sogar Unerhörtes und Überhörtes? Führen ein Intervall oder eine Synkope zur Zerreißprobe von Stücken, von Stück- und von Höreindrücken? Oder besteht nicht sogar just in einem (stofflichen) Riss auch ein Übergang zwischen verschiedenen Seiten, zwischen gegensätzlichen, gar unüberbrückbaren Polen? Der Forscherdrang des 1964 in Paris geborenen Mark Andre beinhaltet ein Fragen und Suchen, worin weniger das Gegebene denn dessen Werden, Gedeihen und Vergehen zu prüfen sind. Vielmehr greift der Komponist und Klangkünstler auf Urmotive zurück, deren Verformungen und Ewigkeitswerte er bewahrt, bearbeitet und – auf die Zerreißprobe stellt? Solch ein Riss geht durch und durch und ist, wenn nicht trennend, wenn nicht verbindend, so doch vermittelnd. Welche Mittler könnten sich der Komponist und sein Publikum mehr wünschen als erfahrene Expert* innen wie das Ensemble Modern? „Happy New Ear“ lässt nun hoffentlich bald aufhorchen, was im Frühjahr 2020 verpasst worden ist. Möglicherweise ist dieser Riss im Konstanten, Gewohnten ja durchaus ein Erfahrungsgewinn für Demokratie und künstlerische Kreativität?

23.09.2020

Wanaset Yodit, #2 – 2020

Die ägyptische Regisseurin Laila Soliman zählt zur internationalen jungen Theater-Avantgarde und ist 2021 erstmalig in HELLERAU zu Gast. Im Gespräch mit Leonie Kusterer berichtet sie über ihre Arbeit und die aktuelle Lage des Produzierens in Ägypten. Die Arbeit „Wanaset Yodit“ ist eine Einladung an das Publikum, mit den beiden Protagonistinnen, Abir Omer und Yodit Akbalat, Kaffee zu trinken und über ihr Leben zu sprechen. Wie hast du die Protagonistinnen kennengelernt und wie entstand die Idee, sie zu portraitieren? In Hannover bin ich in Kontakt mit der selbst organisierten Aktivistinnengruppe „My Body Belongs to Me“ gekommen, die sich gegen weibliche Genitalverstümmelung engagiert. Um mehr Aufmerksamkeit für ihren Kampf zu bekommen, haben Ruud Gielens und ich gemeinsam mit sieben der Frauen das musikalische Dokumentartheaterstück „MY BODY BELONGS TO ME“ entwickelt. Aufgrund des musikalischen Talents der Frauen und der Musik als Teil ihres Alltags und ihrer Zeremonien, haben wir uns dazu entschieden, ein musikalisches Theaterstück zu machen. Während der regelmäßigen Kaffeetrinken in der Probenzeit habe ich Abir Omer und Yodit Akbalat besser kennengelernt. Speziell mit den beiden wollte ich ein weiteres Stück machen – sie leben in derselben Stadt, unterstützen sich gegenseitig und sind eng befreundet. In „MY BODY BELONGS TO ME“ werden thematische Ausschnitte ihres Lebens beleuchtet. Ich habe beschlossen, den beiden einen intimeren Abend zu widmen, in welchem sie während einer Kaffeezeremonie Raum haben, ihre Geschichte mit dem Publikum zu teilen. So ist „Wanaset Yodit“ entstanden. Für deine letzten Stücke sind Geschichten von und über Frauen zentral. Gibt es in deiner Arbeit eine Verbindung zu feministischen Diskursen oder ist das Zufall? Weder das eine noch das andere. Mich interessieren Themen der Marginalisierung oder Ungerechtigkeit, Unterdrückung und der Kampf gegen Unterdrückung. Leider sind Frauen noch immer eine Gruppe, die sehr stark unter Marginalisierung und Prekarisierung leidet. Würdest du deine Arbeit als aktivistisch bezeichnen? Das kommt auf die Perspektive an. Für mich muss es immer einen dringenden Grund geben, eine Arbeit zu machen, und politische Kämpfe sind noch immer dringende Gründe. Du bist geborene Ägypterin, lebst in Kairo und machst internationales Theater. Wie sind die Strukturen des freien Produzierens in Ägypten? Seit 2018 habe ich nicht mehr in Ägypten produziert. Seit 2010 weigere ich mich, meine Arbeiten der Zensur zu zeigen. Somit ist es nicht völlig legal, meine Arbeiten öffentlich zu präsentieren. Ich muss immer einen Weg finden, sie einem Publikum zugänglich zu machen. Seit den 1990er Jahren existiert eine unabhängige Theaterszene in Ägypten, die allerdings stark von internationaler Finanzierung abhängt. Während der Revolution haben alle auf eine Änderung gehofft, aber genau das Gegenteil ist passiert: Mehr und mehr versucht die Armee, absolute Kontrolle über die Kultur- und Medienbranche zu bekommen. Mittlerweile produziere ich nicht mehr in Ägypten, weil es nicht nur für mich gefährlich ist, sondern auch weil die Sicherheit der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, nicht gewährleistet ist. Seitdem vermehrt Leute aufgrund von Theaterstücken, Musikvideos, Karikaturen oder auch nur Witzen bei Facebook verhaftet wurden, habe ich die Entscheidung getroffen, momentan nicht mehr in Kairo zu produzieren.

23.09.2020

Erfolgsgeschichte Ruanda, #2 – 2020

In Deutschland wird noch darüber debattiert, Ruanda hat sie längst installiert: die Frauenquote. Weshalb das kleine afrikanische Land auf Feminismus setzt und was sich die westliche Welt davon abschauen könnte, hat die Theater- und Perfomancegruppe Flinn Works in langer Recherche für die Produktion „Learning Feminism from Rwanda“ herauskristallisiert. Mit der Künstlerischen Leiterin und Performerin Lisa Stepf sprach der Journalist Matteo Baldi. Ruanda macht in den letzten Jahren immer wieder weltweite Schlagzeilen in Sachen Feminismus. Was zeichnet die Erfolgsgeschichte des ruandischen Feminismus aus? Die Entwicklungen, die das Land seit 1994 in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter gemacht hat, sind erstaunlich: Vor 1994 durften Frauen nicht erben, sie durften weder Land noch ein Bankkonto besitzen. Nur mit der Zustimmung ihres Mannes konnten sie arbeiten gehen und in der Öffentlichkeit sollten sie nicht sprechen, wenn ein Mann in der Nähe war. Heute gibt es über 61 % weibliche Abgeordnete im Parlament und Frauen können innerhalb von einem Tag sehr unbürokratisch ein mittelständisches Unternehmen gründen. Es gibt Empowerment-Trainings, staatliche Elite-Schulen für Mädchen und ein neues Gesetz gegen häusliche Gewalt, von dem viele Frauen Gebrauch machen. So landete Ruanda auch 2020 beim Global Gender Gap Index auf Platz 9 – vor Deutschland (Platz 10). Paul Kagame amtiert seit 20 Jahren als Präsident Ruandas. Wie lassen sich Kagames Beweggründe für die Geschlechterparitätsbewegung einordnen? Kagame hat die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau als Grundlage seiner Politik eingeführt. Nach dem Genozid 1994 war Ruanda komplett zerstört und über 70 % der Bevölkerung war weiblich. Kagame war bewusst, dass er nur mit den Frauen das Land wiederaufbauen kann. Andererseits ist er mit einer alleinerziehenden Mutter im Exil in Uganda aufgewachsen und diente dort unter Museveni in einer Rebellengruppe, in der die Gleichberechtigung auch eine große Rolle gespielt hat. Wie lassen sich die Umgangsformen einer ganzen Bevölkerung in so kurzer Zeit transformieren? Tief verwurzelte Werte und Rollenbilder sind natürlich nicht top-down per Gesetz veränderbar. Vor allem NGOs arbeiten in Ruanda am Kulturwandel. Zum Beispiel gibt es in den Dörfern das „Parents-Evening-Forum“ und seit 2006 existiert eine „männlich feministische Organisation“, Men‘s Ressource Centre, die für die Gleichberechtigung der Geschlechter eintritt. In Trainings arbeiten sie in landesweiten Workshops an einem neuen Männerbild, weg vom gewalttätigen Mann und weg von der „Toxic Masculinity“ – hin zu einem gleichberechtigten Verständnis von Mann und Frau. Werden diese neuen Werte auch wirklich gelebt? Ja und Nein. In Kigali, der Hauptstadt, findet man natürlich viele Paare der neuen Mittelschicht, die sehr gleichberechtigt leben. Auf dem Land ist das schon schwieriger, aber es gibt durchaus Fortschritte. Wir haben viele Frauen in Führungspositionen getroffen, die die gläserne Decke nicht kennen und berichten, dass sie keine Probleme mit männlichen Mitarbeitern haben, dass ihr Geschlecht im beruflichen Kontext nicht thematisiert wird. Wir haben mit Schülerinnen einer Mädchenschule gesprochen, die Pilotin, Ärztin und Politikerin werden wollen. Sie haben weibliche Politikerinnen und viele Unternehmerinnen vor der Nase.  

