03.02.2021

Stadt. Raum. Fluss. Zeitgenössische Perspektiven zur Stadt, #1 – 2021

Im Flächenvergleich bundesdeutscher Großstädte liegt Dresden mit 328,28 km2 nach Berlin, Hamburg und Köln an 4. Stelle. Zum 31.12.2019 stand Dresden mit 563.011 Einwohner:innen im Vergleich bundesdeutscher Großstädte an 12. Stelle. Welche Position wird die Stadt Dresden in diesem Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zwischen Tradition und Innovation, zwischen Regionalität und Internationalität, zwischen Kunst und Hochtechnologie einnehmen? Welches soziale und Gemeinschaftsleben kann sich in Dresden sowohl für die Bewohner:innen als auch die Besucher:innen und temporären Gäste etablieren? Und welches Verhältnis entwickelt die Landeshauptstadt Sachsens zu ihren Nachbarn im ländlichen und regionalen Raum, aber auch in Polen und in der Tschechischen Republik sowie weit darüber hinaus international? Der Schwerpunkt „Stadt.Raum.Fluss.“ markiert den Beginn einer künstlerischen Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen des Stadtraumes Dresden und seiner Umgebung. HELLERAU, selber an der Peripherie zwischen Stadt und Land und in der ersten deutschen Gartenstadt gelegen, widmet sich mit zeitgenössischen interdisziplinären Projekten der Beschäftigung mit urbanen und öffentlichen Lebensräumen. Dabei spielt sowohl der historische Bezug zu den Plattenbauten und Neubausiedlungen der DDR eine Rolle wie auch gegenwärtige Auseinandersetzungen um bezahlbaren Wohnraum und existentielle Ängste um den Erhalt von privaten und öffentlichen Lebensräumen. Dresden hat mit der Elbe und den Elbufern an beiden Seiten den unschätzbaren Wert eines großen öffentlichen Raumes, zugänglich für alle Menschen der Stadt. An diesem Ort realisiert HELLERAU das europäische Projekt „Moving Borders – Arche des unterschätzten Wissens“ und lädt Bewohner:innen und Besucher:innen gleichermaßen zu Kunst und Begegnungen ein. Teilnehmer:innen von Stadt.Raum.Fluss. Maximilian Hanisch/Sarah Methner (DE) mit „Plattenbauten – Inseln der Gegenwart“, Prodromos Tsinikoris (GR) mit „Ein Kirschgarten”; Xiao Ke & Zi Han (CN) mit „Republic of Dance“ sowie Margarete Kiss/Leon Lechner (DE) und Kieron Jina (RZ) mit installativen Formaten Teilnehmer:innen von ARK Dresden: Arche für unterschätztes Wissen Quarantine (GB) und Katja Heiser/missingdots und Mustafa Hasan (Safy) u.v.a.

Plattenbauten – Inseln der Gegenwart

Kann eine häufig als hässlich diskreditierte Art zu Bauen eine Art ästhetisches Bindeglied zwischen Erfahrungen an verschiedenen Orten der Welt sein und Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt zusammenbringen? Sarah Methner und Maximilian Hanisch wurden beide kurz vor der Wende in Ost-Berlin bzw. Dresden geboren. Für ihre Generation ist die DDR auf der einen Seite eine ferne Erzählung von Eltern und Verwandten und auf der anderen Seite ein untrennbarer Bestandteil von allem, mit dem sie aufgewachsen sind. So untrennbar, dass den beiden erst vor einigen Jahren wirklich bewusst wurde, dass sie eine Theaterarbeit über diese seltsame ostdeutsche Identität realisieren wollen. Aus dem gemeinsamen Interesse für Architektur und dem Wunsch einer thematischen Engführung entwickelte sich die Idee, etwas scheinbar genuin Ostdeutsches zum Zentrum der Inszenierung zu machen: den Plattenbau. In der DDR lebte jede:r Vierte im Plattenbau. Und wer nicht dort lebte, kannte jemanden aus der Platte. Für die einen stehen sie heute für Tristesse und sozialen Abstieg. Die anderen verteidigen sie und damit auch ihre Biografien und Erinnerungen. Insbesondere, da sich der Bruch der Wendezeit und die Abwertung ostdeutscher Leistungen auch in der Rezeption der Wohnungen zeigt. Plattenbauten waren zu DDR-Zeiten begehrt und hatten einen positiv klingenden Namen: Neubaugebiete. Wegen der guten Infrastruktur galten sie als Ausweis sozialistischer Leistungskraft und repräsentierten Fortschritt und Modernität. Die Idealstädte der Großtafelbauweise hatten auch eine starke Symbolkraft: So wie die Gebäude am Reißbrett geplant werden konnten, sollte auch das sozialistische Miteinander in allen Lebensbereichen realisiert werden. Plattenbausiedlungen sind wegen der Einfachheit des modularen Bauens extrem verbreitet. Es gibt sie auf der ganzen Welt von Moskau über Paris nach Kopenhagen. Und auch an Orten, an denen man sie aus europäischer Perspektive nicht erwarten würde, zum Beispiel in Mexiko oder Vietnam. An all diesen Orten haben Menschen sich an die Gebäude angepasst, sie umgenutzt und sich angeeignet. Und selbst wenn nur wenige Siedlungen eine direkte architektonische Verbindung zur ehemaligen DDR haben und auch nicht alle modular gebaut wurden, löste die äußerliche Ähnlichkeit der Gebäude bei Methner und Hanisch jedes Mal eine Verbindung zum Osten aus. Könnte die Austauschbarkeit und Ähnlichkeit der Plattenbauten eine Chance sein, eine ostdeutsche Idee von Heimat und Identität nachhaltig neu zu denken? Könnte der Plattenbau ein Tor zur Welt sein, in der es möglich ist, Geschichte als etwas Gemeinsames zu begreifen? Denn die Platten sehen sich ähnlich, aber mit jeder Wohnung sind andere und einzigartige Biografien verbunden. Auch die Symbolik von Plattenbauten ist nicht universell. Der Blick auf sie ist geprägt von verschiedenen Faktoren wie z.B. der Wirtschaftsleistung des jeweiligen Landes, der jeweiligen Narrative von Regierungen, privaten Akteur:innen, Bewohner:innen und Architekt: innen, der Lage der Siedlungen und ihrer äußeren Beschaffenheit: Marzahn-Hellersdorf, Europas einst größten Plattenbaugebiet liegt in Sarah Methners Heimatstadt Berlin. Vor 40 Jahren sollte hier der Traum von der Gleichheit aller Menschen mithilfe von sozialistischer Stadtplanung verwirklicht werden. Ab 1977 wurden hier 60.000 Wohnungen errichtet und dankbar von der Ostberliner Bevölkerung angenommen. Seit der Wende leidet das Image des Bezirks. Nach wie vor schafft es Marzahn nicht, auch Besserverdienende, Kulturschaffende oder Akademiker:innen anzuziehen. Sie bevorzugen die Altbauten im Zentrum oder Einfamilienhäuser am Stadtrand. Obwohl sich die Form und Bauweise der Gebäude gleicht, werden Plattenbauten in Städten wie Shanghai und Hong Kong, in denen Max Hanisch längere Zeit lebte, völlig anders wahrgenommen. Sie befinden sich auch nicht am Stadtrand wie die Stadtteile Gorbitz und Prohlis in Max’ Heimatstadt Dresden, sondern direkt in den Zentren. Die Gebäude passen in die Erzählung des sozialen Aufstiegs der chinesischen Bevölkerung, der von einer großen Migrationsbewegung vom Land in die Stadt geprägt ist. Plattenbauten stehen im Vergleich zu den Häusern auf dem Land für eine bessere Infrastruktur und Fortschritt – wie einst in der DDR. Einen vorbereitenden Teil der Theaterarbeit haben Methner und Hanisch durch ihre Recherchereisen und den Kontakt mit Theaterhäusern in verschiedenen Ländern weltweit geleistet. Im Austausch mit Interviewpartner:innen waren beide immer wieder erstaunt über eine Art produktive Irritation – egal ob sie mit Menschen aus Moskau, Hong Kong oder Basel sprachen: Sie hörten jedes Mal bekannte Geschichten, die ihnen gleichzeitig fremd waren. Der Plattenbau wurde zum Kristallisationspunkt. für Weltpolitik, Familiengeschichte und das alltägliche Drama des Wohnens. Die Gesprächspartner:innen waren wiederum positiv irritiert, wenn Methner und Hanisch erzählten, was sie an dem Thema bewegt.

Ein Kirschgarten (AT) Von Martin Valdés-Stauber

Bei Tschechow passiert zwar nichts, aber es geschieht alles. Von Anfang an erscheint das Ende des Kirschgartens und der soziale Abstieg der Protagonist:innen zwangsläufig. Auswege werden abgetan. Was aber passiert tatsächlich mit der Familie Ranjewskaja, wenn das Stück zu Ende ist? Der Regisseur Prodromos Tsinikoris spürt den Schicksalen von Liouba, Anja, Warja und Gajew nach und dokumentiert nicht nur deren Verlust, sondern vor allem, wohin dieser soziale und biografische Bruch die lieb gewonnen Figuren führt. Tschechows Kirschgarten liefert einen kurzen Ausschnitt aus ihrem Leben und zeichnet sie als bereits verurteilte Gestalten. Wer sind diese Typen jenseits von Tschechows Text? Wie entwickelt sich aus heutiger Sicht das Leben der drei Frauen Ljuba, Varia, Anja? Wie sieht die Zukunft des Kirschgartens aus? Wird er abgeholzt, um Ferienwohnungen zu bauen? Sollen diese als Rückzugsorte während einer Pandemie dienen oder als Verschnaufplätze für eine erschöpfte (zentraleuropäische) Leistungselite? Wer verbringt wie den Lockdown? Wem gehört die Stadt? Die Auseinandersetzung mit Tschechows Kirschgarten zwingt eine Diskussion um Eigentum und Kapitalismus auf. Die griechischen Künstler:innen wissen nur zu gut, was es bedeutet, seinen Kirschgarten aufzugeben: Sie alle kennen den Druck auf dem Wohnungsmarkt, verursacht durch internationale Großanleger, sich ändernde Räumungsgesetze und Privatpersonen, die sich ihren Platz im Süden sichern wollen. Gute Lage, gutes Wetter, billige Preise. Um sich steigende Mieten zu leisten, müssen viele Menschen (in Athen, aber auch andernorts im europäischen Süden) ihre Wohnung auf Airbnb anbieten – und werden dadurch selbst zu Preistreiber:innen und Gentrifizierer:innen. Die gegenwärtige Pandemie setzt diese Entwicklung nur kurzzeitig aus und setzt an ihre Stelle eine andere, krisenhafte Situation. Die Normalisierung der epidemiologischen Lage wird auf dem Wohnungsmarkt den Ausnahmezustand erneut herstellen und wieder zu Zwangsräumungen führen. Passend zum Schwerpunkt „Stadt.Raum.Fluss.“ setzt sich die neue Arbeit von Prodromos Tsinikoris, in einer Verschränkung von literarischer Auseinandersetzung und dokumentarischer Arbeit, mit dem Recht auf Stadt, den Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sowie dem Schicksal der Betroffenen auseinander.    