22.09.2020

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch kann“, #2 – 2020

Bei ArtRose treffen sich regelmäßig Menschen über 60 Jahre, um sich gemeinsam zu bewegen und zu improvisieren. Mit der Initiatorin Jenny Coogan, Professorin an der Palucca Hochschule für Tanz, sprach Moritz Kotzerke, Leiter Audience Development, Kulturelle Bildung und Netzwerke in HELLERAU. Frau Coogan, wer oder was ist ArtRose? ArtRose entstand im Januar 2011. Meine Mutter wurde gerade 80 und ich wollte ihr ein sehr besonderes Geschenk machen. Als Tänzerin, Choreografin und Leiterin einer eigenen Company habe ich mir gedacht: Wieso nicht ein Tanzstück mit Leuten entwickeln, die annähernd in ihrem Alter sind? Und so habe ich ein paar Bekannte angesprochen, deren äußerlicher Ausdruck mich interessiert hat. Daraus ist dann eine Gruppe entstanden und wir haben im Mai 2012 ein erstes Stück in HELLERAU aufgeführt. Die Gruppe hat einige Besonderheiten: Erstens geht es nicht um tänzerisches Können. Die meisten Teilnehmer*innen haben sehr wenig Erfahrungen mit Tanz. Meist sind sie erst als Rentner*innen zum Tanz gekommen. Zweitens: Die Gruppe ist kontinuierlich ohne Unterbrechung seit 2011 bestehen geblieben (sechs von den ursprünglich zehn Menschen sind auch heute noch dabei). Und drittens: Ich als Choreografin entwickle keine fertige Dramaturgie, sondern die Ideen entstehen aus der wöchentlichen Praxis der Gruppe. Das führt auch zu einer starken Authentizität auf der Bühne, und die Bewegungsformen, mit denen wir arbeiten, sind sehr divers. Wie kann man sich ein Treffen der ArtRoses in HELLERAU konkret vorstellen? Wir sind jetzt seit ungefähr drei Jahren einmal im Monat in HELLERAU. Am Anfang war es immer der feste Kern und es hat ein bisschen gedauert, bis auch neue Personen aus Dresden dazugekommen sind. Ich glaube, das Besondere ist, dass die Menschen sich aufgenommen fühlen und in einen Raum kommen, in dem jede*r die Anerkennung von jede*r bekommt. Die Trainings sind so aufgebaut, dass wir mit kleinen Aufwärmübungen anfangen. Beispielsweise versuchen wir, uns mit den Händen und unserem Atem wie Quallen zu bewegen und dafür Formen zu finden. Das geht manchmal so weit, dass man das Gefühl hat, dass der Atem von innen nach außen durch die Haut strebt und wieder zurückgezogen wird. Diese Übungen zum Ankommen und Aufwärmen macht man auch mit professionellen Tänzer*innen, sie werden vielleicht nur anders aufgenommen, da jede*r es anders macht. Es sind sehr viele Kleingruppen- oder Partner*innenübungen, es geht um das In-Kontakt-Kommen – nicht über Hautkontakt, sondern über die Wahrnehmung der gemeinsamen Erkundung des Raumes. Es wird also mobilisiert, geknetet, Ebenen erkundet, alleine oder mit anderen. Aber nie mit einem wirklich vorgegebenen Material, dass man lernen soll. Es gibt Aufgaben oder Ideen und dann finden wir Antworten zusammen in längeren Improvisationen. Sie kennen die Teilnehmer*innen nun schon recht lange. Können Sie beschreiben, was diese Erfahrungen mit dem Tanz für die Teilnehmer*innen bedeuten und was sie dort lernen? Die Atmosphäre und der Raum zum Ausprobieren unterstützen, glaube ich, sehr die eigene Vorstellungskraft und Selbstwirksamkeit. Manche haben mir nach einigen Jahren gesagt, dass sie große Probleme mit Selbstkritik hatten und Angst, sich zu blamieren. ArtRose hat ihnen geholfen, diese Ängste loszuwerden. Bei anderen geht es eher um die körperlichen Fähigkeiten. Viele denken dann: „Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch kann.“ Und das heißt jetzt nicht, dass man unglaublich virtuos ist, aber sie spüren ihre Fähigkeiten des künstlerischen Ausdrucks durch Tanz. Denn auch Gehen kann ein Tanz sein, wenn es voll von Intentionen, Ausdruck, Poesie ist. Eine ist Professor*in an der Uni und sie sagte, dass sie jetzt keine Angst mehr vor ihren Vorlesungen mit 400 Leuten hat. Denken Sie, dass die Teilnehmer*innen von ArtRose zeitgenössischen Tanz auch anders anschauen und wahrnehmen? Viele sagen von sich, dass sich ihr Verständnis von zeitgenössischem Tanz durch ArtRose stark entwickelt hat. Sie schauen sich eine größere Vielfalt an Tanz an und finden bessere Zugänge für sich selbst. Wenn man seine künstlerische Sicht als Zuschauer*in erweitert, dann entsteht die Möglichkeit, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu öffnen und Zugang zu unterschiedlichen Formen zu finden. Das Besondere an ArtRose HELLERAU ist, dass die Leitung der Gruppe überwiegend die Gastkünstler*innen übernehmen, die in HELLERAU spielen. Die Treffen sind meist nur eine Stunde vor Vorstellungsbeginn, und dann kann man die Stücke auf der Bühne meist noch erleben. Es macht den Besuch gemeinschaftlicher, denn man hat vorher schon etwas mit anderen zusammen geteilt und man geht vor der Vorstellung vielleicht noch gemeinsam ins Restaurant oder in den Garten. So kommt man mit anderen in Kontakt und hat Austausch. Das ist für mich ein viel kompletteres Erlebnis von Tanz. Eben nicht nur in der Rolle der Zuschauenden. Wie würde sich ArtRose in HELLERAU entwickeln, wenn Sie träumen dürften? Und gibt es etwas, das Sie uns als Haus mit auf den Weg geben möchten? Natürlich würde ich es sehr toll finden, wenn wir mit ArtRose noch einmal in HELLERAU auftreten könnten. Es gibt ja immer wieder Schwerpunkte mit unterschiedlichen Gruppen, es gab aber noch nie ein Festival für ältere Menschen. Unsere Gesellschaft besteht nun mal zu einem großen Teil auch aus älteren Menschen und in dem Alter haben sie so viel in deren Körpern an Erfahrung, an künstlerischem Ausdruck. Alt heißt für mich: Was für ein Stoff! Was für Erlebnisse! Alles in einem leiblichen Körper. Und ich glaube, dass es dafür auch ein Publikum gibt. Viele unserer Auftritte sind gut besucht. Viele ältere Menschen schauen sich das gerne an. Ich persönlich sehe das als einen gesellschaftlichen Gewinn, wenn ältere Tanzensembles nicht nur etwas in Senior*innenheimen oder Gemeinschaftsräumen machen, sondern auch in den Räumen, in denen Kunst gezeigt wird, sichtbarer werden.

18.09.2020

Shiva Feshareki – Multidimensional Thinking, #2 – 2020

Shiva Feshareki ist eine am Experiment interessierte Komponistin, die in ihrer Praxis Aspekte von Akustik, Elektronik, Kontext und Perspektive erforscht. „Vielleicht hilft mir mein transnationaler und multikultureller Hintergrund, verschiedene Aspekte in meiner Musik mit Leichtigkeit und gleichzeitig Tiefe zu erforschen. In der Londoner Gegend, in der ich aufgewachsen bin, lebte ich in einer der sehr wenigen nicht-westlichen Familien. Wenn ich dies mit meiner multikulturellen Erziehung kombiniere, in der ich vielfältige Perspektiven erlebte, erinnere ich eine Vielzahl von Modellen des Denkens, kreativer Prozesse und kreativer Zusammenarbeit. Auch heute fühle ich mich besonders wohl, wenn ich mich zwischen verschiedenen künstlerischen und sozialen Szenen bewege oder eine Außenseiterin in einem Bereich oder einer Disziplin sein kann.“ Inzwischen besitzt Shiva Feshareki einen Doktortitel für Musik vom Royal College of Music (London) und zahlreiche Auszeichnungen wie den britischen Komponist*innenpreis für Innovation der Ivors Academy (2017). Seit einiger Zeit komponiert sie öfter und besonders gern für Orchester, wobei sie ihre Werke als Solistin z.B. mit dem BBC Concert Orchestra, London Contemporary Orchestra, den Düsseldorfer Symphonikern, Orchestra Nationale de Lyon oder Ensemble Modern aufführt. „In meinen elektroakustischen Kompositionen konzentriere ich mich auf Klangbewegungen, Raum und die Verbindung von Klang mit umfassenden physikalischen Phänomenen. Ich möchte besondere Hörerlebnisse schaffen und die Perspektive des Zuhörers mit physikalischen und räumlichen Mitteln erweitern. Dies ist z.B. in meinen Kompositionen „GABA-analog“ und „Opus Infinity“ vorherrschend: Die Zuhörenden treten buchstäblich in die Kompositionen ein und erhalten ihre eigene Version der Komposition, je nachdem, in welchem Winkel und in welcher Perspektive sie sich im Raum befinden. In meinen Live-Elektronik- und Plattenspieler-Performances recycle ich Klang als Material und interpretiere ihn neu, indem ich ihn mit taktilen Bewegungen – fast wie in einer Choreografie – zwischen mir und sich drehenden Kreisen manipuliere. Damit verwandle ich Klangmaterial in neue Dimensionen und Perspektiven von unendlichen Proportionen. Mit „Opus Infinity“, meiner Raumkomposition für Live-Elektronik, Plattenspieler, verstärktes Ensemble und Soundsystem (Uraufführung mit dem Ensemble Modern am 29. Februar 2020 in Frankfurt), habe ich ebenfalls eine Vielzahl von Praktiken in einen multidimensionalen Prozess einbezogen – und auch hier war das Publikum frei in der Wahl seiner Perspektiven.“

„Ich möchte besondere Hörerlebnisse schaffen und die Perspektive des Zuhörers mit physikalischen und räumlichen Mitteln erweitern.“

Am 6. November 2020 wird in HELLERAU das Festival „4:3“ mit BLACKBOX eröffnet, einem Konzertprogramm in drei Teilen: Enno Poppes Komposition „Rundfunk“ (2018) für neun Synthesizer, Robert Henkes Projekt „CBM 8032 AV“ (2019) für 5 Computer und die Uraufführung einer neuen Spatial-Komposition von Shiva Feshareki. Alle Projekte verbindet eine besondere Neugierde auf aktuelle wie „historische“ Techniken der elektronischen Musik, auf die Besonderheiten faszinierender „Blackboxes wie Synthesizer oder Computer. Enno Poppe verwendet Klänge der sechziger und siebziger Jahre wie FM-Synthese oder Minimoog, die er dekonstruiert und neu zusammensetzt. Robert Henke erforscht die Schönheit einfacher Grafiken und Töne unter Verwendung von Computern aus den frühen 1980er Jahren, befragt die Ambivalenz zwischen zeitgenössischer Ästhetik und der Verwendung inzwischen veralteter und beschränkter Technologien. Weitere Programmpunkte bei „4:3“ sind aktuelle Arbeiten von Charlotte Triebus, OEIN/PHOENIX16 (siehe dazu den Text von Michael Ernst in diesem Magazin auf S. 28), Konzerte zum 85. Geburtstag von Helmut Lachenmann sowie Uraufführungen der „Nächsten Generationen“: mit der Komponistenklasse Dresden und dem Ensemble Contemporary Insights

18.09.2020

CYNETART – VORTEX – Ulf Langheinrich, #2 – 2020

„Ich denke, erlebte Wirklichkeit ist eine Halluzination. Wirklich ist sie nicht dadurch, dass sie physikalisch stimmt, sondern dadurch, dass wir das Erleben glauben. Träume etwa sind geeignet, eine so überzeugende Wirklichkeitshalluzination zu generieren, dass diese unabhängig von Physik als echt erlebt wird. Es scheint, als sei die Generierung von wirklichkeitsgleichen Vexiermustern, mit immer diskreteren Pixeln, immer schnelleren Bildsequenzen, in immer höherer Ausdifferenzierung, das eine Ziel, in dem sich ästhetische und technologische Forschung einig sind: die Approximation des Virtuellen an die Glaubwürdigkeit des Traumes. Wenn die Granularität der generierten Muster an der Systemgrenze menschlicher Sinne als solche nicht mehr erkennbar ist, wenn ein VR-Environment endlich die menschliche Enttäuschungsfähigkeit überwältigt hat und die Halluzination als nie zuvor erlebte Wirklichkeit überzeugt, dann rufe ich mir entzückt zu: Ich träume nur.“ (Ulf Langheinrich) Ulf Langheinrich ist wohl eher ein besessener Forscher als ein Träumer, sein Blick ist scharf, aber eben auch entrückt: „Mich interessiert die Kreation sehr spezifischer ästhetischer Zustände oder akustischer Felder, die sich durch Eigenschaften wie Temperatur, Konsistenz oder Viskosität beschreiben lassen. Die Arbeit mit Tänzerinnen und die Präsentation von Abbildungen menschlicher Emotion in Gesicht und Körper werfen zusätzliche und andere Fragestellungen auf, das war schon zu Zeiten von MODELL 5 (GRANULAR-SYNTHESIS 1994) so. Seitdem geht es mir immer auch um Identifikation und Projektion, um Sexualität und Sterblichkeit, das trifft jedenfalls in meinen Arbeiten so zu. In Bildern ist alles das tot, was unsterblich werden sollte, erloschen im Moment der Bilderzeugung. Ihre Erzeugung ist ein vampiristischer Akt. Eine Anmaßung. Ich versuche durch eine Art von Auflösung des Gemeinten ein Bild hinter den Bildern zu destillieren, zu raffinieren. Dieser Versuch ist immer ein vergeblicher! Insofern sind gerade jene Arbeiten, die mit menschlichem Abbild operieren, auch Arbeiten über Verlangen und Scheitern.“ Wenn sich in den Arbeiten von Ulf Langheinrich das Interesse vor allem auf die Materialität der Medien, auf ihre Physik, auf Fragen zu Konsistenzen und Konsistenzveränderungen richtet, so sind ihm doch auch Kontexte, soziale Settings und Gesten von zentraler Bedeutung: „Die unterschiedlichen Auflösungserscheinungen, die im Rahmen von VORTEX verhandelt werden, spiegeln gesellschaftliche Prozesse der Gegenwart wider. Es scheint, als werde zu Beginn noch eine Ikonisierung des exotischen Anderen problematisiert, präsentiert als kollektive (weibliche) Multitude. Doch die sich vollziehende Überwindung des Menschlichen und dann des Körperlichen evoziert völlig andere Themen. Eigentlich geht es um Vereinzelung und Isolation. Um Verlust als zentrale Erfahrung des Seins in der Welt. Vor allem geht es um den Verlust des Vertrauens in die Richtigkeit des Gewussten. Und es geht um Nicht-Verstehen, um Nicht-Verstehen-Wollen als Akt der Emanzipation von der Geschwätzigkeit des Seins.“ Die Uraufführung von VORTEX ist ein interdisziplinäres, internationales Projekt: eine Kollaboration zwischen den Städten Le Havre, Maubeuge, Dresden und Bochum. VORTEX findet als hybrides Bühnenereignis statt, das unterschiedliche Künste miteinander reagieren lässt, um neue ästhetische Formen zu generieren. Die mesmerisierende Wirkung von Ulf Langheinrichs Licht- und Bildwelten in eine tanzbare Live-Choreografie zu transcodieren, ist die Leistung der jungen italienischen Künstlerin Maria Chiara de’Nobili, die derzeit ihren Masterabschluss für Choreografie an der Palucca Hochschule in Dresden vorbereitet. Ulf Langheinrich, 1960 in Wolfen geboren, verließ 1984 die damalige DDR. In Wien gründete er 1991 zusammen mit Kurt Hentschläger GRANULAR-SYNTHESIS. Das Duo schuf wegweisende monumentale Multimedia-Installationen und Performances. Danach als Solokünstler international erfolgreich, lebte er lange Zeit in Ghana und Hongkong, seine Arbeiten werden weltweit präsentiert. Seit 2016 ist er Künstlerischer Leiter des Festivals CYNETART in HELLERAU. CYNETART 2020 ist eine Veranstaltung der Trans-Media-Akademie Hellerau im Rahmen der Aktivitäten des Netzwerk | Medien | Kunst Dresden in Kooperation mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste sowie der SHAPE Plattform.

18.09.2020

Rekonstruktion und Konstruktion von Geschichte, #2 – 2020

Carena Schlewitt im Gespräch mit Lina Majdalanie, Rabih Mroué, Marta Keil und Grzegorz Reske über den Rechercheprozess für „Last but not last“

Marta und Grzegorz, ihr habt dieses langfristige Forschungsprojekt zu Geschichte und Transformationsprozessen mit Bezug auf Polen initiiert. Und ihr habt dazu Lina Majdalanie und Rabih Mroué, zwei bekannte, in Berlin lebende Künstler*innen aus Beirut eingeladen. Was war euer Impuls, euer Interesse an diesem Thema und dieser Konstellation?

Für uns kam die radikale populistische Wende, die sich 2015 in Polen vollzog, überraschend. Wir beobachten und reflektieren bereits seit einiger Zeit signifikante soziale Veränderungen in Polen und sehen, wie die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zunehmen, aber eine so schnelle und radikale politische Wende haben wir nicht erwartet. Teilweise auch, weil wir selber mittendrin waren und an dem anstrengenden Kulturkampf teilgenommen haben. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, Künstler*innen einzuladen, die die komplexe politische und soziale Situation Polens aus ihrer eigenen, externen Perspektive betrachten können und die höchstwahrscheinlich Mechanismen und Interdependenzen sehen, die für uns unsichtbar bleiben. Die Wahl von Lina und Rabih lag für uns auf der Hand: Wir haben schon früher mit ihnen gearbeitet und bewundern ihre langjährige künstlerische Forschung über Erinnerung und Repräsentation sowie ihre einzigartige Verflechtung von Persönlichem und Politischem. Entscheidend war für uns vor allem die Methode von Lina und Rabih, Fiktion als politisches Mittel einzusetzen, um die Realität zu verstehen.

Lina und Rabih, im Rahmen des Arbeitsprozesses habt ihr Warschau und Dresden viele Male besucht – wie habt ihr aus eurer sozialen und künstlerischen Perspektive die Gesellschaften, die Städte, die historischen Aspekte, die Menschen wahrgenommen?

Wir wollten bei unseren Aufenthalten in Dresden, Warschau und auch Leipzig versuchen, die Besonderheit jeder Stadt heute im Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit zu verstehen. Diese drei Städte haben eine lange kommunistische Regimevergangenheit. Natürlich ist die moderne Geschichte jeder Stadt vielschichtig und komplex, besonders für zwei Künstler*innen, die aus einem anderen Kontext kommen. Aber wir haben uns dabei ertappt, wie wir neben unseren persönlichen Erfahrungen auch Assoziationen zwischen den drei Städten und unserer Stadt Beirut gebildet haben. Sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den vier Städten haben uns in unserem Arbeitsprozess geholfen. Populismus, Nationalismus, die Einmischung der Religion in die Politik, historische Mythen und Nationalhelden usw. nehmen heute leider überall auf der Welt wieder zu. Aber in jedem Land oder in jeder Gesellschaft manifestiert sich diese Entwicklung unterschiedlich, gibt es andere Wurzeln, eine andere Bildsprache, eine andere Imagination … Wir wollten verstehen, wie sich diese Entwicklung im Verhältnis zur eigenen, besonderen Erfahrung und Geschichte in jeder Stadt artikuliert. Und auch hier war es sehr hilfreich, sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zu untersuchen und bereit zu sein, alles als überraschend oder auch seltsam zu betrachten. Wir wollten unwissend und ohne Herablassung an das Thema herangehen und wie ein Kind ganz naiv fragen, warum und wie etwas geschieht.