03.02.2021

Die Sache mit der kulturellen Aneignung, #1 – 2021

Warum verletzt uns ein blöder Spruch, obwohl es doch nur Worte sind? Warum bezeichnen sich beste Freundinnen gegenseitig als „Bitch“, ohne sich damit zu kränken? Weil damit ungewollt oder gewollt angezeigt wird, dass wir zu einer Gruppe gehören. Beleidigungen und Gemeinheiten, so seltsam das klingt, helfen uns dabei, uns mit anderen zu identifizieren und uns zugleich abzugrenzen. Auch ganze Gesellschaften und Kulturen werden über verschiedene Formen von Herabsetzung strukturiert. Die Forschung zur Invektivität widmet sich den unterschiedlichen Phänomenen der öffentlichen Herabsetzung und Kränkung, z.B. in Kunst und Theater, im Rechtssystem, im Internet oder in TV-Shows. An der TU Dresden setzt sich der Sonderforschungsbereich „Invektivität“ mit dem Thema der Herabsetzung in sozialen, politischen und kulturellen Kontexten im digitalen Zeitalter auseinander. Die Abschlusstagung nach vier Forschungsjahren findet in HELLERAU in Kombination mit einem performativen künstlerischen Programm statt. HELLERAU lädt dazu thematisch passende künstlerische Performances und Installationen von Joana Tischkau, Paul Plamper und Monster Truck ein. Für das HELLERAU-Magazin spricht Joana Tischkau, Choreografin von „Playblack“, mit dem „singenden Kulturanthropologen“ Julian Warner, über den der Spiegel schrieb, seine Musik könne der Sound der Dekolonisierung sein. Sie spielen gemeinsam online ein Quartett, das Joana im Rahmen ihrer Recherche für die Mini Playblack Show eigens entwickelt und Julian mit der Post zugeschickt hat. Joana Tischkau (JT): Ich habe meine Karten schon gemischt. Wir teilen die Karten jetzt auf. Also bei unserem Spiel gibt’s weniger Kategorien als bei einem normalen Quartett. Wir könnten uns noch was überlegen, also zum Beispiel gibt es ja die Kategorie Race1, aber wir haben die nicht hierarchisierend geordnet. Es gibt da kein Wertesystem. Julian Warner (JW): Gehen wir mal einige Beispiele durch. Warum steht bei Mariah Carey „Ähm“ als Race? JT: Dazu haben wir auch eine Szene im Stück. Mariahs Mutter war ja weiße Irin und ihr Vater war Schwarzer Afroamerikaner. Sie wurde am Anfang ihrer Karriere oft gefragt „What are you?“. Und sie musste dann immer ihre Geschichte erklären. Man wollte sie in den USA natürlich kategorisieren – musikalisch und ethnisch. Sie galt als racially ambigious und da wurde oft gefragt: Ist sie jetzt Schwarz2 oder weiß3? Ähnlich bei Rachel Dolezal4, die ja auch eine Karte im Quartett hat. In der Sendung „The Real“ wurde sie gefragt: “Why do you want to be Black?” Und sie erwidert: „Well, I think that sometimes how you feel is more powerful than how you’re born“. JW: Das ist ja das popkulturelle Versprechen, dass ich nicht als die Person sterben oder gelten muss, als die ich zur Welt gekommen bin. Ich verstehe, warum man in den USA nicht einfach hingehen kann und sagen „I can change my race like I can change my gender“, aber im Grunde genommen würde ich ihr’s doch wünschen. Oder findest Du das naiv? JT: Nein, ich fühle ja auch total mit ihrer Erzählung, z.B. dass sie auch selbst Mutter und Schwester von Schwarzen Kindern ist und Verantwortung für sie übernehmen und sich zu dem Rassismus, der im Land herrschte, als Mutter positionieren musste. Trotzdem kann man fragen, warum musst du diese Performance noch darüberlegen und auch das Kostüm anziehen? Bzw. zieh halt das Kostüm an, aber behaupte nicht, du wärst Schwarz! JW: Aber was ist die Gefahr? Ist es eine Bedrohung, dass sie sagt, es gibt so etwas wie Schwarzsein gar nicht? JT: Ja, natürlich. Die Kränkung für Schwarze Menschen ist, dass all diese Dinge, die Rachel in ihrem Buch aufzählt als Legitimierung dafür, was sie zur Schwarzen Person macht, Fiktion oder Semi-Fiktion, eine Karikatur von Schwarzsein sind. Es geht um Haare. Es geht um eine bestimmte Art der Leidensgeschichte. Z.B. setzt sie ihre Leidensgeschichte, von sehr christlichen, strengen Eltern erzogen zu sein, gleich mit dem Leiden Schwarzer Menschen durch Rassismus. Natürlich lässt sich anhand ihrer Figur ausmachen, dass es Schwarzsein nicht gibt, aber diese „Accessoires“ und die Performance, derer sie sich bedient, sind ja Realität für Schwarze Menschen, die zu diesen Dingen ein sehr emotionales Verhältnis haben. Deswegen gibt es ja die Debatte um kulturelle Aneignung. JW: Du sagst also, Aneignungen sind nicht das Problem – go for it because it’s culture! Aber ihre Behauptung, eine Schwarze Identität zu besitzen, sei das Gefährliche, weil es anderen Leuten, die tatsächlich Schwarz sind oder die nicht wählen können, was sie sind, die Mittel raubt. JT: Genau, aber wie gehst du mit der Realität der Menschen um, die sich davon nicht einfach frei machen können, so wie sie das kann? Bis dato ist man immer davon ausgegangen, dass Schwarzsein gesellschaftlich kein Bonus, kein kulturelles Kapital darstellt. Rachel Dolezal hat aufgezeigt, dass mit Schwarzsein mittlerweile positive Konnotationen einher gehen, die man auch als Realität anerkennen muss. JW: Ich würde sagen, dass Schwarzsein wahrscheinlich immer schon auch mit positiven Dingen verbunden wird. Die Geschichte der Ethnologie ist ja zum Beispiel auch die Geschichte einer Philie für das Fremde. JT: Ich möchte nochmal auf den Brückenschlag, auf diese Geste von Empathie oder universeller Menschlichkeit in einigen Beispielen zurückkommen. Das betrifft auch die Debatte um George Floyd. Das weiße Deutschland schafft es plötzlich, die Brücke zu schlagen, nachdem George Floyd umgebracht wurde und dieses Video zu sehen war. JW: Aber wie wird die Brücke geschlagen? Schwarz zu Schwarz und weiß zu weiß. Als wäre Rassismus immer nur Anti-Schwarzer Rassismus. JT: Einerseits würde man ja sagen: Danke, dass ihr endlich aufgewacht seid. Und auf der anderen Seite ist man deprimiert und schockiert, dass es das gebraucht hat. Und da ist man dann wieder bei der Frage, welche Bilder schaffen es, diese Art der Empathie und des Brückenschlags und diese Art der Solidarität herzustellen? Warum haben es all die Brandanschläge in den 1990ern auf Unterkünfte von Geflüchteten oder die antisemitischen Anschläge nicht geschafft, so eine Welle der Entrüstung, der Solidarität, des Mitfühlens auszulösen,wie es jetzt George Floyd geschafft hat? JW: Es scheint, als wäre nur der verletzliche Schwarze Körper in der Lage, diese Empathie und diese Anrufung von universeller Menschlichkeit zu bewerkstelligen. Warum  schaffen rassistische Morde in Shisha-Bars das nicht? Andererseits, wenn ich mir die Black-Lives-Matter-Proteste anschaue, denke ich, dass ich wohl noch nie so viele politisierte Schwarze Menschen in diesem Land gesehen habe. JT: Das ist fast ein Schwarzes Erwachen. Wobei ich vor diesem Effekt der Hyperidentifizierung mit Schwarzsein auch Angst habe, dass hier Identitätspolitik von vielen Schwarzen Menschen nicht richtig ernst genommen und simplifizierend gesagt wird: Nein, du darfst nur über deinen Schmerz, deine Erfahrung, deine Diskriminierung sprechen und über nichts anderes. Diese Erwartung, auch noch deine Identität mit performen zu müssen – das ist ja auch die Kritik, die an mich herangetragen wurde, mit der Frage: Warum machst du keine Kunst über deine Erfahrung als Schwarze Frau in Deutschland? Und in keiner Weise darf ich diese Erfahrung abstrahieren und sagen, ok, ich mach das auch, neben vielem anderen. JW: Wir laufen Gefahr, Mittel und Ziel anti-rassistischer Reformen miteinander zu verwechseln. Zu sagen, wir fordern das Recht ein, uns selbst zu repräsentieren, schafft Mitsprache im Diskurs. Aber dieser Essentialismus ist eine Strategie. Ich denke, die Kunstpädagogin Nora Sternfeld hat Recht, wenn sie sagt, Bewegungen sind immer dann stark, wenn sie ein Ziel für alle imaginieren. Diese unauflösliche Spannung zwischen dem Partikularen und dem Universellen zu navigieren, ist die Aufgabe unserer Zeit5. Glossar

  1. Race bezeichnet ein gesellschaftliches Konstrukt, um über das Leid und die Konsequenzen von Rassismus sprechen zu können.
  2. Schwarz/Schwarzsein ist eine Selbstbezeichnung und wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und keine „reelle Eigenschaft”, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. Schwarzsein beschreibt eine von Rassismus betroffene gesellschaftliche Position.
  3. weiß/weißsein Analog dazu beschreibt die politische und soziale Konstruktion weiß/weißsein die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus, die sonst oft unausgesprochen und unbenannt bleibt.
  4. Rachel Dolezal ist eine US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin und Bürgerrechtsaktivistin, die sich selbst entgegen ihrer tatsächlichen Herkunft als Afroamerikanerin ausgab.
  5. Julian Warner (Hg.) After Europe. Beiträge zur dekolonialen Kritik. Verbrecher Verlag (21.04.2021).
03.02.2021

Wir brauchen mehr Humus, #1 – 2021

Leonie Reineke und Moritz Lobeck im Gespräch über Krisen, Marktmechanismen und die Vision von bedingungsloser Solidarität im Musikbetrieb. Leonie Reineke (LR): Für April 2021 ist die nächste Ausgabe des Festivals TONLAGEN geplant. Wir befinden uns allerdings in einer Phase, in der massenweise Musikveranstaltungen abgesagt wurden und werden. Ist es in dieser denkwürdigen Zeit eher vertane Arbeit, oder – im Gegenteil – besonders wichtig, über das Konzept „Festival“ per se nachzudenken? Moritz Lobeck (ML): Für mich stellen sich gerade jetzt viele Fragen, allen voran: Was kann ein Festival heute überhaupt sein? Festivals gehören ja nicht zum Humus, zur dauerhaften Struktur z.B. des zeitgenössischen Musiklebens in einer Stadt. Sie sind eher eine Art Zwischenstopp; eine Wegmarke, die es uns erlaubt, das aktuelle Geschehen für einen kurzen Zeitraum in komprimierter Form zu beobachten und vielleicht Tendenzen – ob ästhetische oder kulturpolitische – auszumachen. Für mich wären da mehrere Punkte wichtig: Ich würde gerne sichtbar machen, welche Ensembles und Initiativen für zeitgenössische Musik es hier vor Ort gibt, in Dresden, in Sachsen. Bis 2009 hieß die Veranstaltung auch „Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“, diese Bezeichnung habe ich bewusst wieder aufgegriffen und als Untertitel zu „TONLAGEN“ ergänzt. Ausgehend von diesem „regionalen“ Fokus ist ein weiterer Gedanke, weniger auf Kompositionsaufträge und die Fließbandproduktion neuer Stücke zu setzen, als vielmehr Ensembles selbst in den Fokus zu rücken. Dabei interessieren mich vor allem jene Gruppen, die sich– im Sinne einer Community of Practice – aus Komponist:innen, Interpret:innen, Klangregisseur:innen, also verschiedenen Akteur:innen zusammensetzen, die gemeinsam, und trotzdem arbeitsteilig mit der gleichen Sache beschäftigt sind. Da gibt es eine Menge selbstorganisierter, sehr vitaler, neugieriger und vor allem divers aufgestellter junger Gruppen. LR: Und gerade in diesen kleinen, oft basisdemokratisch organisierten Ensembles, entsteht ja die wirklich „neue“ Musik. Denn ein Orchester kann die Proben- und Kommunikationsflexibilität gar nicht gewährleisten, die ein Stück verlangt, das etwa spezielle Spieltechniken oder ein langes Experimentieren im Vorfeld einschließt. Kleinere, freie Ensembles dagegen sind schon seit Jahrzehnten die Keimzellen, mit denen Komponist:innen ihre persönlichsten, spannendsten und wildesten Ideen verwirklichen. Orchesterstücke sind meist vorsichtiger und konventioneller; das liegt schlicht am Apparat. Insofern ist es – für die Weiterentwicklung der zeitgenössischen Musik selbst – ungeheuer wichtig, das Überleben dieser freien Ensembles möglich zu machen und ihnen Schutzräume zu bieten, so dass sie nicht vom Markt gefressen werden. Diese Schutzräume gibt es aber nicht, solange man sich nur von einem geförderten Einzelprojekt zumnächsten hangeln kann. ML: Diese Thematik würden wir gern im Rahmen eines Symposiums bei den TONLAGEN 2021 diskutieren: Wie lassen sich nachhaltige Strukturen für die freie Musikszene entwickeln? Wie können die jungen Ensembles in eine Überlebensfähigkeit kommen, ohne gleich die großen Institutionen imitieren zu müssen? Wie können die Freien in halbwegs gesicherten Strukturen arbeiten, so dass sie sich langfristig auf ihre Kunst konzentrieren können? Das müssen sehr einfache und konkrete Fragen zu gesicherten Produktionsbedingungen und Einkommen sein. LR: … zumal das ständige projektbasierte Arbeiten im schlimmsten Fall auch zu einer ästhetischen Verarmung führt – nämlich dann, wenn es nur noch darum geht, den nächsten Projektantrag möglichst attraktiv zu gestalten und die Förderer mit schicken Buzzwords zu überzeugen. Damit ginge also gleich doppelt etwas verloren: einzelne Existenzen und künstlerische Impulse generell. In diesem Kontext schaffen auch die Corona-Kurzzeithilfen keine Nachhaltigkeit. Es ist ja zu beobachten, wie die momentane Lage junge Menschen abschreckt. Viele überlegen sich einmal mehr, ob sie überhaupt Musik studieren sollen. Denn sie sehen, welchen Stellenwert der Kulturbetrieb für die Politik haben kann. Und zugrunde gehen daran natürlich am ehesten die kleinen, freien Gruppen – diejenigen, die nicht den Mainstream, sondern das Besondere, das Abseitige bilden, das es in einem reichen Kunst- und Kulturleben unbedingt braucht. ML: In dieser Hinsicht ist doch diese Corona-Krise eigentlich interessant. Denn sie legt auch eine andere Krise offen, die längst da war: Die öffentliche Förderung für freie Gruppen ist besonders im Bereich zeitgenössischer Musik schlichtweg unterfinanziert. Wie aber löst man dieses Problem? Eine Petition zu starten oder wieder einen offenen Brief an die Politiker:innen zu richten, wird vermutlich wenig bringen. Denn die haben keine langfristigen Lösungen parat. Wäre es deshalb nicht eine Idee, direkt auf die großen Institutionen zuzugehen? Mir schwebt da eine Art solidarisches Modell vor, das sich innerhalb unseres bestehenden, hoch entwickelten und subventionierten Orchestersystems installieren könnte. Zum Beispiel könnten Konzert- und Opernhäuser ihre Räumlichkeiten und Werkstätten für die Freien zur Verfügung stellen und sie mit bezahlten Konzerten in ihr Aboprogramm aufnehmen. LR: Für dieses Modell scheint es mir allerdings wichtig zu sein, flache Hierarchien einzufordern bzw. darauf zu achten, dass nicht plötzlich die Freien in der Schuld der Institutionen stehen und etliche Bedingungen erfüllen müssen. Ich denke, eine wirklich bedingungslose Solidarität zu schaffen, ist in unserem durch das kapitalistische System geprägten Denken und Handeln gar nicht leicht zu realisieren. Denn wir leben  längst in einem Bewusstsein, nach dem Künstler:innen auch Unternehmer:innen (und ihre Arbeit Waren) sind. Das macht natürlich Ideen, wie du sie gerade äußerst, zu einer großen Herausforderung. ML: Gerade deshalb wäre es wichtig klarzumachen, dass es hier nicht um ein Return-on-Investment-Denken geht, in der Richtung: „Wir unterstützen euch dabei, eure Projekte zu realisieren und erfolgreiche Unternehmer:innen zu werden, wenn ihr unsere Bedingungen erfüllt“. Die Freiheit der Kunst und der Kreativität muss gewährleistet sein. Einige vielversprechende Initiativen für freie Musikensembles an festen Häusern gibt es ja schon – etwa in der Elbphilharmonie in Hamburg, HELLERAU hat ein Doppelpass-Projekt mit dem Solistenensemble Kaleidoskop und der Staatsoper Hannover, das Konzerthaus Berlin möchte sich 2021 dezidiert der freien Szene öffnen. Das müsste aber mehr werden. Und wir sollten genauer darüber nachdenken, systematisch an Strukturen zu arbeiten, die solche Kooperationen möglich machen. In den 2000er Jahren gab es etwas ähnliches in Form des „Netzwerk Neue Musik“, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. Da haben regionale und städtische Netzwerke zusammen über mehrere Jahre an der strukturellen Stärkung der Neue-Musik-Szene gearbeitet. Für so etwas wieder Kräfte und Gelder zu mobilisieren, wäre gerade zum jetzigen Zeitpunkt eine sehr gute Maßnahme. TONLAGEN – 30. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik 15.04.–02.05.2021

03.02.2021

Mit Kompass, #1 – 2021

Seit 2017 arbeitet die Sebastian Weber Dance Company in Leipzig mit einem festen Ensemble, einer Band, einer choreografischen Assistentin, einer Produktionsleitung, einer PR-Crew. Der künstlerische Leiter der Company spricht über Mut, Strategien undleise Hoffnungen. Sebastian Weber, es gibt nicht so viele überregional tanzende Kompanien aus Sachsen, erst recht nicht mit eigenem Ensemble. Was ist wichtig daran? Am Anfang gab’s nicht so sehr die Idee, ein neues Ensemble aufzubauen. Ich wollte meine choreografischen Methoden – eigentlich den Stepptanz – neu erfinden. Aber der gemeinsame Prozess beflügelt. Wir haben alles ausprobiert. Daraus ist ein enormer Schub entstanden, das ist bis heute der Kern. Kompanie und Arbeit sind eins. Wie ein Expeditionsteam: Die Situation kann sich ändern, soll sich sogar ändern. Aber das Teamsteht. Wie stellt man eine Kompanie strategisch auf? Ich habe Wünsche und Visionen für die Kompanie, unabhängig von Ideen für einzelne Stücke. Mein lick in die Zukunft besteht aus 20 Prozent Plan und 80 Prozent Beweglichkeit. Der Trick ist, ein starkes Gefühl, einen Kompass dafür zu haben, was gut für die Kompanie ist. Dann kann sich das Wetter zwar rasant ändern, aber wir verlieren trotzdem nicht so leicht die Orientierung. Ohne Fördermittel geht es nicht. Wenn ich zum Beispiel eine dreijährige Konzeptionsförderung erhalten möchte, muss ich darstellen, was ich in den Jahren vorhabe. Die Fragen, die ich in solchen Anträgen beantworten muss, helfen mir, meine eigenen Ideen zu verstehen. Das schärft meinen Blick. Was ist die größte Herausforderung, wenn man versucht, langfristig zu arbeiten? Ich muss versuchen, mehrjährige Fördermittel zu akquirieren, um meinem Team und meinen Partnern Perspektiven bieten zu können. Und ich muss Verbündete finden. Also starke Häuser oder Festivals, die sich für uns entscheiden, regional wie international. Ich sage allen, wir suchen Partnerschaften, nicht Jobs. Wenn schon zeitgenössischer Tanz eine Nische ist, dann Stepptanz erst recht! Wie kann man dieser Nische entkommen und wohin? Stepptanz als Label ist Fluch und Segen. Manche finden es cool, dass wir da was Neues machen. Die denken sich, so wie es auch Neuen Zirkus gibt oder Nuevo Flamenco, macht der Weber halt Neuen Stepptanz. Andere haben da prinzipiell keine Lust drauf. Das ist ja auch eine Frage, wie inklusiv die Ästhetik eines Hauses, eines Festivalprogramms sein will. Wofür soll der Name Sebastian Weber Dance Company stehen? Über den Namen denke ich nicht nach. Ich habe immer das Gefühl, Anfänger zu sein. Fast Hochstapler. Wir versuchen aber schon, einen hohen Anspruch an uns zu stellen. An unsere Fitness, unsere Technik, unsere Kreativität und unsere Verpflichtung einander gegenüber. Mein Traum wäre: Die Kompanie wird so stark, dass wir keine Angst haben müssen, dass morgen alles vorbei ist. Wir haben mal unsere Wünsche aufgeschrieben: ein eigenes Proberaumzentrum. Holzboden. Eine Junior-Kompanie. Eine Japan-Tournee … Warum eigentlich nicht? Gekürzte Fassung; der vollständige Artikel erschien in der Zeitschrift tanz, November 2020.

03.02.2021

Gesichter in Hellerau, Jakob Schneider Fachkraft für Veranstaltungstechnik, #1 – 2021

In unserer Reihe „Gesichter“ stellen wir Menschen vor, die vor oder hinter den Kulissen dafür sorgen, dass im Haus alles reibungslos funktioniert und sich unsere Gäste wohlfühlen. Henriette Roth (HELLERAU) spricht mit Jakob Schneider. Seit wann arbeitest du in HELLERAU und was sind deine Aufgaben? 2016 war ich nach meinem abgebrochenen Studium auf der Suche nach Neuem. Mein damaliger Mitbewohner machte in HELLERAU die Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik und hat mich mal mitgenommen. So bin ich da reingerutscht und habe zwei Jahres als Stage Hand beim Bühnenaufbau geholfen. Das hat mir großen Spaß gemacht. Daher habe ich meine Lehre als Fachkraft für Veranstaltungstechnik begonnen und 2019 beendet. Im Rahmen der Ausbildung habe ich alle Bereiche wie Ton, Licht und Bühnentechnik kennengelernt und mich auf „Licht“ spezialisiert. Kurz vor Abschluss meiner Ausbildung wurde dann glücklicherweise die Stelle als Fachkraft für Veranstaltungstechnik in HELLERAU geschaffen, die ich bekommen habe. Wie sieht ein typischer Tag in HELLERAU aus? Natürlich sage ich erstmal „Guten Morgen“ zu allen Kollegen, wenn ich komme. Dann ziehe ich mir meine Arbeitsschuhe an und los geht’s. Der Tag wird jeweils durch die Produktion vorgegeben, die wir gerade aufbauen. Meist kommen ja die Companys mit ihren fertigen Stücken und wir haben schon vorab von den Techniker:innen der Companys den an HELLERAU angepassten Bühnenplan erhalten. Den setzen wir vor Ort um. Dafür werden die Traversen im Saal gestapelt, in die Motoren eingehangen. Dann können die Lampen platziert werden. Nach einem Funktionscheck werden die Lampen ausgerichtet und eventuell mit Farbfiltern versehen. Wenn die Company keine eigenen Lichttechniker:innen mitbringt, programmieren wir danach das Stück so, dass die Lampen an den entsprechenden Stellen wie gewünscht leuchten. Manchmal müssen wir mit dem Licht auch auf bestimmte Aktionen auf der Bühne reagieren, aber in den Einrichtungsproben ist dann ausreichend Zeit, alle Abläufe gut zu proben. Kannst du dich an eine besondere Herausforderung erinnern? Für „Ljod. Das Eis“ von Kornél Mundruczó/Proton Theatre aus Budapest, im Rahmen des Festivals „89/19 – Vorher/Nachher“ haben wir eine Drehbühne in einem Stahlgerüst aufgebaut. Das war für alle Bühnentechniker:innen eine echte Herausforderung. Aber es hat alles gut funktioniert. Was magst du besonders an HELLERAU? Das Besondere an dem Haus sind die Kolleg:innen und die Kunst. Das Team hier ist wirklich klasse. Selbst wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gibt, kann man alles in einem Gespräch schnell klären. Und durch die vielen Leute mit ihrem Know-how kommen auch bei komplizierten Fragen immer super Lösungen heraus. Und künstlerisch komme ich hier mit Themen in Berührung, die ich mir sonst vielleicht nicht angeschaut hätte,die ich aber spannend finde. Von fast jedem Stück kann ich etwas für mich mitnehmen.

03.02.2021

Watch Out! Vom Joghurtbecher zur Wäscheklammer. Über das Staunen., #1 – 2021

Ein Gespräch von Wolfram Sander (HELLERAU) mit der Choreografin Lea Moro und Bettina Weber von Konglomerat e.V. Mögt ihr euch kurz vorstellen? Lea Moro (LM): Ich arbeite im Bereich Choreografie und Tanz. Meine letzte Arbeit „Alle Augen Staunen/ All Our Eyes Believe“ ist für junges Publikum, für Kinder ab acht Jahren, und es hat mir total Spaß gemacht, das Publikum sehr gemischt zu denken und mich damit auseinanderzusetzten, wie Kinder Tanz- und Theaterstücke wahrnehmen. Was für Zuschauer:innen sind sie? Ich habe mich gefragt, wie wir die Welt mit allen unseren Sinnen konstruieren. Wir haben uns auf unterschiedliche Ökosysteme fokussiert: auf die Luft, das Land und das Wasser, mit dem Anspruch, dass es nicht die eine Erklärung oder Zuschreibung für die Dinge gibt, die ichtig oder falsch ist, sondern ganz viele. Das Spannende ist eigentlich das Entdecken und das Spielen an sich und dass dabei ganz unterschiedliche individuelle Weltanschauungen zustande kommen können – und trotzdem leben wir alle gemeinsam auf diesem Planeten. Bettina Weber (BW): Ich bin studierte Kindheitspädagogin, habe aber immer schon parallel eine offene Werkstatt mit vielen anderen Menschen gemacht und bin letztendlich hier im Konglomerat e.V. in Dresden gelandet, wo wir auf 800 m2 unterschiedliche Gewerke von Low- bis High-Tech haben. Hier kannst Du alles machen: Siebdrucken, nähen, Laser-Cutten, CNC-Fräsen, Fotos entwickeln oder Holz bearbeiten. Durch den freien Zugang zu Technologie, Werkzeugen, Maschinen und Wissen, setzen sich die Menschen wieder selbst in den Kontext zu Entstehungsprozessen. Wie entsteht eigentlich die Plastikflasche, mein T-Shirt oder ein toller Siebdruck? Diese Verschränkung von theoretischem Wissen und praktischen Handlungswissen ist hier total gegeben. Daneben beschäftigen wir uns als prototypischer Ort mit offenen Arbeitsstrukturen auch mit übergreifenden Fragestellungen, z.B. wie die Arbeit der Zukunft aussehen kann. Die Werkstätten als Tool für Stadtentwicklung. Du kannst hinausgehen. Du bist Macherin und Macher. Du kannst Deine Welt verändern. Auch wollen wir den Menschen einen Raum eröffnen, um ihre eigene Geschichte mit einem Thema oder einem Material erzählen zu können. Wir haben z.B. aus einem Joghurtbecher Kunststoff-Granulat hergestellt und daraus ein neues Produkt erzeugt: eine Wäscheklammer. Und jetzt erzählen wir nicht mehr die Geschichte vom Müll, sondern von einer Ressource und deren Transformation. Auf Materialströme bezogen, entstehen dann Fragen: Wer produziert dieses Material? Woher kommt es, wie wird es verwendet und wohin geht es dann weiter? Anstatt sich nur kleine Bruchstücke von Prozessen rauszupicken, sollten wir versuchen, die Komplexität dahinter wieder zu verstehen. Der Weg vom ersten spielerischen Suchen und Ausprobieren bis zur Finalisierung einer Bühnenarbeit und zur Premiere, die oft unter Zeitdruck entsteht, beschreibt auch einen ziemlichen Transformationsprozess. Wie stehen Entwicklung und Werk zueinander? LM: Im Tanz- und Theaterbereich ist das nicht so einfach, denn das, was kreiert wird, hat den Stellenwert von einem „Endprodukt“ und ich persönlich finde es auch spannend, zu sagen: Wir haben da was Unabgeschlossenes gestaltet. Bettina hat gerade beschrieben, wie Raum Gesellschaft verändern kann. Bezogen auf den Theaterraum heißt Komplexität für mich, wie es gelingen könnte, miteinander ins Fragenstellen zu kommen und auch in ein Sprechen und Teilen von Erfahrungen. Sonst entsteht da eine Abgestumpftheit. Wir hatten kürzlich Aufführungen mit Schulklassen in Genf. Kaum hatte es angefangen, haben die Lehrpersonen immer „Psst, Psst!“ gesagt. Die hatten Angst, dass sich ihre Schüler:innen nicht gut verhalten. Das ist eigentlich schade, weil gerade das „Mitgehen“ ja toll ist. Man ist gespannt und weiß nicht, was kommt. Wie schaffen wir es, miteinander wieder in ein Wundern, Staunen und Fragen zu kommen? Ich merke bei mir selbst, wirklich Fragen zu stellen ist gar nicht immer nur einfach. BW: Ich spreche immer von Zukunftsräumen oder sogenannten Zukunftsschutzgebieten. Es braucht wirklich reale Räume, in denen wir mit Zukunft experimentieren dürfen. Das sind besondere Schutzräume und wir merken, dass wir uns die immer mehr zurückerobern und wiederaneignen müssen. Einen Raum zu haben, in dem man Fragen stellen darf. Einen Raum zu haben, in dem man auch einfach scheitern darf. Nur so kriegen wir doch raus, was Zukunft ist und wie sie sich anfühlt. Hast du schon mal eine:n Tänzer:in mit drei Meter langen blauen Tentakeln tanzen sehen, mit deinen Füßen ein Spinnennetz in deinem Zimmer gesponnen, virtuell Viren gezählt oder etwas von Pilz-Sporen oder Orthozeras gehört? Nein, dann folge dem Instagram Account @alloureyesbelieve. Hier erwarten dich wundersame Informationen und Illustrationen, knifflige Quiz-Fragen und bisher geheime Einblicke in den Kreationsprozess.