Was wurde für euch schließlich zum gemeinsamen Arbeitsansatz, aus dem der Theaterabend entstanden ist?

Ein wichtiger Punkt war Linas und Rabihs Beobachtung dessen, was in letzter Zeit zu einer polnischen Obsession geworden ist: historische (und fiktionale!) Rekonstruktionen. Eine Welle von Nachstellungen vergangener oder phantasievoller Ereignisse, die in letzter Zeit im ganzen Land zu sehen sind. Als ob wir unsere Geschichte ständig neu erzählen mussten, als ob ihre gegenwärtige Version nicht heroisch oder attraktiv genug wäre. Wir haben daraufhin ein sehr „banales und unbedeutendes“ Ereignis aus dem Jahr 2016 ausgewählt, es durchforstet und analysiert, bis sich vor unseren Augen überraschenderweise eine ganze Welt offenbarte, die mit dem Diskurs der heutigen herrschenden Klasse in Polen zusammenhängt, ein Diskurs, der auf Fiktion und Realität aufbaut und sich von der alten Geschichte Polens bis heute erstaunlich ausbreitet.

Rechercheprozess und Produktion: HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und Performing Arts Institut Warschau, Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung. Koproduktion: Residenz, Schauspiel Leipzig.

Fr/Sa 09./10.10.2020 
Last but not last 
Lina Majdalanie & Rabih Mroué (LB/DE)

18.09.2020

Abschied und Beginn, #2 – 2020

NEUN, die zweiteilige Kooperation zwischen dem Berliner Solistenensemble Kaleidoskop, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und der Staatsoper Hannover, nimmt zwei Monumente der Orchesterliteratur zum Ausgangspunkt: Die 9. Sinfonien von Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler. Beide Werke, 1824 bzw. 1912 uraufgeführt, markieren Anfang und Ende der großen romantischen Form. Beethovens „Neunte“, bis heute an Popularität kaum übertroffen, sollte seine letzte Sinfonie bleiben. Als Schlüsselwerk der sinfonischen Musik bereitete sie jedoch den Boden für nachkommende Komponist*innen der Romantik. Rund 90 Jahre später scheute Mahler zunächst die Arbeit an seiner 9. Sinfonie, da er fürchtete, neben Beethoven, Schubert, Bruckner und Dvořák nicht über diese Zahl hinauszukommen und mit ihr seinen eigenen Tod zu komponieren. Tatsächlich beschreibt Mahler dann mit der kurz vor seinem Tod entstandenen und erst danach zum ersten Mal aufgeführten 9. Sinfonie den Abschied vom Leben und den Übergang in den Tod – und gleichzeitig den Übergang in eine neue Epoche. Als „Abschied“ und „Beginn“ werden diese beiden Werke durch das Solistenensemble Kaleidoskop neu bearbeitet auf die Bühne gebracht. Das bekannte musikalische Material wird jeweils nur in kleiner Besetzung gespielt und performativ, klanglich und räumlich neu interpretiert. Durch diese Aneignung werden die Kompositionen vom überwältigenden Pathos des großen Orchesterwerks befreit und das Potenzial der Werke freigelegt. Das Solistenensemble Kaleidoskop und die Musiker*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters schaffen damit ein Musiktheater, das Hörgewohnheiten verschiebt und die Körperlichkeit der Musik sowie der Musiker*innen selbst in den Mittelpunkt stellt. Sie bilden keinen einheitlichen, homogen zusammenspielenden Klangkörper, wie es das Musizieren von Sinfonien im klassischen Orchester nahelegt. Vielmehr wird die Heterogenität der Spieler*innen und ihre individuelle Auseinandersetzung mit dem Werk ernst genommen und im Bühnenraum sicht- und hörbar gemacht. Die Musiker*innen werden zu aktiven Erzähler*innen von und mit ihrer Musik

Abschied

Der letzte Satz „Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend“ aus Gustav Mahlers 9. Sinfonie bildet den Ausgangspunkt für das Musiktheater „Abschied“. Der erste Teil der zweijährigen Kooperation stellt die Frage, wie sich nach einem Ende ein neuer Anfang finden lässt. Aus der aktuellen Krisensituation heraus erkunden die finnische Choreografin Milla Koistinen, der Künstler Ladislav Zajac, Musiker*innen des Staatsorchesters Hannover sowie der Regisseur und Komponist Michael Rauter mit dem Solistenensemble Kaleidoskop die Zeitspanne zwischen einem abgeschlossenen Davor, zu dem es keine Rückkehr gibt, und einem noch ungewissen Danach. Das „Adagio“, ein langsamer und erhabener Abgesang des monumentalen Werkes, wird für „Abschied“ in eine neu arrangierte und choreografierte Fassung für elf Streicher* innen und eine Tänzerin überführt. Extrem verlangsamt gespielt, verschwindet der romantische Gestus hinter stehenden Klängen. Immer leiser werdend, bewegt sich die Musik ihrem Verschwinden entgegen. Gleichzeitig entfaltet sich aus unauffälligen, nur selten in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rückenden Routinen und Nebensächlichkeiten eine Choreografie. Der zweite Teil des Stückes ist von Wiederholungen und der Überlagerung heterogenen Klangmaterials bestimmt. Ein Atem-Chor überlagert sich mit stimmlichen, gestischen und musikalischen Fragmenten zu einer fast humoristisch wirkenden Collage. Unter anderem inspiriert von Orlando di Lassos Chorwerken der Renaissance entsteht in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Komponisten Ethan Braun dafür neue Musik. Es entsteht ein Mit- und Nebeneinander einzelner Stimmen und individueller Rhythmen; ein hoffnungsvoller Ausblick auf den Anfang nach dem Ende.

Die Kooperation

Im Rahmen des Programms Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes verbünden sich das Solistenensemble Kaleidoskop und die beiden Institutionen HELLERAU und die Staatsoper Hannover auf verschiedenen Ebenen. Da (neue) Formen des Musiktheaters von allen drei Partnern auf sehr unterschiedliche Weise, mit anderen Mitteln und Arbeitsstrukturen entwickelt werden, will diese Kooperation neue Impulse setzen. Das Festspielhaus Hellerau, in den 1910er Jahren zur gleichen Zeit wie Mahlers letztes Werk entstanden, bereitete mit seinem offenen Bühnenraum und der Idee des rhythmisch ausgebildeten Menschen den Weg für interdisziplinäres Arbeiten in der deutschsprachigen Theater- und Tanzwelt. Die Strukturen dieser Experimentierbühne treffen auf diejenigen der Staatsoper und bringen sich so gegenseitig in Bewegung. Gleichzeitig werden Musiker*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters, die sonst im Opernhaus die großen Werke der Opern- und Konzertliteratur spielen, gemeinsam mit Mitgliedern des Solistenensembles auf der Bühne stehen. Gemeinsam werden so neue Darstellungsformen von Musik und Musiktheater erprobt und mit den Produktionen „Abschied“ und „Beginn“ auf die Bühnen der beiden Häuser gebracht. Im Rahmen des Projektes NEUN in Zusammenarbeit von Solistenensemble Kaleidoskop mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und der Staatsoper Hannover, gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes. „Abschied“ wird gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes

18.09.2020

Arbeit! – Eine Einstellung zur Arbeit, #2 – 2020

Das Künstler*innenpaar Antje Ehmann und Harun Farocki führten von 2011 bis 2014 in fünfzehn Städten weltweit Workshops zum Thema Arbeit durch. Seit 2017 setzt Ehmann das Projekt zusammen mit Eva Stotz und Luis Feduchi fort. „Eine Einstellung zur Arbeit“ untersucht die gegenwärtigen Bedeutungen, Bedingungen und Sichtbarkeiten von Arbeit im globalen Vergleich. Dabei geht es um die Produktion von Kurzfilmen, die in Kooperation mit lokalen Filmemacher* innen und Videokünstler*innen in Workshops durchgeführt wird. Ein wichtiger Referenzpunkt ist der Filmklassiker der Lumière-Brüder, die Ende des 19. Jahrhunderts Arbeiterinnen beim Verlassen der eigenen Lumière-Fabrik filmten. Die Suche nach diesem Motiv in den jeweiligen Workshop-Städten und die Herstellung von Remakes namens „Arbeiter verlassen ihren Arbeitsplatz“ ist Bestandteil des Projektes. Für alle Filme gilt: Es geht um Videos von maximal 2 Minuten Länge; mit bewegter oder statischer Kamera, mit Originalton oder einem Sound-Design; fast alle Optionen sind gegeben, nur darf nicht geschnitten werden. Gefilmt wird in einer Einstellung. Mit diesen Mitteln soll eine genaue Untersuchung des jeweiligen Arbeitsablaufs, seiner Choreografie und der Besonderheit der Tätigkeit möglich werden. Das so entstandene Archiv von inzwischen über 400 Filmen zum Thema Arbeit nimmt einen enzyklopädischen Charakter an, da es die vielfältigen Arbeitsrealitäten eines globalen Kapitalismus dokumentiert. Ehmann und Feduchi wollen „Eine Einstellung zur Arbeit“ in Kooperation mit Filmemacher*innen und Künstler*innen in Warschau und Berlin bis Oktober 2020 fortführen. Aufgrund der Pandemie-Bedingungen wird die Zusammenarbeit zunächst hauptsächlich digital stattfinden. Eine große Rolle wird natürlich auch die Frage spielen, wie sich die Corona-Krise auf Arbeitsverhältnisse in Warschau und Berlin niedergeschlagen hat. Am Ende des Jahres oder im Frühjahr 2021 ist eine Ausstellung in Warschau geplant, in der ausgewählte Filme, die vor und während der Krise produziert wurden, gezeigt werden. Alle Filme sind auf der Projekt-Homepage www.labour-in-a-single-shot.net zu sehen. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit des Goethe-Instituts Warschau und der Harun Farocki GbR

18.09.2020

Arbeit! – Maschinen, Energien, Geräusche, Materialien, #2 – 2020

Leonie Kusterer, künstlerische Referentin in HELLERAU, sprach mit der Choreografin Irina Pauls über ihr neues Stück „shift change. SCHICHTWECHSEL”.