01.02.2021

Stuck on the Platform, #1 – 2021

„Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich mein Leben in Ordnung gebracht habe, kollabiert der Kapitalismus.“ – Juliet Tauchen wir ein in die Social-Media-Müdigkeit, die Ursache unserer müden Augen. Welchen Techniken der Resignation sind wir ausgesetzt? Die glückselige Ignoranz, nachdem wir ein ganzes Ökosystem von Erzählungen durchstöbert haben, ist nicht überraschend. Der organisierte Optimismus, der in Online-Werbung und anderen Formen algorithmischer Ratschläge festgeschrieben ist, erwies sich als bloße Erzeugung von Angst. Das Leiden, die Trauer und das Elend werden von unserer eigenen Selbstzensur gefiltert. Wir sind gefangen und fühlen uns gelähmt. Was wir erhalten, ist der Zorn des Online-Anderen. Das wachsende Ungleichgewicht der digitalen Verzauberung verursacht weder Revolution noch Revolte. Willkommen in der Großen Stagnation. Wir, die Online- illiarden, stecken auf der Plattform fest. Fragen Sie sich nicht, wie es soweit kommen konnte? Das frühe Versprechen der Plattformen war simpel: Alle profitieren davon, sowohl die Produzent:innen, die Kund:innen als auch die Gründer:innen. Niemand gewinnt, niemand verliert, alle werden einbezogen und spielen mit. Die stabile Software- Plattform als Kulturideal hat die Homepage, den Blog und die Website und das dazugehörige Webdesign-Studio als Start-up-Modell aber längst abgelöst. Wir sehnen uns danach, Werte nutzbar zu machen, anstatt uns in der Unordnung des rhizomatischen Netzwerks zu verlieren. Warum ein chaotisches Angebot an verschiedenen Apps und Websites, wenn wir eine haben können, in der alle Freunde, Familie und Nachbarn als „User“ versammelt sind? Der Traum von einer einheitlichen Plattform hat den Venture-Capital-Modus des Hyper-Wachstums weiter gefestigt, mit dem Ziel einer Unicorn-Marktbeherrschung und schließlich einer Monopolstellung. Während nur sehr wenige zu Super-Reichen werden, zieht der Lotterie-Aspekt der rücksichtslosen darwinistischen Strategie immer noch viele an. Es ist hegemonial, sagt man. Die Anziehungskraft von Elon Musk ist noch nicht erlahmt. Die Prominentenbesessenheit ist so groß, dass die Pop-Kritik des Kapitalismus das Recht, Milliardär:in zu werden, nicht wirklich in Frage stellen wird. Wir alle wollen unsere eigene Plattform betreiben – ungeachtet dessen, wonach wir uns sehnen. Wenn wir einmal eingesperrt sind, ist der Weg zur Unendlichkeit versperrt. Vielmehr sind wir in einer Truman-Show-ähnlichen Wiederholung eines andauernden „Jetzt“ gefangen, wir wühlen uns durch die Unordnungen der Online-Anderen, die versuchen, ihr Bestes zu geben, und ihr Scheitern und ihre Verzweiflung zu maskieren. Franco Berardi beobachtet den psychischen Zustand der heutigen Studierenden: „Ich sehe sie von meinem Fenster aus“, schreibt er, „einsam, die Bildschirme ihrer Smartphones beobachtend, nervös in den Unterricht hetzend, traurig in die teuren Zimmer zurückkehrend, die ihre Familien für sie mieten. Ich spüre ihre Düsterkeit, ich spüre die Aggressivität, die in ihrer Depression latent vorhanden ist“. Im Zeitalter der sozialen Medien ist die Oblomow-Position, unfähig zu sein, wichtige Entscheidungen zu treffen, keine Option mehr – insbesondere für diejenigen, die es sich wirtschaftlich nicht leisten können, im Abgrund steckenzubleiben. Wir erleben die Traurigkeit eines Online-Existenzialismus – abzüglich der Absurdität. Wenn „Interpassivität“ jemals wirklich in Codes umgesetzt würde (statt nur eine weitere österreichische Idee zu sein), würden wir in einen permanenten Zustand völliger Apathie verfallen. Tatsächlich gibt es aber nichts Passives in Mensch-Maschine-Interaktionen. Im Bereich des Sozialen ist der Zen-Status der Losgelöstheit eine ontologische Unmöglichkeit. Wir sind nie wirklich auf der Lauer, wir werden immer bemerkt, und wir können daher nie wirklich den geheimnisvollen Voyeur-Status genießen. Interaktion ist unsere tragische Existenz. Und dann werden wir auch noch ständig aufgefordert, uns zu verbessern, Formulare auszufüllen und unsere Taxifahrtenzu bewerten. Der real existierende Sozialismus schien nie zu enden. Es war damals wie heute schwierig, sich ein Leben jenseits der kommunistischen Plattform vorzustellen – und in unserem Zeitalter ein Leben ohne Amazon, Facebook und Google zu führen. Wie kann das „Soziale“ so umgestaltet werden, dass es für Algorithmen, Trolle und Bots, die versuchen, unser Denken und Verhalten dauerhaft zu stören, unmöglich – ja sogar undenkbar – wird? Wir können nicht alle Zeit und Energie darauf verwenden, das Soziale neu zu erfinden, ohne die Freiheit zu berücksichtigen. Nicht die „Freiheit“, wie sie von Rechtsliberalen definiert wird, sondern die Freiheit, von der Hannah Arendt und Isaiah Berlin sprechen. Das ist nicht nur die Freiheit von süchtig machender und manipulativer Software. Können wir KI und Algorithmen so überdenken, dass sie zu Haustieren oder Spielzeugen werden, zu Werkzeugen, die für uns arbeiten – statt für große, unsichtbare, unterdrückende Systeme, die versuchen, uns zu täuschen und zu erziehen? Technologische Freiheit bedeutet die Fähigkeit, unsere Werkzeuge zu beherrschen, aber auch, sie beiseitelegen zu können, sie abzuschalten und zu vergessen. Kurz gesagt, wir sehnen uns nach Werkzeugen, die uns helfen, anstatt unser Innenleben zu kolonisieren. Wir müssen das Techno-Soziale radikal neu erfinden, hier und jetzt, in Dresden, in Europa. Geert Lovink ist Gründungsdirektor des medientheoretischen Institute of network cultures (INC) und gilt zusammen mit Pit Schultz, mit dem er für die Documenta X das Projekt „Hybrid Workspace“ initiierte, als Begründer der Netzkritik. 2019 erschien sein aktuelles Buch „Sad by Design: On Platform Nihilism“.  

01.02.2021

ARK Dresden – Arche für unterschätztes Wissen, #1 – 2021

Ein Projekt von Quarantine (GB), Katja Heiser (DE) und Mustafa Hasan (SY/DE) Im Rahmen der Kooperation Moving Borders von sieben europäischen Partnern Für das europäische Projekt „Moving Borders“ arbeiten sieben europäische Produktionshäuser, Festivals und öffentliche Einrichtungen in Porto, Athen, Straßburg, Dresden, Mülheim an der Ruhr, Warschau und Utrecht über zwei Jahre zusammen. Moving Borders ist ein Modellprojekt internationaler Zusammenarbeit: Inhaltlich-konzeptionell ist das Projekt durch die Partner:innen entstanden, programmatisch wurde die britische Performancegruppe Quarantine eingeladen, ein Konzept für alle Städte zu entwickeln, das jeweils vor Ort und miteinander im Austausch umgesetzt wird. In den sieben Partnerstädten entstehen sieben verschiedene Editionen eines Community Art Projekts – angepasst an die sehr unterschiedlichen kulturellen, demografischen und historischen Begebenheiten vor Ort und gemeinsam mit lokalen Künstler:innen, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Bürger:innen. Das Projekt untersucht das Thema „Grenzen“ und deren soziale, politische, kulturelle, ökonomische und ökologische Erscheinungsformen in unseren aktuellen europäischen Gesellschaften. In einer Zeit, in der nationalistische, fremdenfeindliche und andere diskriminierende Strömungen in Europa wieder einen gefährlichen Aufschwung erleben und die ökonomische Ungleichheit wächst, untersucht „Moving Borders“ das Phänomen von Grenzen, die uns im Alltag begegnen: als soziale und kulturelle Trennung, aber auch als bewegliche Grenzen einer immer wieder neu sich formierenden progressiven Gesellschaft.

Eine Arche für jede Stadt

Die britische Performancegruppe Quarantine, gegründet 1998, hat das künstlerische Konzept ARK entworfen. Lokale Künstler:innen laden Bürger:innen und gesellschaftliche Communities dazu ein, in einem mehrmonatigen gemeinsamen kreativen Prozess eine Arche im öffentlichen Raum entstehen zu lassen. Diese kann sehr unterschiedliche gestalterische oder auch konzeptionelle Formen annehmen. In jedem Fall wird die Arche während und nach ihrer Fertigstellung ein Ort für Begegnungen, Teilhabe, Diskurse und Performances sein und damit ein Symbol für eine Welt, die Diversität aushält, fördert und begrüßt. Für die lokale Ausarbeitung beschäftigt sich jede Partnerstadt mit Fragen wie: Wo sind Grenzen in unserer Stadt? Welcher Art sind diese Grenzen – geografisch, architektonisch, sozial, kulturell etc.? Welche Communities möchten wir einbeziehen und zusammenbringen? An welchem Ort kann die Arche stehen? Welche Themen spielen auf der Arche eine Rolle? Die Partner:innen in den verschiedenen europäischen Städten haben ganz unterschiedliche Projektideen entwickelt: In Porto entsteht eine temporäre Schule, in Athen wird in einem Arbeiter:innenviertel mit Clubs und queerer Szene ein Zirkus für nomadisches Leben entwickelt, in Utrecht bewegt sich eine mobile Arche durch alle Stadtteile u.v.m.

ARK Dresden: Eine Arche für unterschätztes Wissen

Die Arche in Dresden wird am Elbufer entstehen, einem Ort, den sich alle Dresdner:innen teilen und nutzen. Wir wollen unterschiedliche Dresdner Communities einbeziehen, z.B. mit Menschen reden, die noch in der DDR aufgewachsen sind, gelernt, gearbeitet und Familien gegründet haben und deren Wissen und Erfahrung zu großen Teilen nach der Wende nicht mehr gefragt war. Diese Erfahrung teilen auch Menschen, die erst in den letzten Jahren in Dresden angekommen sind, die ihre Heimat durch Krieg, Terror, Armut oder andere existenzielle Bedrohungen verlassen mussten und dort neben vielen Menschen und Dingen auch Kenntnisse und Erfahrungen zurückgelassen haben, die hier oft nicht zählen. Dieses Wissen und diese Erfahrungen wollen wir sammeln und sichtbar machen, damit sie nicht verloren gehen. Und vielleicht kann gerade daraus eine neue und gemeinsame Zukunftsvision entstehen? Was wollen wir in Sicherheit bringen, aus dem alten Leben mitnehmen und behalten? Was soll neu auf der Arche entstehen? Die Arche für unterschätztes Wissen soll mithilfe interessierter Bürger:innen gefüllt und im Rahmen des Festivals „Stadt.Raum.Fluss. Zeitgenössische Perspektiven zur Stadt“ vom 4. – 6. Juni 2021 eröffnet und präsentiert werden. An den Elbufern zwischen Johannstadt und Neustadt, rund um die Fähranleger der „Johanna“, entsteht ein öffentlicher Ort für Begegnung und Erfahrungsaustausch, für Workshops und Gespräche. Auf dem Fährschiff Johanna finden performative Interventionen für ein interessiertes Publikum und zufällige Fahrgäste statt. Dafür suchen wir Menschen, die ihre Erfahrungen und Kenntnisse mit uns teilen wollen, die die Arche mit Wissen füllen oder auch Lust haben, an der Arche mitzubauen. Kontaktieren Sie uns gern unter: hellerau@movingborders.org

Die Erfinder des Projektes ARK: Quarantine über Quarantine

Unser Prozess ist dialogorientiert. Wir sprechen mit Menschen und entdecken, wer sie sind und was ihre Geschichte ist, was ihre Überzeugungen sind, wie sie die Welt sehen … Wir versuchen, dort zu arbeiten, wo Raum für die Koexistenz unterschiedlicher Erfahrungen, Fähigkeiten, Intelligenzen und Ausdrucksformen besteht. Wir sind davon überzeugt, dass wir, um einen echten sozialen Fortschritt zu erzielen, neue Wege finden müssen, um unsere Vorstellungen von Demokratie neu zu gestalten, davon, wer sprechen und Entscheidungen treffen darf und wie Menschen mit entgegengesetzten Erfahrungen und Überzeugungen zusammengebracht werden können. Die Arbeit von Quarantine hat von Anfang an versucht, Menschen zusammenzubringen, die sich normalerweise nicht treffen, Unterschiede und Verbindungen anzuerkennen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sich vorzustellen, wie wir zusammenleben könnten, wie wir vorwärts gehen könnten. Die Künstler:innengruppe Quarantine wurde 1998 durch die Regisseur:innen Richard Gregory und Renny O‘Shea und den Designer Simon Banham in Manchester (GB) gegründet. Sie arbeitet weltweit im Bereich Theater, Performance und öffentliche Intervention.