Deine Choreografien „Labora“ und „shift change. SCHICHTWECHSEL“ thematisieren das Bewegungsfeld serieller Arbeitsprozesse in den Fabriken der Industrialisierung. Wie ist diese Werkgruppe entstanden?

Mich interessieren anthropologische Aspekte. Als Choreografin beobachte ich Tänzer*innen im Arbeitsprozess. So habe ich gelernt, feinste Unterschiede in ihren Bewegungsabläufen zu erkennen. Und Orte inspirieren mich zu künstlerischen Arbeiten. So war es auch mit dem Gelände der Leipziger Baumwollspinnerei „Spinne“, der größten Spinnerei Kontinentaleuropas Anfang des 20. Jahrhunderts. Maschinen, Energien, Geräusche, Materialien – es sind die Arbeitsbedingungen, denen sich der Körper unterordnen muss. Der Arbeitstakt ist es, der die Menschen in körperliche Abläufe zwingt. Er beeinflusst nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Beziehungen zueinander.

Wie hast du deine Rechercheergebnisse auf die choreografische Ebene übertragen?

Ich habe mich mit der Energieübertragung bei Transmission-Maschinen beschäftigt. Die daraus resultierende Taktung der Arbeitsbewegungen erzeugt durch ihre ständige Wiederholung im Körper eine andauernde feine Resonanz. Mit dieser Resonanz auf bestimmte Körperteile habe ich mit Tänzer*innen bis in die kleinste körperliche Verästelung gearbeitet. Zudem erzeugt die Taktung eine innere Pulsation, auf die sich der Körper einstellt. Unser Körper reagiert nicht maschinell. Kann eine Bewegung genau wiederholt werden? Natürlich nicht. Also war für uns interessant, was mit den Körpern passiert, die in langanhaltende Wiederholungen gezwungen werden und keinen Bezug zum/zur Partner*in aufnehmen.

Wie denkst du als Künstlerin über Arbeitswelten in der Zukunft nach?

Wir sollten uns fragen, wie wir unser menschliches Zusammenleben in Zukunft gestalten wollen. Mich beschäftigt, auf welches Körperwissen wir in zukünftigen Technologien zurückgreifen wollen und inwieweit uns das vom Produkt entfernt. Der Taktung sind wir nach wie vor unterworfen. Der Computer gibt uns den Arbeitstakt vor. Auch diese Arbeit wird bald museal sein. Unser Körperverständnis wird sich in diesem Prozess der Technisierung wandeln. Welche Konsequenzen hat das auf unsere Lebenswelten?

18.09.2020

Arbeit! – Zwei Bilder von Arbeit, #2 – 2020

Der Performance-Parkour „Gold & Coal“ von Daniel Kötter, Sarah Israel und Elisa Limberg beschäftigt sich mit lokalen und globalen Einflüssen des Rohstoffabbaus auf Landschaften und das Zusammenleben von Menschen. Zwei massive, weithin sichtbare Eingriffe aus verschiedenen Zeiten werden in einer Parallelmontage untersucht: Timika, die aktuell größte Kupfer- und Goldmine der Welt in West Papua/Indonesien, sowie das stillgelegte Braunkohle-Tagebaugebiet rund um Leipzig. Gemeinsam mit dem Experimentalmusiker Ikbal Lubys, dem Performer Darlane Litaay, der Aktivistin Agustina Helena Kobogau, der bildenden Künstlerin Anna Zett und dem Choreografen und Tänzer Hermann Heisig begeben sich die Zuschauer*innen auf eine immersive Reise durch vergangene und gegenwärtige Energie-Landschaften. Der Künstler Daniel Kötter berichtet von zwei prägenden Begegnungen im Rechercheprozess

Timika

Zwei Tage hatten wir mit Mangun in den Tailings verbracht, ihm und seinen Kollegen beim Goldwaschen zugesehen und abends seinen Geschichten zugehört. Zwei Tage hatten wir gemeinsam mit dem lokalen Dokumentarfilmer Yonri Revolt und unserer 360°-Kamera die Abraum-Landschaft dokumentiert – einen 6 km breiten und 60 km langen Streifen, der die weltgrößte Kupfer- und Goldmine am Nemangkawi Gipfel (4884 m, kolonialer Name: Carstensz-Pyramide) mit dem Regenwald rund um die Bergarbeiterstadt Timika und den Mangrovenwäldern an der Südküste Papuas, Indonesien, verbindet. Im grau-opaken, quecksilberhaltigen Abraumschlamm wächst buchstäblich kein Gras mehr, aber der goldene Schimmer auf den Sandbänken verweist auf das eigentliche Ziel der Träume der Goldwäscher, die sich in temporären Camps hier niedergelassen haben. Hier gibt es weder Elektrizität noch Trinkwasser oder Schutz gegen Dauerregen und Mücken – man arbeitet für ein Versprechen in die Zukunft. Mangun hatte angeboten, voranzugehen und uns den sichersten Fußweg durch die Flussbetten zurück nach Timika zu zeigen. Denn nicht die Chemikalien im Wasser bilden hier die reale Gefahr, sondern die tödlichen Strömungen des Flusses. Mangun wollte nach zwei Wochen im Goldwäscher-Camp mal wieder seine Familie besuchen. Mit ihr war er, wie viele seiner Kollegen, vor 10 Jahren aus anderen Teilen Indonesiens nach Timika gezogen, um als illegaler Goldwäscher seine Zukunft zu vergolden. Nach zwei Stunden Fußweg durch die Tailings, zurück auf der Straße, steigen wir in das erste materialisierte Symbol der Zukunft: Manguns nagelneuen Kompakt-SUV, ausgekleidet mit orangefarbenem Kunstleder und 16 Lautsprecherboxen, die uns bei der Fahrt durch Timika mit Techno beschallen. Vor dem kleinen Laden des einzigen lokalen Goldhändlers halten wir an. Auf die Brief-Waage auf dem Counter legt Mangun sein kleines Plastikbeutelchen mit dem Goldstaub, Resultat von zwei Wochen Arbeit und kapitalisierbares geologisches Destillat einer zerstörten Landschaft.

Leipzig

Für einen Moment herrscht betretenes Schweigen während des Recherche-Interviews und man hört nur noch das Rauschen der nahen Autobahn A38. Wir sitzen im Bergbau-Technik Park bei Leipzig zwischen Markleeberger und Störmthaler See. Von den Fahrerhäuschen der hier ausgestellten Braunkohlebagger könnte man die Segelboote auf dem sulfathaltigen Wasser in den Landschaftslöchern des ehemaligen Tagebaus Espenhain sehen. Mehrere Wochen waren wir mit 360°-Kamera und Mikrofon in den idyllischen Bergbau-Nachfolge-Landschaften unterwegs. Die weiße Wasserdampf-Fahne des Braunkohle-Kraftwerks Lippendorf war dabei unser ständiger Begleiter. Und jetzt sitzen wir peinlich berührt zwischen den ausrangierten rostenden Zeugen einer verschwindenden Industrie einem älteren Mann gegenüber und schweigen. Wolf-Dietrich Chmieleski, ehemaliger Bergmann und heute Touristenführer des Vereins Bergbau-Technik-Park e.V., wischt sich eine Träne von der Wange und entschuldigt sich, bevor er weiterspricht. Eine Stunde lang hatte er uns mit fester Stimme große Zahlen an den Kopf geworfen, unter denen wir uns nicht so recht etwas vorstellen konnten: Kubikmeter Abraum, Kubikmeter Kohle, Quadratkilometer und Tonnenlasten, Alternativlosigkeit im Energiesektor der DDR. Dann kam er auf jenen Moment zu sprechen, den er bei jeder Führung durch den Technikpark wieder erzählt und erlebt: die Sprengung der Abraum-Förderbrücke des Tagebaus Espenhain am 7. Mai 1997 – die symbolische Demontage einer historischen Arbeit, nun entsorgt auf der Deponie der Geschichte. Chmieleski stand da mit seinen Bergbau-Kumpels, nur wenige Jahre nach dem staatlichen Systembruch, und erlebte also den Bruch im System seiner beruflichen und individuellen Identität. Und 22 Jahre später, in dem wiederkehrenden Moment der Erinnerung, läuft Wolf-Dietrich Chmieleski noch diese Träne über die Wange, Resultat einer gesellschaftlichen Abwertung von Arbeit und Destillat einer individuellen, nie offiziell sanktionierten Trauerarbeit in vermeintlich blühenden Landschaften.

18.09.2020

Arbeit! – Neue Horizonte für historische Stoffe, #2 – 2020

Neue Horizonte für historische Stoffe

Die Bildungswissenschaftlerin Eva Renvert im Gespräch mit dem Theaterkollektiv andcompany&Co. über ihr aktuelles Stück „Neue Horizonte: Eternity für alle!“ Ihr beschäftigt euch mit der „Horizonte“-Inszenierung, einem Stück, das DDR-Theatergeschichte geschrieben hat und das in Verbindung mit Themen wie Arbeitertheater oder Kybernetik steht. Wie ist die Idee entstanden und was interessiert euch an dem Stoff? Am Anfang stand das Interesse für Kybernetik. Von der stolzen neuen Leitwissenschaft ist heute begrifflich fast nur die Bezeichnung der „Cyberattacke“ geblieben. Doch es gibt gute Gründe, sich mit der Geschichte der Kybernetik zu beschäftigen: Die Kybernetik war ein Vorläufer der heutigen Netzwerk- und Systemtheorien Insofern ist sie gewissermaßen von Anfang an in das Web 2.0 eingegangen. Es geht um die Verbindung von Kommunikation und Kontrolle. Heiner Müller hat das auf verblüffende Weise vorhergesehen: „Jeder sein eigner Spitzel!“ Das Stück gibt es in zwei Bearbeitungen: von Gerhard Winterlich, der es für das Arbeitertheater des Petrolchemischen Werkes 1968 in Schwedt schrieb, und von Benno Besson und Heiner Müller, die es 1969 für die Volksbühne Berlin adaptierten. Wie geht ihr mit diesen zwei Vorlagen um? Müller hat hier ausnahmsweise mal so gearbeitet wie wir immer arbeiten – als „embedded writer“ in einem Stückentwicklungskollektiv: „Alle dichten mit!“. Das Stück war zwar kein Erfolg, hatte aber durchaus Wirkung: Es prägt die Volksbühne bis heute. Es wird auch von uns zwei Fassungen geben: eine, die in Schwedt mit ehemaligen Beteiligten des Arbeitertheaters entwickelt wird, und eine spätere Version mit Schauspieler*innen. Das Stück ist ja an Shakespeares „Sommernachtstraum“ angelehnt und spielt mit mehreren Ebenen. Inwieweit fließt dieses Moment in eure Inszenierung ein? Uns interessiert es, mit ehemaligen Mitgliedern des Arbeitertheaters Schwedt zusammenzuarbeiten, die damals sich selbst als Arbeiter*innen gespielt haben. Der Autor Gerhard Winterlich war inspiriert von Georg Klaus, dem „Godfather der DDR-Kybernetik“. 1968 erschien dessen Spieltheorie, die davon ausgeht, dass alle Zuschauenden im Theater mitspielen, da sie ein „inneres Modell der Außenwelt“ besäßen. Letztendlich geht es um die aktuelle Debatte der Verschmelzung von Mensch und Maschine. Der „neue Horizont“ unserer Zeit ist eine Art „digitale Unsterblichkeit“ – in einer Gesellschaft, die von krasser Ungleichheit geprägt ist. Daher auch der Titel: „Eternity für alle!“ Das könnte in nicht allzu ferner Zukunft eine reale politische Forderung sein. Heiner Müller hat allerdings noch eine andere mögliche Entwicklung vorhergesehen – das Verschwinden des Menschen. Kurz vor seinem Tod erzählte er Alexander Kluge: „Wichtig im Universum ist nicht das organische Leben, sondern die Information, wenn sich herausstellt, dass die Computer – dass die Maschinen – die Informationen besser transportieren können als der Mensch, wenn der Mensch als Vehikel nicht mehr ausreicht, dann muss der Computerforscher oder Spezialist beitragen zur Vernichtung der Menschheit, damit die Computer den Transport der Informationen übernehmen.“ Werdet ihr in dieser Inszenierung wieder dokumentarisch arbeiten und wie geht ihr vor? Wir haben zunächst Interviews – zeitgemäß via Zoom – mit den damaligen Beteiligten als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte geführt. Diese digitale Interview-Form passte gut zum Thema, da es laut Müller um die „Einführung der Kybernetik in soziale Beziehungen“ geht. Uns interessieren dabei v.a. die Theorien von Georg Klaus, der als „perfekte Synthese aus Marx und Luhmann“ gefeiert wird. Er hatte vorgeschlagen, Knöpfe am Fernseher zu installieren, damit die Bevölkerung zur „Perfektionierung der Demokratie“ direkt abstimmen könne. Dazu ist es nie gekommen. Ein kleines Update der Demokratie – nicht nur technisch – könnte hier sicherlich auch heute nicht schaden. Inwieweit werdet ihr den Umgang mit der Geschichte der DDR thematisieren? Uns haben schon immer die Momente interessiert, in denen sich in der Geschichte ein Türchen geöffnet hat, das kurz danach bereits wieder verschlossen wurde. Der Journalist Klaus Taubert war 1970 bei der „Ostseewoche“ in Rostock Zeuge von Walter Ulbrichts Vorschlägen einer effektiveren Volkswirtschaft, inklusive Bildungsreform, technischer Innovation und umfassender Computerisierung. Tauberts Artikel wurde damals verhindert und kurz danach bekanntgegeben, dass Ulbricht die Macht an Honecker abgeben würde, der diese radikalen Pläne begrub. Welche Herausforderungen gab es in eurem Arbeitsprozess? Ein Stück zu entwickeln ohne physischen Kontakt – das passt zum Thema. Wir haben wochenlang einen immensen Aufwand betrieben, um alle Senioren*innen mit Video für Proben via Videokonferenz fit zu machen. Unsere Mitarbeiter*innen haben mit einigen stundenlang telefoniert, um aus der Ferne beim Installieren der Software zu helfen. Um die Einzelinterviews in einer höheren Qualität einzufangen, haben wir via Kurier unseren Camcorder nach Schwedt geschickt. Den haben die Gesprächspartner*innen dann selbst mit Hilfe der Fernanleitung von uns aufgebaut. Das war total spannend, weil es ja auch so eine soziale Komponente hat, jetzt Menschen mit Technik und Know-how auszustatten, die ansonsten gar nicht teilhaben würden an dieser Form von Kommunikation – ein Aufbruch zu „neuen Horizonten“.  

18.09.2020

In jedem Moment alles sichtbar machen – Musiktheater „Schlachthof 5“ nach dem Roman von Kurt Vonnegut, #2 – 2020

Wir erinnern uns – permanent. Manchmal sind es gute Erinnerungen, manchmal schlechte, manche Erinnerungen verblassen, andere schienen längst vergessen und sind plötzlich wieder da. Wir tragen alle Persönlichkeiten, die wir einmal waren und vielleicht auch im Alter sein werden, bereits in uns. „Alle Augenblicke – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – waren immer vorhanden, werden immer vorhanden sein“, heißt es in Kurt Vonneguts Roman „Schlachthof 5“. Er hat in seinem Text für dieses Phänomen des Erinnerns unterschiedlicher Phasen eines Lebens eine kongeniale Übersetzung gefunden. Es sind nicht irgendwelche Erinnerungen, die Vonnegut verarbeitet, sondern Erinnerungen an eines der schrecklichsten Kapitel des 20. Jahrhunderts. Vonnegut erlebte als junger amerikanischer Soldat in deutscher Gefangenschaft die Bombardierung von Dresden. Er erzählt über das Grauen des Krieges und macht zugleich das Erinnern selbst zum Thema. Sein Roman ist Collage, Satire, Biografie, Science Fiction und alles zugleich: Fragmentarisch-ausschnitthaft wandert die Romanerzählung durch unterschiedliche Zeitebenen und lässt persönliche Erfahrung und Erlebtes mit Fiktion zusammenlaufen. Das Team um den russischen Theaterregisseur Maxim Didenko hat eine neue Bühnenfassung von „Schlachthof 5“ entwickelt, die im September in HELLERAU uraufgeführt wird. Johannes Kirsten, Dramaturg und Autor des Librettos der musikalischen Bühnenfassung sprach mit dem künstlerischen Team der Produktion.

Maxim Didenko – Regie

Als das Team von HELLERAU Kontakt mit mir aufnahm und mir anbot, ein gemeinsames Projekt zu entwickeln, habe ich begonnen, mich stärker mit der Geschichte Dresdens zu beschäftigen und Bücher mit einem Bezug zur Stadt zu lesen. Von Kurt Vonneguts „Schlachthof 5“ hatte ich schon einmal gehört, wusste aber nicht mehr, dass es eigentlich ein Buch über die Bombardierung von Dresden ist. Beim Lesen wurde mir klar, dass es um sehr viel mehr geht – um Gewalt, um die Verarbeitung eines Traumas, vor allem aber um Erinnerung. Ich mag die Idee des Buches, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im selben Moment stattfinden. Dieser Gedanke ist sehr nah an dem, wie ich die Realität wahrnehme. Ich empfinde es als eine wunderbare Herausforderung, einen Weg zu suchen, wie man durch Theatermittel die Gleichzeitigkeit der Zeiten erzählen oder erfahrbar machen kann – dass unsere Geburt, unsere Kindheit und unser Tod im selben Moment stattfinden und eigentlich Vergangenheit und Zukunft nicht wirklich existieren, sondern wir nur das Hier und Jetzt haben, in dem alles enthalten ist. „Schlachthof 5“ ist 75 Jahre nach dem Ende des Krieges der beste Stoff für ein Projekt in Dresden. Der Zweite Weltkrieg ist ein Thema, das alle Nationen Europas miteinander verbindet – in meinem Fall Russland und Deutschland. Ich hatte dann noch die Idee, mit dem Amerikaner AJ Weissbard als Bühnenbildner zu arbeiten und so drei Nationen des Zweiten Weltkrieges in dem Projekt miteinander zu verbinden. Wie wir den Stoff jetzt umsetzen, hat seinen Ausgangspunkt in meinen Wurzeln in HELLERAU. Ich war hier Performer bei der Gruppe DEREVO. Das prägt mich bis heute. Mein Theater ist ein sehr physisches Theater. Weil wir „Schlachthof 5“ als freies Projekt von Anfang an so entwickelt haben, wie wir es wollten, haben wir nicht Schauspieler* innen, sondern Sänger*innen und Tänzer*innen für die Umsetzung engagiert. Wenn ich in Russland arbeite, muss ich normalerweise mit Theaterschauspieler*innen arbeiten, die nicht wirklich gute Tänzer*innen sind. Die Idee, „Schlachthof 5“ als eine Mischung aus Musik, Tanz und Theater zu realisieren, entstand auch aus dem Kontext des Aufführungsortes, dem Festspielhaus und seiner Geschichte. Hier spielen Tanz und zeitgenössische Musik eine große Rolle. Das ist vielleicht nicht der leichteste Weg, die Geschichte des Buches zu erzählen, aber diese Schwierigkeit inspiriert mich mehr, als dass es mich abschreckt. Wegen der Corona-Situation haben wir, um mit den Abstandsregeln umgehen zu können, das Raumkonzept noch einmal komplett geändert. Es wurde also im Vorbereitungsprozess immer komplizierter und ich merkte, dass mich das umso mehr gereizt hat.