Richard Gregory, künstlerischer Direktor von Quarantine* 

Die Arche ist für uns das Bild eines Raumes, in dem wir uns versammeln können, um die Frage zu erörtern, was wir retten sollen. Aber es ist natürlich auch ein Konzept, das provoziert. Wer entscheidet, welche Grenzen gezogen werden sollen? Wer entscheidet, wer durchgelassen wird, wer bleiben kann? Wer entscheidet, wen oder was wir retten sollen? Wer ist dieses „Wir“? Ich mag es, in Situationen zu sein, in denen verschiedene Arten von Intelligenz zur Geltung kommen und gleichwertig sind. Ich fühle mich sehr unwohl, wenn eine bestimmte Sprache, die sogenanntes Wissen ausdrückt, dominiert – ein sehr westliches Machtspiel, bei dem der Zugang zu einem besonderen Vokabular, Macht erkauft. Es ist ein massives Problem, dass angeblich politisch fortschrittliche Kunst meist nur solche Menschen anspricht, die aussehen und klingen wie die Menschen, die diese Kunst geschaffen haben. Für uns und andere britische Künstler ist es absolut unverzichtbar, Beziehungen zu Europa zu schaffen und zu bewahren. Ich möchte nicht auf einer Insel mit starren Grenzen gefangen sein, die in einer imaginären Version ihrer eigenen Vergangenheit lebt. Ich möchte Menschen willkommen heißen und weiterhin in der Lage sein, Teil eines großen Gesprächs zu sein, das mir die Arbeit als Künstler in ganz Europa und auf der ganzen Welt ermöglicht. Ich möchte helfen, Wege für eine Generation zu finden, die jünger ist als ich, damit auch sie in den Genuss dieser Erfahrung, dieses Privilegs, kommen kann. * Auszüge aus einem Interview mit Paula Oevermann, Projektkoordination Moving Borders in HELLERAU

 
01.02.2021

Auf zu neuen Ufern, #1 – 2021

Es bedeute für ihn alles Glück der Welt, er wolle es anpacken, er wolle den Tanz wagen mit seiner Company, mit dem Publikum und eigentlich mit der ganzen Stadt, so Jacopo Godani, als er im Oktober 2015 als künstlerischer Direktor, Chefchoreograf und Geschäftsführer seine Konzepte und Visionen für die neu begründete Dresden Frankfurt Dance Company in HELLERAU vorstellte. Weil jedes Ding seine Zeit hat, kluge Menschen die Zeichen der Zeit erkennen, hatte sich William Forsythe nach zehn Jahren mit seiner Company verabschiedet. Eine Company für den zeitgenössischen Tanz in Frankfurt und Dresden unter Beibehaltung der Finanzierung durch beide Städte und Bundesländer sollte es weiterhin geben. Mit Godanis Verpflichtung war ein ästhetischer Richtungswechsel gewollt. Beachtlich, wie er es vermochte trotz anfänglicher Widerstände ein gänzlich eigenes Konzept durchzusetzen. So geht diese Company ihren Weg, Godani bringt seine reichen Erfahrungen als Choreograf ein, besinnt sich auch seiner Studien der Bildenden Kunst. Bald wird spürbar, was er meinte im Hinblick auf die Anforderungen an die Tänzerinnen und Tänzer: „Starke Technik – offene Köpfe“. Bald gibt es Projekte mit der Dresdner Palucca Hochschule für Tanz, Absolvent:innen tanzen in der Company, wie von Beginnan David Leonidas Thiel. Sein Rückblick heute: „Unser Ziel war es, Klarheit, Präzision der Bewegungssprache möglichst effizient auf ein höheres Level zu heben.“ Er schätzt die Detailarbeit bei körperlicher und intellektueller Herausforderung. Das sieht Godani ähnlich: „Wir sind hier“, sagte er bald schon nach dem Start, „wir haben uns erfunden“. Er wolle aber nicht aufhören, andere Kunstrichtungen einzubeziehen, sich immer hinterfragen zu lassen. Immer stärker weitet er den künstlerischen Horizont, auch wenn er Kreationen von Forsythe mit der jungen Truppe in neues Licht stellt. Er verpflichtet mit Rafael Bonachela von der Sidney Dance Company einen wichtigen Choreografen. Es gibt Choreografien mit Livemusik, in der Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Ensemble Modern. Als 2017 die zweite Finanzierung für die nächsten drei Jahre der Company gesichert ist, sind die Zuschauerzahlen um 45 Prozent gestiegen. Das Interesse außerhalb Deutschlands steigt, mit dem Namen der Company wird der Name Dresdens in die Welt des Tanzes getragen. Das Interesse ist geweckt an Godanis Konzepten, in denen es um die Frage nach den Korrespondenzen der Kunst zu gesellschaftlichen Veränderungen geht. Und 2019 war für Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch klar, dass die Company die Geschichte des modernen Tanzes in Dresden-Hellerau fortschreibe, auch als Kulturbotschafter der Landeshauptstadt. Wenn jetzt die Finanzierung der dritten Runde bis 2023 gesichert ist, gibt es erneut Grund zur Freude für sie, „weil interessante, künstlerische Handschriften für den zeitgenössischen Tanz fortgeschrieben werden können, die Kooperationen in der Stadt sowie den Ausbau partizipativer Projekte mit der hiesigen Bürgerschaft möglich machen“. Damit könnte auch – ganz zeitgemäß – ein Online-Workshopangebot für Grundschullehrer:innen gemeint sein: Bewegung und Tanz im Mathematikunterricht. Zudem wird Jacopo Godani mit der Company weitere Horizonte im Dialog mit anderen Künsten öffnen. Und das hätte so grandios beginnen können mit der ersten Premiere dieser dritten Runde. Es war gelungen, den renommierten Choreografen Marco Goecke für eine Welt uraufführung mit dem schönen Titel „Good Old Moone“ in Dresden zu gewinnen: „Ich war bisher noch nie in Dresden! Es ist mir eine große Freude, mit einer historisch so bedeutenden und zukunftsweisenden Company zu arbeiten“, so Goecke während der Arbeit. Godani ist überzeugt, „dass er das Potenzial der Company durch seinen spezifischen, tänzerischen Hintergrund und seine choreografische Originalität ausschöpfen kann.“ Auf eine erneute Begegnung mit William Forsythes Meisterwerk „Quintett“ in HELLERAU hatte man sich gefreut, ebenso auf eine Uraufführung von Jacopo Godani. „Zeitgeist Tanz“ – so der Titel dieses Abends – Premiere nun auf Mai 2021 verschoben. Ursprünglich war für Mai eine gemeinsame Produktion mit dem Schauspiel Frankfurt unter dem Titel „10 Odd Emotions“ geplant, die auch nach Dresden kommen sollte. Neue Termine für diese erstmalige Kooperation können hoffentlich bald bekannt gegeben werden. Die Zusammenarbeit sieht Godani als Herausforderung für Tänzer:innen und Schauspieler:innen: „Nie zuvor haben wir solch eine Kooperation durchgeführt. Darüber hinaus ist es interessant für uns, auch räumlich unseren Horizont zu erweitern, indem wir uns auf einer neuen Bühne präsentieren. Ich würde diese genreübergreifende Arbeit gerne weiterverfolgen, um den Tänzer:innen facettenreiche Erfahrungen zu bieten.“ Solche Erfahrungen schätzt auch die an der Accademia Teatro alla Scala in Mailand ausgebildete Tänzerin Roberta Inghilterra, erst seit 2018 Mitglied der Company. Sie fühlt sich willkommen und habe die Chance, „neue Werte in der Tanzwelt aufzuzeigen“. Die Arbeit erlaube es ihr, „mehr wahrzunehmen, als das, was das Auge auf den ersten Blick zu sehen gewohnt ist.“ So wie man mit dem Frankfurter Schauspiel zu neuen Ufern aufbricht, so auch in Dresden bei einer Uraufführung in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele. Gegenseitige Bereicherung der Künste war es auch, die Armin Frauenschuh nach seinen Erfahrungen als Tänzer reizte, als er die Funktion als Produktionsleiter, Disponent und Tour Manager annahm. So weiß er um den hohen, internationalen Stellenwert der Company anhand zahlreicher Anfragen von Tourneeveranstaltern und Festivals. Natürlich ist dieser Start in die dritte Runde der Dresden Frankfurt Dance Company nicht frei von Problemen im Rahmen derzeitiger Einschränkungen. Aber welche Kraft lässt sich auch entdecken, wenn diese Herausforderungen angenommen werden. Die Arbeit hört nicht auf. Der Tanz geht weiter, überwindet Abstände, schafft Nähe trotz großer Ferne, auch dafür steht das sich ständig erweiternde Spektrum der Dresden Frankfurt Dance Company. Von Boris Gruhl

 
01.02.2021

Home Away From Home, #1 – 2021

Seit Jahrhunderten sind viele Menschen in andere Länder ausgewandert, um zu arbeiten und Geld zu verdienen. Diese globale Arbeitsmigration ist heute eines der komplexesten und gleichzeitig unsichtbarsten Phänomene unserer Gesellschaft. In einigen Staaten oder Städten, beispielsweise in Singapur oder Dubai, machen inzwischen Gastarbeiter:innen die große Mehrheit der Bevölkerung aus, jedoch mit sehr eingeschränkten Rechten und zum Teil prekären Lebensbedingungen. Die migrantischen Arbeiter:innen füllen auch in Deutschland wichtige Lücken – sie arbeiten in der häuslichen Pflege, in der Industrie, im Bausektor. Die in Dresden lebende taiwanische Choreografin Fang Yun Lo und ihre Kolleg:innen – die in Ho-Chi-Minh-City lebende Choreografin Ngo Thanh Phuong und die in Berlin lebende taiwanische Bühnenbildnerin Cheng Ting Chen – haben zu diesem Thema seit 2018 mehr als 100 betroffene Personen in Deutschland und Taiwan interviewt, meist über die spontane Begegnung am Arbeitsplatz, in Läden, Imbissen und Geschäften. Sie haben sich dabei auf die Geschichten vietnamesischer Einwander:innen konzentriert – auch, weil deren Geschichte die deutsche Geschichte mit der Teilung und Wiedervereinigung auf ganz besondere Weise spiegelt. Welche Versprechen und Wünsche führen junge Menschen aus Vietnam und anderen Ländern des „globalen Südens“ in diese Abhängigkeiten? Worin unterscheiden sich diese von den Gast- und Vertragsarbeiter:innen der 1980er Jahre? Wie manifestieren sich diese Verhältnisse für die jeweils Betroffenen und was erzählt das über unsere Gesellschaften? „Home Away From Home“ webt aus all diesen Erinnerungen eine berührende, vielstimmige Reise durch das Theater und die Welt. Sechs Darsteller:innen aus Deutschland und Taiwan, denen das Publikum an verschiedenen Stationen begegnet, erzählen ihre Schicksale von globaler Migration und interkultureller Realität, berichten gleichzeitig aber auch on der komplexen Geschichte eines gespaltenen deutschen Staates und der bis heute wenig reflektierten Fremdenfeindlichkeit in ostasiatischen Industriestaaten, wie Taiwan. Fang Yun Lo (Dresden/Essen/Taichung), Künstlerische Leitung Theaterprojekte habe ich oft mit meinen eigenen Erfahrungen begonnen – so auch dieses Mal. Der Unterschied ist, dass es bei diesem Projekt nicht um mich, sondern um „uns“ geht. Vietnamesische Einwanderer:innen in Deutschland und Taiwan stehen im Mittelpunkt des Projekts, sie stehen als Symbol für die Ein- und Auswander:innen dieser Welt. Es ist eine große Aufgabe für mich, in eine andere Kultur einzutreten und mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Jedes der über 100 Gespräche, die ich geführt habe, war nicht nur ein „normales“ Interview, um Material zu sammeln – es war immer eine bewegende und schöne Erfahrung, gemeinsam in eine private Erinnerung einzutauchen. Dieser besondere, empathische Moment ist es auch, den wir auf der Bühne mit den Zuschauer:innen teilen möchten. Es geht uns letztlich nicht um Vietnames:innen oder Migrant:innen, sondern um Menschen. Cheng Ting Chen (Taipeh/Berlin), Bühnenbild Im Jahr 2020 habe ich 15 Jahre am Theater gearbeitet und seit 10 Jahren in Deutschland gelebt. Im Verlauf dieses Inszenierungsprozesses habe ich meine Identität in der Welt und mich selbst immer wieder neu entdeckt. Ich konnte aber auch viel über die Geschichte und die Unvermeidbarkeit von Migration, über Flucht, Anfänge und das Zurückkehren verschiedener Menschen lernen. Die Bühneninstallation, die ich für das Stück entwerfe, macht sich diese Erfahrungen zunutze: Wie können die Sinne und das Denken im Theater durch Räume und Objekte geöffnet werden, damit wir die Anderen und uns selbst besser verstehen? Ngô Thanh Phương (Ho-Chi-Minh-Stadt), Co-Regie Als vietnamesische Künstlerin geht es mir in diesem Theaterprojekt um die Denkweise alter wie junger vietnamesischer Menschen, unter verschiedenen Umständen, an verschiedenen Orten. Ich erhoffe mir von dieser Inszenierung, dass sie uns Vietnames:innen die Kraft von zeitgenössischer Kunst vermittelt, indem wir selbstbewusst unsere Realität durch unseren Körper und unsere Stimme einem breiten Publikum nahebringen. Es ist aber auch eine Reise aus der Vergangenheit in die Gegenwart, von Vietnam nach Taiwan und von Vietnam nach Deutschland. Die Arbeit an diesem Projekt war und ist für mich wirklich eine große, bewegende Reise.