Vladimir Rannev – Komposition

„Schlachthof 5“ ist der Roman eines amerikanischen Autors über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg, über die Bombardierung von Dresden, die er miterlebte und über die Schwierigkeit zu erinnern. Wir setzen den Stoff jetzt als russisch-amerikanisch-deutsches Team um. Letztlich aber sind die Nationalitäten damals und heute nicht wichtig. Die wahren Grenzen zwischen den Kriegsfeind*innen in beiden Weltkriegen und zahlreichen nachfolgenden lokalen Kriegen lagen nicht zwischen Völkern, sondern zwischen Verbrecherregierungen, deren egoistische Interessen Blut forderten, und Menschen, die diese Verbrecher*innen regieren ließen mit der Konsequenz, Blut für ihre Interessen zu vergießen. Die einen hatten gut gelernt, wie die anderen zu manipulieren sind und wie Hass beiläufig und gleichgültig wie Waffen produziert werden kann. Vonneguts Roman ist wichtig, weil er den kriminellen Charakter des Krieges als Tätigkeit von Verbrecherregierungen aufdeckt – egal, ob deutsch, amerikanisch oder russisch. Leider hat das an Aktualität nicht verloren. Wie lässt sich so ein Stoff in Musik übersetzen? In dieser für ein Vokalensemble komponierten Oper gibt es keine heroischen Chöre und aufregenden Arien. Es ist vielmehr eine konzentrierte, introvertierte Erzählung, ein Monolog, der zwischen den acht Stimmen des Ensembles kontrapunktiert wird. Der musikalische Leiter der Produktion, Olaf Katzer, verglich einmal die Methode der Darstellung eines verbalen Textes in dieser Partitur mit der von Heinrich Schütz. Stilistisch geht es natürlich um völlig andere Dinge, aber ich habe für mich selbst unerwartet bemerkt, dass Olaf in Bezug auf die Vertonungsstruktur des Textes Recht hat. Auch wenn der Roman sehr durch Zeit und Raum springt, bemühe ich mich um eine durchlaufende Musikentwicklung. Es gibt keine Epochenporträts oder Handlungsorte, denn für Billy Pilgrim, den Helden des Romans, ist der Krieg kein Abenteuer, sondern eine Erfahrung schmerzhafter Reflexion und Selbstbeobachtung.

AJ Weissbard – Bühne und Kostüme

Als ich in meiner Jugend „Schlachthof 5“ las, bemühte ich mich sehr darum, den roten Faden in diesem Roman zu finden. Jetzt, beim Wiederlesen in Vorbereitung für dieses Projekt, war mir die Narration überhaupt nicht mehr wichtig. Ich folgte vielmehr den Andeutungen und Assoziationen des Romans und entdeckte das Buch noch einmal vollkommen neu. Wie man eine Geschichte wahrnimmt, wird stark vom Kontext des/der Leser*in beeinflusst. Ein Gedanke, der umso wichtiger im Theater ist. Wenn wir diesen Roman jetzt für die Bühne adaptieren, dann muss unsere Interpretation für ein Publikum von heute funktionieren. Aber so wie der rote Faden des Romans unvorhersehbar springt, änderte sich auch unsere Herangehensweise an den Stoff, da unser eigener Kontext und unsere Wahrnehmung der Welt in den letzten Monaten radikal umgekrempelt wurden. Bei der ersten Annäherung an das Projekt haben wir versucht, den architektonischen Charakter des Festspielhauses mit dem fließenden Gedankenraum unseres Erzählers und seines Universums zu verbinden. Es war ein Exkurs durch traditionelle Präsentationen im Festspielhaus, der jedoch den Rahmen sprengte. Ein späterer Ansatz führte zu einer klassischeren und bescheideneren Interpretation. Dann kam die Corona-Tragödie dazwischen. Die Herausforderung der COVID-19- Pandemie hat das Leben auf der ganzen Welt und in jeder Branche erschüttert. In der Kunst stellen wir uns auf neue Herausforderungen ein, was die Zusammenarbeit und die Realisierung von Projekten, die Begegnung mit dem Publikum und viele weitere Herausforderungen angeht. Diese einzigartige Situation hat uns veranlasst, das Konzept für „Schlachthof 5“ in HELLERAU zu überdenken, um die Sicherheit von Publikum und Darsteller*innen zu gewährleisten und dennoch ein künstlerisches Arbeiten zu ermöglichen. In unserer Interpretation von „Schlachthof 5“ wird in jedem Moment alles sichtbar sein; es wird eine Theaterinstallation sein, die Zuschauer*innen und Performer*innen in einem gemeinsamen Raum versammelt. Die Zuschauer* innen gestalten ihre persönliche Reise durch den Stoff, indem sie ihren eigenen Schwerpunkt wählen und ihre eigenen Erfahrungen kuratieren. Die Unmöglichkeit, ein vollständiges Bild vermittelt zu bekommen, korrespondiert mit den momentan vorherrschenden Fragen: Was ist sicher, was ist mit uns geschehen und was kann die Zukunft bringen?

Olaf Katzer – Musikalische Leitung

Seit 2005 bin ich in Dresden und wohne in derselben Straße, in der vor dem Krieg auch meine Urgroßeltern gelebt haben, bis sie in einen Vorort umgezogen sind. In Dresden ist es unmöglich, die Bedeutung des 13. Februar 1945 für die Stadt nicht wahrzunehmen. Zwei unterschiedliche Momente blieben mir nachhaltig im Gedächtnis. Einmal ein großer Neonaziaufmarsch vor ein paar Jahren. Die menschenleere Stadt und das große Polizeiaufgebot waren gespenstisch. Positiver ist eine Erinnerung an die Gedenkveranstaltung vor zwei, drei Jahren auf dem Heidefriedhof, die ich zusammen mit dem Jungen Ensemble umrahmen durfte. Vonneguts Roman habe ich erst jetzt in Vorbereitung auf das Projekt gelesen. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie aus so einer heterogenen Erzählung ein Theaterabend werden kann. Die Mehrdimensionalität, die sich jetzt schon abzeichnet, übt eine große Faszination aus. Die Wort-Ton-Beziehung ist für mich natürlich das Spannendste, also wie die Inhalte des Romans auch mit Musik fasslich oder sinnlich erfahrbar gemacht werden können. Was bisher komponiert ist und wie Vladimir mit der Zeitstruktur umgeht, um den Gedanken des Romans der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfahrbar zu machen, gefällt mir sehr. Vladimir hat dem Parameter Tonhöhe eine eigene Substanz gegeben. Er hat die Tonhöhe ihrer westeuropäischen Funktion entrissen. Wir haben ein Tonspektrum, und die jeweilige Tonhöhe ist teilweise dem Zufall überlassen. Die rhythmische Struktur fällt sofort auf. Die Tonhöhen haben ihre Grundlage in der Erzählung und wirken äußerst suggestiv. Im besten Fall wird ein Zustand geschaffen, in dem wir die Normalität vergessen und erfahrbar wird, was der Roman mit Worten erzählt. Die größte Herausforderung für uns als AuditivVokal ist das Eintauchen in Vladimirs Kosmos und seinem Verlangen zu folgen, sich trotz der packenden Rhythmen ganz dem natürlichen Singen hinzugeben.