01.02.2021

„Ich finde es gut, mich durch nichts zu definieren“, #1 – 2021

Das Künstler:innenduo Æ mit Akila Subiyakto (ID) und Elias Graversen (BO/DK) gründete sich im Herbst 2019. Während ihrer HELLERAU-Residenz im November 2020 arbeiteten sie an ihrem ersten Album. Mit Eleanor Müller und Janne Arp (HELLERAU) sprachen sie über ihren Schaffensprozess und die Residenz. Was hat euch inspiriert, die Band zu gründen? Elias (EG): Wir lernten uns durch meinen Freund kennen, der mit Akila zusammen studiert hat. Zuerst haben wir nur ein Lied geschrieben: „blind enough“. Dann kam die Idee, eine EP* zu machen. Seit ich in Berlin studiere, habe ich in vielen Bands gespielt. Ich liebe den Live-Aspekt der Musik. Aber irgendwann wollte ich auch Musik als Duo und in einem anderen Stil machen. Darin liegt ein anderes Gefühl der Freiheit. Akila (AS): Für mich ist es das Gegenteil, denn ich habe früher immer allein gearbeitet. Ich fand es meistens einfacher und dachte, dass niemand meine Ideen nachvollziehen kann. Aber dadurch wird man sehr perfektionistisch, und wenn jemand meine Musik kritisierte, hatte ich oft das Gefühl, ich werde persönlich angegriffen. Es war sehr schwer für mich, mich von meiner Arbeit zu distanzieren. Genau das habe ich gelernt, als ich mit Elias musizierte, denn er weiß, wie man Kompromisse eingeht. Eure Lieder handeln von Postkolonialismus, Liebe und Sexualität. Wie verbindet ihr diese Themen? AS: Ich komme aus Indonesien und lebe seit vier Jahren in Deutschland. Die Idee von Liebe, mit der ich in Indonesien aufgewachsen bin und die Idee von Liebe hier in Europa sind unterschiedlich. In der indonesischen Kultur setzen wir „Weiße“ immer über uns. Das war mir nicht bewusst. Ich fühlte mich wie in einem Film, wenn ich mit europäischen Männern oder Frauen ausging, stellte sie irgendwie immer über mich. Diese verzerrte Wahrnehmung ist eine Folge des Postkolonialismus. Aber Liebe muss gleichwertig sein. EG: Meine Mutter ist Dänin und mein Vater kommt aus Bolivien, und wenn man aufwächst, werden einem diese Differenzen nach und nach bewusst. Da ist diese riesige Plakatwand mit einem großen blonden Model mitten in La Paz in Bolivien, wo fast niemand so aussieht. Und dann vergöttert man diese Art des Aussehens, und schafft es nicht mehr, sich selbst zu sehen. AS: Wir haben auch einen Teil der Unabhängigkeitsrede des indonesischen Präsidenten über die Freiheit in unser Lied aufgenommen. Wir wollen hörbar machen, dass wir vom Kolonialismus und der Unterdrückung zwar befreit, aber noch immer davon beeinflusst sind. Ich weiß jetzt, dass ich nicht indonesisch bin, nicht europäisch, ich bin nur Akila. Ich finde es gut, mich durch nichts zu definieren. Sind eure Themen auch im Musikstil wiederzuerkennen? EG: Wir haben ursprünglich mit Crossover angefangen: R&B mit ein paar Trap-Elementen in einigen unserer Tracks. In HELLERAU haben wir uns mehr mit Indie und auch etwas Techno beschäftigt. Mir war diese Art von Musik sehr neu, und ich hätte persönlich nie gedacht, dass ich jemals über einen Trap-Beat singen würde. Das Coole am Ganzen ist meiner Meinung nach, dass wir über relativ ungewöhnliche Dinge singen, die man nicht allzu oft hört. AS: Die Art und Weise wie Elias schreibt, ist wirklich poetisch. Wenn man heutzutage Popmusik hört, singen die Künstler:innen immer über Liebe, Sex und Geld. Unsere musikalische Richtung ist auch so, aber die Texte sind das genaue Gegenteil. EG: Es ist der Kontrast! Man hat diesen Beat und dazu zwei Softies, die singen.

01.02.2021

Video killed the Radio Star, #1 – 2021

1979 veröffentlichten The Buggles ihren Song „Video killed the Radio Star”. Das Video zu diesem Song war das erste Video auf MTV – ausgestrahlt am 01. August 1981 um 00:01 Uhr. Am 27. Februar 2000 um 02:57 Uhr erlangte das Video erneut Kultstatus: Es war das Millionste auf MTV gesendete Video. Interessieren diesen Zahlen heute noch und: Wo ist eigentliches dieses MTV? Könnte man heute Songs schreiben wie „TikTok killed the Video Star“? Oder „Instagram frisst SPEX“? Es könnte interessant sein, wie MTV auf dieses C19-Virus reagiert hätte,das vor allem auch der freien, alternativen und unabhängigen Musikszene und den Clubs nicht nur das Leben, sondern auch das Überleben, schwer macht. Gut reagiert hat zumindest die MTV-Generation: Katja Lucker leitet nicht nur das Musicboard Berlin, sie war auch eine der ersten, die im Frühjahr 2020 auf die absehbaren Probleme der Clubszene aufmerksam machte – und handelte: Als Mitinitiatorin und im Jury-Beirat der Initiative United We Stream war sie maßgeblich an einem der wegweisenden und erfolgreichsten Projekte beteiligt, bei dem u.a. mit Arte Concert aus einer Spendenkampagne für Berliner Clubs United We Stream entstand – eine globale Kulturplattform und Streaming-Initiative im digitalen Raum. Aus Dresden bekam der Club objekt klein a einen der ersten begehrten Slots und war mit dem neu gegründeten KLUBNETZ Dresden bald einer der Motoren, die im Digitalen wie auch im Politischen Raum für Hör- und Sichtbarkeit der zum Schweigen verdammten Clubszene sorgten. Im April 2020 entwickelten wir gemeinsam mit Katja Lucker und Maureen Noe die Idee, die bisherigen „Auslands-Residenzen“ des Musicboard Berlin, mit denen Berliner Bands nach Asien, Afrika oder Amerika reisen konnten, in „Inlands-Residenzen“ umzuwandeln: Statt Detroit, Havanna oder Los Angeles hießen die Residenz-Orte plötzlich: HELLERAU, Schloss Bröllin in Meck-Pomm oder Sternhagen Gut von Gudrun Gut. In HELLERAU entstanden auf diese Weise zahlreiche neue Songs der Bands Æ und in Kooperation mit CTM Berlin ein Musikvideoprojekt von Born in Flamez, die bei Bandstand 2021 präsentiert werden. Bandstand will 2021 mit dem neuen Format #BandstandMusikvideo ein bisher erfolgreiches Format in gegenwärtig schwierigen Verhältnissen ermöglichen. Darüber hinaus sollen in extra produzierten Videoprojekten und weiteren Veranstaltungen, u.a. in Kooperation mit KLUBNETZ Dresden auch Diskussionen zur aktuellen Situation und zu Perspektiven der Musik- und Clubszene hör- und sichtbar gemacht werden. Und vielleicht gibt es ja dann auch irgendwann einen Song mit dem Titel: „Video saved the Club Culture“?!

Von Rosa Müller und Moritz Lobeck (HELLERAU)
18.01.2021

Die Zuschauer:innen Halten uns am Leben, #2 – 2019

„Antje Pfundtner in Gesellschaft“ (APiG) unter der künstlerischen Leitung der Hamburger Choreografin Antje Pfundtner war zuletzt im Februar 2020 mit „Alles auf Anfang“ in HELLERAU zu sehen. Neben ihren Bühnenarbeiten entwickelt APiG Formate künstlerischen Teilens. Die auf drei Jahre angelegte Dialog-Plattform „Tischgesellschaften“ dient seit 2018 dem regelmäßigen Austausch mit anderen Kunstschaffenden und wird durch die Förderung TANZPAKT Stadt-Land-Bund ermöglicht. Im Januar 2021 findet in HELLERAU die „Tischgesellschaft“ „Wieder da!“ zum Thema Wiederaufführung und nachhaltiges Arbeiten als öffentliches Format statt. André Schallenberg, Programmleiter Theater/Tanz in HELLERAU sprach mit Antje Pfundtner (AP) und Anne Kersting (AK). Wie ist die Idee für die „Tischgesellschaften“ entstanden? AK: Wir haben bereits früher ähnliche Formate initiiert, zum Beispiel die „Tauschbörse der Erinnerungen“, die aber immer an bestimmte Bühnenprojekte gekoppelt waren, um sie überhaupt finanziell zu ermöglichen. Uns bewegten die Fragen, wie wir jenseits von konkreten Produktionen forschen können: Inwiefern sind Künstler*innen nicht nur Produzierende und wie können wir auch selbst in all den anderen Bereichen zu Handelnden werden? AP: Für mich persönlich entspringen die „Tischgesellschaften“ einer Frage, die ich mir seit 20 Jahren, seit Beginn meiner künstlerischen Arbeit stelle: Was machen Künstler*innen, die an einem „strukturellen Karriereende“ angekommen sind, die also strukturell begrenzt sind durch das Ausreizen aller Fördermöglichkeiten? Stagnieren sie, fallen sie zurück, transformieren sie sich in einen anderen Bereich? Diese Fragen schienen mir weniger bedrohlich, wenn man sie teilt. Damit wollte ich auch einen Impuls setzen, als Künstler*in selbst aktiv zu werden, Themen anders zu formulieren, Gelder anders zu teilen und damit auf Augenhöhe an Institutionen und unser Publikum heranzutreten. Wir erhoffen uns davon eine nachhaltige Selbstermächtigung der Szene – durch die Entwicklung konkreter Ansätze für eine projektübergreifende Finanzierung der Tanzkunst, aber auch durch die Bündelung von Energien und Ressourcen. Wir vertrauen darauf, dass sich am Ende etwas findet, das eben nicht in eine Festlegung oder in einen Denkrahmen mündet, sondern in eine Offenheit, die anregt. Wie wählt Ihr die Themen für die „Tischgesellschaften“ aus? AP: Wir haben zwei grundlegende Fragen: Wie teilt man Ideen und wie teilt man Geld? Das Teilen von Ideen verbindet sich oft mit Fragen nach Urheberrecht, Autorenschaft – sehr empfindliche Punkte, nicht nur in der Kunst. Und das Teilen von Geld ist natürlich per se schon sensibel. Ich finde das sehr gut und wichtig, dass das so heikle Fragen sind. Im Kontext dazu haben wir drei weitere Themen versammelt: die Frage nach dem Wieder-da, also dem Wiederaufführen, mit der wir auch nach Dresden kommen werden. Warum ist die Kunst in ihrer Produktion oft nicht „nachhaltig“, da viele Arbeiten ja bereits nach ihren ersten Aufführungen wieder verschwinden? Die zweite Frage betrifft das Geld und seine Verteilung. Das ist auch eine Machtfrage. Wir gründen gerade als Experiment einen eigenen Fonds, in den Künstler*innen einzahlen. Der ist gedacht als Instrument, um die Finanzierung von Kunst und ihre Mechanismen selbst durchspielen zu können. Die dritte Frage betrifft die Zuschauer*innen: Zuschauer*innen halten uns ja am Leben. Wie arbeiten wir mit ihnen und für sie? Welche Partnerschaften gehen wir mit ihnen ein? Seht ihr das auch als eine politische Arbeit? AK: Godard hat das perfekt formuliert, er mache keine Filme über Politik, sondern politische Filme. Es geht also um die Arbeitsweise und das Tun – um das Vermitteln einer Praxis. AP: Wir haben das Bedürfnis nach breiter Kommunikation und Verhandlung. Die Auseinandersetzung, die Äußerung an sich ist ja auch schon ein politischer Akt. Ich habe auch nie verstanden, warum Leute sagen, der Tanz sei unpolitisch. Er ist doch in erster Linie eine Ausdrucksform, die sich öffentlich macht und zu der du dich verhalten musst. Es gibt auch Kolleg*innen, die ihre künstlerische Arbeit von ihrer politischen Arbeit trennen. Das finde ich sehr interessant, weil das für mich immer eins war und ist. Die „Tischgesellschaften“ folgen einer größeren Idee von künstlerischer Arbeit. Wie würdet ihr die beschreiben? AK: Es geht darum sich selbst und seine künstlerische Praxis als ein Medium zur Verfügung zu stellen. Die „Tischgesellschaften“ machen diesen Dialog möglich. Sie bieten einen diskursiven Handlungsspielraum als öffentliche Plattform. Anders als die Vorgabe: Du bekommst Geld, also führst du etwas öffentlich auf. Das hat aber mit Veröffentlichung an sich noch nichts zu tun, sondern mit Verwertung. AP: Ich bin schon mal gefragt worden: „Was machen Sie eigentlich tagsüber?“ Es ist für viele unvorstellbar, welche Art von Arbeit hinter künstlerischem Wirken stecken, welche Recherchen und Suchbewegungen. Alles, was vor und nach einem Stück kommt, ist auch unsere Arbeit, die Bühnenproduktion ist nur ein Teil davon. Und im besten Fall ist das eben ein „Sich-Auseinandersetzen“ mit gesellschaftlichen Themen. Der zeitgenössische Tanz hat sich in den letzten Jahrzehnten extrem weit geöffnet, ästhetisch und formal. Damit hat er es auch geschafft, viele andere Kunstrichtungen und die Gesellschaft stark zu beeinflussen. In dieser Umgebung bewegen wir uns. Für mich ist der zeitgenössische Tanz die spannendste Kunstform. Tipp! 22. – 24.01. Tischgesellschaft: „Wieder da!“ Gespräch und Filmdokumentation „Vertanzt“ | Antje Pfundtner in Gesellschaft (DE)  

02.12.2020

Spinner Light | Interview mit Charles Washington

Klassische Frage. Interessierst du dich schon länger für den Zusammenhang zwischen Farbe und zwischenmenschlichen Beziehungen oder wie bist du zu diesem Thema gekommen? Ich habe mich schon immer für Farbe im Zusammenhang mit dem Hören und Wahrnehmen von Musik und der Propriozeption meiner Körperbewegung interessiert, die Muster wellenförmig wechselnder Farben und Texturen erzeugt. Später entdeckte ich, dass diese Wahrnehmung als Synästhesie bezeichnet wird. Obwohl ich mir nicht direkt bewusst war, dass Farbe eine emotionale Wirkung auf mich hatte, wurde mir klar, dass sie einen Zustand der Homöostase darstellt – ich war entspannt genug, um meinen Körper zu erfahren. Was unterscheidet Kandinskys Farbtheorie von anderen? Was meine Aufmerksamkeit über Kandinsky erregte, war seine Untersuchung einer nicht-säkularen spirituellen Erfahrung, die durch ein äußeres Artefakt geschaffen wurde, das aus kleineren Objekten besteht, die sich in einer Art komponierter Harmonie befinden. Das führte mich dazu, einige seiner Bücher zu lesen. In seinen Büchern Concerning the Spiritual in Art and Point and Line to Plane stellt er sehr detailliert ein System vor, mit dem er beschreibt, wie das Nebeneinanderlegen verschiedener Objekte, die unterschiedliche Formen und Farben haben, die innere emotionale Erfahrung des Betrachters verändern kann. Als Choreograf haben diese Bücher bei mir Widerhall gefunden, da Choreografie zunächst einen zeitlichen Raum komponiert, der mit Darsteller*innen gefüllt ist, die sich entwickelnde Formen in Beziehung zum Raum der Bühne und anderen Personen in diesem Raum schaffen. Als ich diese Bücher las, hatte ich das Gefühl, eine Art choreografisches Handbuch zu lesen. Spinner Light sollte im April in HELLERAU uraufgeführt werden. Leider musstet ihr die Proben aufgrund der Corona-Pandemie unterbrechen, und nun muss auch die Premiere im Dezember entfallen, weshalb ihr euch entschieden habt einen Film zu zeigen. Wie hat die Situation eure Proben und das Stück beeinflusst? Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es dazu beigetragen hat, dass es mir mehr Einschränkungen geboten hat. Vor der Unterbrechung von Corona hatte ich das Gefühl, dass es zu viele Möglichkeiten gab, auch wenn das Werk auf eine Erfahrung innerer Harmonie abzielt, die Ross Mckim in seinem Buch Im Schatten der tanzenden Schamanen als Numinosen bezeichnet. Dramaturgisch gesehen gab es weit mehr Möglichkeiten als Einschränkungen, um diese Erfahrung zu erreichen. Nun hat Romy Rexheuser, die Kostüm- und Bühnenbildnerin, aufgrund der Hygienevorschriften ein Bühnenbild entworfen, das mit vier Tänzer*innen im Raum Nancy-Spero-Saal ein Maximum an Publikum zulässt, was natürlich zu Einschränkungen geführt hat. Ich glaube, diese Einschränkungen haben mir geholfen, mir vorzustellen, wie es weitergehen soll und wie wir das verwenden können, was wir in der einen Woche, in der wir von zu Hause aus unter Verschluss gearbeitet haben, geschaffen haben. Hast du etwas über Farben und Menschen gelernt, was dich am meisten beeindruckt hat? Ich habe das Gefühl, dass ich etwas geklärt habe, das möglicherweise schon eine Weile in meiner Sinneswelt im Spiel ist, nämlich die Wirkung der Farbe Blau. Als ich mit einer der Tänzer*innen in der Zeit der Abriegelung sprach, war Gelb sehr präsent in ihrem Leben, und sie überlegte, warum ich das als eine sehr befriedigende und merkwürdige Erfahrung empfand. Was genau kann das Publikum beim Anschauen von „Spinner Light“ erwarten? Ein energisches Werk, das die Geschichten von vier Personen miteinander verwebt und kombiniert. Sie befinden sich in einer atmosphärischen Umgebung, die sich zwischen den eigentlichen Raum und einen anderen schiebt. Parallel wird sich mit komplexen Tanzbewegungen und kompositorischen Rhythmen auseinandergesetzt. Von welcher Farbe möchtest du am liebsten umgeben sein? Ich mag es, von einer Mischung aus Farben und Texturen umgeben zu sein. Allerdings fühle ich mich mehr zu tiefen und dunkleren Themen hingezogen, die mit einigen Funken von lebhafter türkiser und rosa Farben kontrastiert werden. Sa 19.12. 20:00 Uhr Filmpremiere Spinner Light Charles Washington/Pinkmetalpetal Productions (GB/DE)

23.09.2020

„Was frei zugänglich und alltäglich geworden ist, ist die Angst vor der Zukunft“, #2 – 2020

Stimmen von Künstler*innen während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 Die durch COVID-19 ausgelöste Krise trifft Kunstschaffende künstlerisch und ökonomisch weltweit hart und unmittelbar. Aufführungen wurden abgesagt, die Grenzen geschlossen, es gab keinen Applaus und keine Aussicht auf eine baldige Rückkehr der alten Normalität. Der digitale Raum entwickelte sich schnell als neue Plattform des Austauschs, der Kommunikation, der Präsentation und machte es möglich, die individuellen Situationen im größeren Rahmen sichtbar zu machen und zu teilen. Das Bündnis internationaler Produktionshäuser hat 35 internationale Künstler*innen eingeladen, Statements aus ihrer individuellen und künstlerischen Situation während des Lockdowns zu teilen und dadurch Einblicke aus der ganzen Welt erhalten. Hier finden Sie eine Auswahl der VOICES Marta Keil, Grzegorz Reske/ResKeil (Warschau) „Merkwürdigerweise geschieht diese plötzliche (Re-)Materialisierung der Grenzen auch genau in dem Moment, in dem wir mit dem EU-Projekt „Moving Borders“ beginnen. Dieses Projekt, das vor fast zwei Jahren als künstlerisches Mapping von materiellen und immateriellen Grenzen, Trennungen und Brüchen in städtischen und sozialen Texturen entwickelt wurde, bekam plötzlich völlig neue Dimensionen.“ Xiao Ke x Zi Han (Shanghai) „Das Verständnis von Entfernung hat sich verändert und die Stadt, in der wir leben, scheint weiter entfernt. Die Epidemie hat die reale Welt in eine leere Stadt verwandelt, in der die Menschen in isolierten Räumen leben und persönliche Äußerungen in virtuelle Welten werfen. Unsere Identität wird aufgefrischt und ist zugleich ein ewiges Thema, das jetzt besonders sensibel und wichtig ist. Wir verbringen immer noch mehr Zeit zu Hause, wobei wir erstens die Möglichkeit einer Ansteckung und zweitens eine zu starke Verfolgung vermeiden.“ Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen/Gintersdorfer/Klaßen (Berlin) „Was dann passiert ist: Absage aller folgenden Vorstellungsdaten, Corona-Ausgangsbeschränkung und Reisestopp. Die Folgen: Aufenthaltsgenehmigungen können nicht rechtzeitig verlängert werden, sie verfallen genauso wie die schon gebuchten Flüge zu den Vorstellungen. Einfach Puff: einige von uns sind seit April papier- und arbeitslos zugleich. Wo sind die beiden transnationalen Gruppen jetzt, die wir seit Jahren aufgebaut haben? Eine Rückkehr in eine lokale Existenz ist ein Albtraum für uns, wir wollen die transnationale Arbeit fortsetzen, um einer eurozentristischen Welt- und Kulturauffassung etwas Vielstimmiges entgegenzusetzen.“ Dóra Büki/Proton Theatre (Budapest) „Das Stichwort ist: Unsicherheit. Als unabhängige Company ohne staatliche Unterstützung kennen wir dieses Wort gut. In der gegenwärtigen Situation hat die Unsicherheit ein völlig neues Niveau erreicht: Eine Zeit mit fast nur Fragen und kaum Antworten.“ Trinidad Gonzáles (Santiago de Chile) „Vor einigen Monaten lebten wir unsere Revolution, und die Straßen meines Viertels waren die ganze Zeit übervoll mit Menschen. Wir waren wütend, aber glücklich. Etwas sehr Wichtiges ging vor sich, und wir hatten die Zukunft unseres Landes in unseren Händen. Wir tanzten viel. Wir teilten Essen und Wein. Die Straßen waren sehr lebendig. Jetzt befinden wir uns im umgekehrten Szenario.“ Eisa Jocson (Manila) „Weiter zu leben, trotz der Bedingungen weiter zu produzieren ist ein Akt des Widerstands.“ Russ Ligtas (Manila) „Die Arbeit war Zuflucht, Befreiung und Erholung.“ Alle Statements sind zu finden unter www.produktionshaeuser.de/voices