08.09.2020

Trauma mit Sprüngen – Wie aus „Schlachthof 5“ ein Musiktheater wurde – Johannes Kirsten

Kurt Vonneguts Roman Schlachthof 5, in dem er die schweren Bombenangriffe vom 13. und 14. Februar 1945 literarisch verarbeitet, ist Collage, Satire, Biografie, Science Fiction und alles zugleich: fragmentarisch-ausschnitthaft wandert die Romanerzählung durch unterschiedliche Zeitebenen und lässt persönliche Erfahrung und Erlebtes mit Fiktion zusammenlaufen. Das Fragmentarische und Heterogene des Romans macht auf der einen Seite seine Faszination aus und erschwert auf der anderen Seite die Adaption für die Bühne. In einem ersten Schritt entstand ein Szenario, eine Art Fahrplan oder Schneise durch den Roman. Übrig blieben 16 Szenen geordnet nach Situationen bzw. Orten und Zeiten. In einem zweiten Schritt wurden dann diese Szenen mit Texten aus dem Roman gefüllt. Es musste erst einmal als Gesamterzählung in dieser durch den Roman geschlagenen Schneise funktionieren, ehe in einem dritten Schritt mit der Verdichtung des Textes begonnen werden konnte. Die erste Fassung des Librettos war noch viel zu lang. Was für eine Schauspieladaption eine normale Länge sein kann, ist fürs Musiktheater noch immer zu lang. Die Musik hat eigene Gesetze und stellt ganz bestimmte Anforderungen an den Text. In mehreren Durchgängen wurde die erste Fassung mehr und mehr gekürzt und verdichtet. Dabei gilt es trotz aller Verdichtung immer abzuwägen, wie sehr man sich bei einer Adaption für die Bühne nur vom Plot eines Romans leiten lässt oder ob Seitenstränge, atmosphärische Momente, philosophische Exkurse, die nicht direkt mit der Handlung des Romans zu tun haben, letztlich aber seine Klasse maßgeblich ausmachen, in der Adaption berücksichtig werden. Ich habe versucht, sowohl dem Plot des Romans zu folgen als auch Momente, die nicht maßgeblich für den Plot sind, aber das über allem stehende Thema »Erinnern« und wie sich traumatische Erlebnisse erinnern und erzählen lassen, transportiert. Dabei sind die Zeitsprünge, die ein wichtiges Element des Romans sind, eine große Herausforderung sowohl in der Konstruktion des Librettos als auch später für das Geschehen auf der Bühne. Alle Szenen sind in der Adaption mit Jahreszahlen und Ortsangaben versehen. In der Inszenierung wird auch Video eine Rolle spielen. Neben Bildern, die die Vorgänge auf der Bühne kommentieren oder assoziativ begleiten, wird auch eingeblendete Schrift ein Element sein, mit dem gespielt wird. Es wird am Ende also im besten Fall ein Geflecht von gesungenem Text, Worten, Sätzen und Jahresszahlen entstehen, die über Video eingeblendet werden und den Bildern und Vorgängen, die mit den Tänzer*innen und Sänger*innen gebildet werden. Schlachthof 5 (UA) nach dem Roman von Kurt Vonnegut 24. – 27.09.2020 mit Maxim Didenko, Vladimir Rannev, Johannes Kirsten, AJ Weissbard, AuditivVokal Dresden (RU/DE) HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, Großer Saal

15.05.2020

Carena Schlewitt zur Covid-19-Situation in HELLERAU

Liebe Besucher*innen und Freund*innen von HELLERAU, leider konnten wir Sie in den letzten Wochen aufgrund der Veranstaltungsabsagen und Schließung unserer Veranstaltungsräume nicht in HELLERAU empfangen und uns auch nicht wie sonst vor und nach den Veranstaltungen, in Workshops und Gesprächen, austauschen. Wir – das Team von HELLERAU, aber vor allem auch die Künstlerinnen und Künstler – vermissen diese direkte Begegnung und den Austausch mit Ihnen sehr. Ich möchte Sie an dieser Stelle ein wenig mitnehmen und berichten, was in den letzten Wochen bei uns passiert ist und wie wir die Situation für die Zukunft für Kunst und Kultur einschätzen. Wie nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche hat auch der künstlerische und kreative Sektor sehr stark mit den Coronamaßnahmen zu kämpfen. Über die erste Phase – Schließung der Häuser, Absage von Veranstaltungen, Verschiebung von Projekten, Entwicklung von verschiedenen Szenarien der weiteren Zusammenarbeit mit den Künstler*innen, Gruppen und Partnern – wurde bereits viel berichtet. Trotz Absage der Veranstaltungen haben wir in HELLERAU – das Team, die Künstler*innen, die Partner – aktiv in der Auseinandersetzung mit den Folgen der Pandemie gearbeitet und sind jetzt mit Szenarien für die Zukunft gefragt. Aus der Perspektive eines Hauses wie HELLERAU sind Maßnahmen zur Unterstützung und Aufrechterhaltung der künstlerischen Arbeit der freischaffenden Künstler*innen und Gruppen, aber auch aller im kreativen Sektor freiberuflich Tätigen von absolut wichtiger Bedeutung. In diesem Sinne begrüßen wir ausdrücklich die staatlichen, föderalen und kommunalen Hilfs- und Fördermaßnahmen und deren notwendige Erweiterung! Es handelt sich hier um einen großen Bereich des kulturell-gesellschaftlichen Lebens, der im „Normalfall“ als selbstverständlich erscheint, von vielen Bürger*innen gern genutzt wird und in Zukunft von sehr vielen vermisst werden wird, wenn genau dieser Bereich nicht erhalten bleibt. Vom Club bis zum Opernhaus, vom Kabarett bis zum zeitgenössischen Tanz, vom Theater bis zum Kino, von Ausstellungen bis zum Konzert und vieles mehr – eine Kulturlandschaft hat nur dann Anspruch auf diesen Titel, wenn sie nicht durchlöchert ist. Es geht hier um die kulturellen Bedürfnisse einer ganzen Gesellschaft. Dresden ist mit seiner Bewerbung zur Kulturhauptstadt nicht in die nächste Runde gekommen, aber die – auch kritischen – Überlegungen, was ein Prozess zur Erlangung dieses Titels bedeutet, hat einiges in Gang gesetzt. Das sollte unbedingt inhaltlich weitergetragen werden und nicht in Vergessenheit geraten. Gerade mit Corona und mit der Ab- und Aufarbeitung der Corona-Krise bleibt doch die Frage der Zukunft unserer Gesellschaft virulent – diese Dringlichkeit zeigt sich umso stärker in der aktuellen Situation. Es bleibt wichtig, dass Dresden sein überregionales, internationales Image als Kunst- und Kulturstadt behält – in allen Formen! Auch in einer von Krisen geprägten, prekären Gegenwart muss die Zukunft eine Rolle spielen – für die Stadtgesellschaft, aber auch als touristischer Anziehungspunkt, der Dresden immer war und auch bleiben möchte. Und Dresden sollte eine Zukunftsstadt sein, alle Generationen vereinen und insbesondere den Jungen Angebote machen, hier zu bleiben und die Stadt als ihre Zukunftsstadt zu begreifen. Ohne eine kräftige Beteiligung aller Kreativen wird das nicht möglich sein. HELLERAU kann hier einen Beitrag leisten – mit den freischaffenden Künstler*innen und Kreativen, mit seinen regionalen, nationalen und internationalen Partnern, mit seinem neugierigen Publikum, mit seinem engagierten Team und mit dem Ziel, einen Beitrag für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu leisten. Zu dem gesamtgesellschaftlichen Rahmen, der konkreten Corona-Situation, zur Frage nach der Zukunft, der Bedeutung einer diversen und vielseitigen Kulturlandschaft gehören momentan für uns auch die ganz konkreten Aufgaben und Arbeiten. Zum einen entwickeln wir im ständigen Austausch mit den Künstler*innen mehrere Szenarien, wie und wann wir die abgesagten Projekte nachholen können – immer entlang der alle 14 Tage aktualisierten Vorgaben, wann wir eventuell wieder starten könnten. Dieser Prozess ist zeitintensiv und aufreibend. Dazu gehören auch die Fragen, ob und wie die ursprünglich entwickelte künstlerische Form unter den neuen Bedingungen adaptiert werden muss und kann, wie weit wir große internationale Produktionen ins nächste Jahr verschieben müssen, wie wir Fragestellungen von Themenschwerpunkten und Festivals, die in dieser Dichte zur Zeit nicht stattfinden können, dennoch beibehalten können. Auch wir präsentieren, wie so viele andere Kultur- und Kunstinstitutionen, auf unserer Webseite aktuell künstlerische Arbeiten, die sowohl das vergangene Programm rekapitulieren als auch neue Arbeiten und Hintergrundmaterial zur künstlerischen Arbeit präsentieren. Ein großer Dank gilt den Künstler*innen für die Bereitstellung ihres Materials! Wichtig ist uns die Sammlung von einigen Maßnahmen zur Unterstützung der Menschen, die besonders auf Hilfe angewiesen sind. Hier können sich auch einzelne Menschen für andere engagieren. Im Rahmen des Bündnisses der Internationalen Produktionshäuser werden Stimmen von Künstler*innen weltweit zu ihrer Arbeitssituation gesammelt – ein Blick auf diese „VOICES“ lohnt sich! Unabhängig von der derzeitigen Situation und der permanenten Unruhe, darauf künstlerisch und praktisch zu reagieren, möchte ich darauf verweisen, dass wir – wie immer – auch intensiv in die Zukunft arbeiten, Projekte entwickeln, die nächste Spielzeit nochmal neu planen. Projekte wie unser EU-Projekt „Moving Borders“ oder auch TANZPAKT Dresden werden weiterentwickelt, Koproduktionen, Themenschwerpunkte, digitale Formate spielen eine Rolle. Das heißt, hinter den Kulissen arbeiten wir weiter an der künstlerischen Vielfalt, die Sie in den letzten Monaten in HELLERAU erleben konnten und wir hoffen sehr auf den ersten Wiedereinstig ins Programm. Die Öffnung der Theater ist mit der jetzigen neuen sächsischen Verordnung möglich und ich kann Ihnen versichern, dass wir mit Hochdruck daran arbeiten, mit einem kleinen Programm noch vor dem Sommer wieder präsent zu sein. Da wir zur Umsetzung dieses Programms von mehreren Bedingungen abhängig sind, kann ich momentan leider noch kein Datum nennen. Meine Hoffnung ist, dass wir in den nächsten Tagen mehr wissen und dann auch konkret werden können – wir stehen in den Startlöchern!