23.09.2020

Den Rahmen befragen, #2 – 2020

Ein Gespräch über Solidarität und die Zukunft der Kritik anlässlich der Akademie für Zeitgenössischen Theaterjournalismus Von November 2019 bis März 2020 fand auf Initiative des Bündnisses internationaler Produktionshäuser die erste Akademie für Zeitgenössischen Theaterjournalismus statt. In Essen, Dresden und Hamburg haben sich 20 Kritiker*innen aus ganz Deutschland mit den Möglichkeiten und Anforderungen an einen Journalismus auseinandergesetzt, der den vielfältigen Produktionen und Produktionsweisen zeitgenössischer Theaterformen gerecht wird. Hier sprechen die Organisator*innen Esther Boldt (EB) und Philipp Schulte (PS) mit zwei Teilnehmer*innen, der freien Autorin Theresa Luise Gindlstrasser (TLG) und dem taz-Redakteur Jan-Paul Koopmann (JPK), über ihre Erfahrungen. EB: Warum habt ihr euch für eine Teilnahme bei der Akademie beworben? JPK: Ich habe eigentlich nie Gelegenheit, mich außerhalb eines konkreten Auftrags mit Kolleg*innen über Texte auszutauschen, die nicht in einem aktuellen Produktionsfluss entstehen. Das Nachdenken und Diskutieren über Grundsätzliches kommt in meinem Arbeitsalltag einfach zu kurz. EB: Wie habt ihr die Akademie bis jetzt wahrgenommen, haben sich eure Erwartungen erfüllt? TLG: Die Auswahl der Teilnehmenden finde ich sehr stimmig, Kompliment an die Jury. Es kommen hier sehr unterschiedliche Personen zusammen, aus verschiedenen Altersgruppen und von verschiedenen Medien – wie Fernsehen, Radio oder Zeitung. Die Teilnehmer*innen haben dort auch verschiedene Positionen inne, etwa als Redakteur*in, Volontär*in oder freie*r Mitarbeiter*in. Das ist zum einen ausgewogen und zum anderen divers – die Themen gehen uns also nicht aus. JPK: Und trotzdem kriegen wir es immer hin, uns auf einer Ebene zu finden. Der gemeinsame Nenner ist unser aller Interesse an zeitgenössischen Formen, an zeitgenössischem Theater. PS: Theaterkritik wie das Schreiben generell sind einsame Tätigkeiten. Gespräche, Momente des Austausches sind jenseits einer bestimmten medialen Struktur oder Hierarchie vielleicht ungewöhnlich. Kann man das so sagen? TGL:  Ja, es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Schreiben auf der einen und der Kunst, dem Theater, auf der anderen Seite, wo Gespräche, Austausch und Work-in-progress stets Teil der Arbeit sind. Die konzentrierten Besprechungen unserer Texte ohne Produktionsdruck, die wir bei der Akademie geführt haben, unterscheiden sie beispielsweise auch vom Theatertreffen-Blog. EB: Innerhalb von Redaktionen gibt es durchaus Austausch: Im besten Falle wird eine Diskussion über Sinn und Zweck eines Textes geführt und man erhält auch eine Rückmeldung der betreuenden Redakteurin. JPK: Ja, aber das ist eine ganz andere Ebene, in einer Redaktionskonferenz reden wir nicht über Grundsätzliches. Bei der Akademie hingegen eröffnet sich ein Raum, in dem über Leitfragen gesprochen werden kann: Was ist eigentlich zeitgenössisches Theater, welche Formen gibt es, welche Themen werden verhandelt? Und was bedeutet es über Theater zu schreiben? Solche Debatten können in einer Redaktionskonferenz nicht geführt werden. Wann auch? EB: Gibt es einen Moment in der Akademie, der euch besonders in Erinnerung geblieben ist, den Ihr als besonders wahrgenommen habt? JKP: Für mich war die Dichte besonders, in der wir gearbeitet haben, in der alle immer präsent waren. Du sitzt bis spät abends im Theater, und beim Frühstück geht die Diskussion schon weiter, und das nicht nur über Tage, sondern auch über mehrere Module. TGL: Mir fallen zwei Momente ein: Aus Essen ist mir ein Gespräch darüber in Erinnerung geblieben, wo das Korrektiv sitzt. Ich glaube, dass diese Frage eine der drängendsten unserer Zeit ist – nicht nur in Bezug auf Kulturkritik, sondern auch ganz konkret politisch in unserer Demokratie. Und zweitens hat Lisa Lucassen von She She Pop als geladene Expertin in Dresden gesagt: „Was, ihr glaubt, dass Kritik ein Dialog ist? Das habe ich ja noch nie gehört!“ Diesen Zusammenprall von Vorstellungen fand ich interessant! PS: Seht ihr einen konkreten Nutzen der Akademie über den ideellen Wert hinaus? TLG: Ich finde, dass eine Solidarisierung stattgefunden hat oder ein Bewusstsein dafür geweckt wurde. Wenn ich will, dass das, was ich tue, als Angebot zum Dialog wahrgenommen werden soll, dann muss ich vielleicht mehr dafür tun. EB: Was wünscht ihr euch für die Zukunft des Theaterjournalismus? JPK: Ich würde gerne mehr von Menschen lesen, die über Kultur nachdenken und bei uns in der Zeitung einen Theaterdiskurs führen, ohne ausgebildete Journalist*innen zu sein. Damit es neben den ausgebildeten Kritiker*innen, die es weiterhin braucht, auch andere Perspektiven gibt, andere Arten von Zuschauer*innen, die am öffentlichen Diskurs teilnehmen. TLG: Es gibt so viel Ego, so viel Amazon, so viele Sternchen-Bewertungen. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann wäre es, dass sich die Kritik entschleunigt. Nicht unbedingt in Bezug auf Produktionsabläufe, aber in Bezug auf Umgangsformen und Urteile. Dann wäre Kritik etwas im besten Sinne Altmodisches, Langsames, Tastendes, etwas, das nicht nur gegenüber dem Gegenstand kritisch bleibt, sondern auch gegenüber sich selbst. Esther Boldt arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin u.a. für nachtkritik.de, Theater heute und die taz sowie für den Hessischen Rundfunk. Dr. Philipp Schulte ist Professor für Performancetheorie an der Norwegischen Theaterakademie und Geschäftsführer der Hessischen Theaterakademie. Der Theaterwissenschaftler publiziert zu zeitgenössischen Theaterformen und lehrt an Hochschulen im In- und Ausland. Theresa Luise Gindlstrasser, geboren 1989, lebt in Wien. Sie arbeitet als freie Autorin und Kritikerin u.a. für nachtkritik.de, Falter, Wiener Zeitung. Jan-Paul Koopmann, geboren 1982, arbeitet als Redakteur für die taz in Bremen und schreibt frei für nachtkritik.de und andere Medien über Kultur und Gewalt.

23.09.2020

Gesichter in HELLERAU – Werner Lange, TOP Gebäudereinigung Sachsen GmbH & Co. KG, #2 – 2020

Seit wann arbeitest du in HELLERAU und was sind deine Aufgaben? Seit 2009 bin ich im Festspielhaus Hellerau für die tägliche Reinigung zuständig, also für Sanitäranlagen, Böden, Künstlergarderoben, Tanzteppiche, Oberflächen, Lüftungen, Heizungen und noch vieles mehr. Jeder Tag ist anders. Wenn ich früh komme, schaue ich erstmal auf den Plan, was an diesem Tag ansteht. Wenn beispielsweise vormittags Künstler*innen proben, muss ich meinen Ablauf so organisieren, dass der Raum zu Beginn der Probe fertig ist. Alles andere muss sich unterordnen. Ich führe selbst mein Reinigungsbuch, um den Überblick zu behalten. Wenn der Gast zufrieden ist, hat man alles richtig gemacht. Wichtig ist, dass ich die verschiedenen Materialien im Haus beachte, zum Beispiel die historischen Bodenfliesen, die Steintreppen oder die Geländer. Die werden nicht so geputzt, dass sie glänzen, sondern sie sollen den historischen Anschein behalten. Wie bist du nach HELLERAU gekommen? Von meiner damaligen Firma Piepenbrock Dienstleistungen ist mir das Festspielhaus Hellerau zugeteilt worden. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Arbeitswoche. Anfangs habe ich mich immerzu verlaufen. Gab es eine besondere Herausforderung, die du gemeistert hast? Wir hatten einmal einen extrem verschmutzten weißen Tanzteppich. Ich habe mich mit vielen verschiedenen Mitteln an die Arbeit gemacht und dabei herausgefunden, dass er sich gut mit Scheuermilch reinigen lässt. Nach der Reinigung ist der Tanzteppich aber meist zu glatt und muss abgestumpft werden, damit die Tänzer*innen nicht ausrutschen. Bei einem dunklen Tanzteppich arbeite ich dafür mit Cola, bei einem hellen Teppich mit Sprite. Und es waren Künstler*innen hier, die auf der Bühne Kurkuma oder Ruß und Sonnenmilch verwendet haben. Letztes Jahr bei „Mystery Magnet“ von Miet Warlop haben die Künstler*innen mit ganz viel Farbe gearbeitet. Der ganze Weg von der Bühne über das Treppenhaus bis zu den Garderoben war betroffen. Da musste ich eine richtige Grundreinigung mit Glitzischwamm, Scheuermilch und Einscheibenmaschine machen und alles wieder sauber bekommen. Aber bevor ich sage „Das geht nicht“, dauert es lange. Was findest du in HELLERAU so besonders? HELLERAU ist das einzige Objekt, wo ich sage: Hier gehe ich mit Freuden arbeiten. Es ist eine angenehme Arbeitsatmosphäre und auch der Kontakt zu den Künstler*innen ist schön. Seit ich hier arbeite, habe ich ein ganz anderes Verhältnis zur Kunst. Einmal hat das MDR Sinfonieorchester hier geprobt. Da habe ich mich über die Südempore leise in den Saal reingeschlichen und kurz zugehört. Wenn man beim Saubermachen Musik im Hintergrund hat, geht alles viel schneller. Andere müssen bezahlen und ich bekomme das einfach so geliefert. Im Dezember 2020 verabschiedet HELLERAU Werner Lange in den Ruhestand. Wir danken ihm herzlich für seine langjährige Arbeit.

23.09.2020

BREATHING MEMORIES, TRANSPARENT HISTORIES, #2 – 2020

Die Tänzerin und Choreografin Gizem Aksu berichtet über ihre Erfahrungen während ihrer Residenzzeit in HELLERAU. „Mit dem Atem kommt die Vorstellungskraft, mit dem Atem kommt die Möglichkeit.“ (Sara Ahmed) Wie können Tanz und Choreografie das Leben atmungsaktiver machen? Wie können wir, Tänzer*innen und Choreograf*innen, das Bewusstsein im Atem kultivieren, um gegen die erdrückende Gewalt von Neoliberalismus, Rassismus und Militarismus zu kämpfen? Das sind die Schlüsselfragen, die sich mir am Ende meiner Residenz in HELLERAU stellen. Ich bin glücklich, dass ich die pandemische Situation in HELLERAU verbracht habe, begleitet von Vögeln, Bäumen, bunten chemischen Reaktionen der Wolken, Geistern von Generationen von Künstler*innen, Aktivist*innen und Soldat*innen. Ich war an einem Ort, der mich jeden Tag daran erinnerte, dass das Leben gegenwärtig ist. In dieser Gegenwart verstand ich sehr gut, dass die „Selbstisolierung“ bereits ein diskursives menschliches Konzept ist, um die Situation zu beherrschen. Wie können wir uns von der augenblicklichen, spontanen, transkörperlichen Lebenskraft isolieren, die uns das Universum in jedem Augenblick bietet? Selbst wenn wir tot sind, ist der menschliche Körper weiterhin Teil des biologischen, chemischen, energetischen Lebens, das immer gegenwärtig ist. Der menschliche Körper weist immer über sich hinaus. Diese Transkorporalität macht unseren Körper erst lebendig. Die Pandemie-Erfahrung erinnert mich daran, wie der menschliche Körper mit seiner Umwelt und seiner Umgebung verbunden und von ihr abhängig ist. Unser Fleisch ist nicht die Grenze, sondern der Durchgang für diese Transkörperlichkeit, unser Atem ist nicht nur mechanisch, sondern auch ökologisch. Die Relationalität des menschlichen Körpers kann durch den Atem gelesen werden. Dennoch mag es herausfordernd sein, diese transkorporale Existenz innerhalb der Durchlässigkeit des Atems zu erkennen, weil es schwierig ist, die transparente Qualität „scheinbar undurchsichtiger Körper, einschließlich des menschlichen Körpers“ wahrzunehmen. In der transparenten Gegenwart des Atems werden viele Leiden, Traumata, Einschränkungen und Pandemien geschrieben. Transparente Geschichten von Erstickung, Unterdrückung, Kampf, Konflikt und Widerstand. In diesen Zusammenhang entwickelte ich während der Residenz die Projekte „Archiv der Gefühle: HELLERAU“, „Selbstisolation“ und „Ein atmendes Gedicht“. Ich hatte nicht immer so viel Glück: Es war traumatisch, mich 2016 „selbst zu isolieren“, während in Istanbul Bombenexplosionen stattfanden. Wer kann nicht atmen? Wessen Leben ist atmungsfähig? Die Atmung ist nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch, politisch und ökonomisch zu begreifen. Rukeli Trollman wurde während der Isolation in Dresden mein geistiger Freund. Ich besuchte ihn oft in seinem von der BEWEGUNG NURR geschaffenen Denkmal im Garten. Es war absolut atemberaubend, von ihm das Boxen zu lernen, wie ich einst den Volkstanz der Sinti und Roma lernte. Ich wollte eine körperliche, verschwitzte Performance schaffen, um an seine Kampfgeschichte zu erinnern. In meiner Perspektive greifen in der Bewegung Körper, Spiritualität und Politik ineinander. Der Körper erstickt, wenn das System sein Potenzial nur auf körperliche Arbeit reduziert, um Profit zu machen und hegemoniale oder nackte Gewalt zu reproduzieren. Diese Art von spirituellen Begegnungen ermöglicht es uns, aus der Geschichte des anderen zu lernen, die lineare Geschichte von Zeit und Raum zu durchqueren und uns jenseits des kartesianischen Verständnisses von Körper zu treffen. Körper verschwinden, aber transparente Spuren unserer Körper können bleiben. Meine Zeit in HELLERAU war geprägt von der Suche nach solchen Spuren. Meine Forschungsmethode würde ich als mikroskopische Aufmerksamkeit beschreiben, die auf die Suche nach transparenten Spuren gegangen ist: dem Hören der Stille der Geschichte und dem Bezeugen der Gegenwart der Architektur. Jeden Morgen betrachtete ich das Yin-Yang-Symbol auf dem Dach des Festspielhauses. Ich erinnerte mich daran, wie sehr wir miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, ich versuchte, die non-duale Präsenz von Ausatmung und Einatmung zu spüren. Ich versuchte, die Non-Dualität in meiner Transkörperlichkeit zu spüren. Ich versuchte, Hoffnung einzuatmen, mehr auf Gerechtigkeit zu drängen. Ich glaube, dass Tanz und Choreografie das Bewusstsein im Atem kultivieren können. Statt mich der Flut an Informationen in der globalen Paniksituation hinzugeben, versuchte ich meine Gegenwart zu spüren. Der lokale Raum navigierte meinen Körper, meinen Geist und meine Seele in unerwartete Richtungen. Die Verortung meiner selbst gab mir einen konkreten Boden, auf dem ich meine künstlerische Forschung beginnen konnte. Ich ließ mich von den lokalen Bedingungen bewegen. Dann wurde ich transparent. Dann wurde ich zum Atem. Für all dies herzlichen Dank an das Europäische Zentrum der Künste HELLERAU, Zentrum für Inspiration, Zentrum der freien Meinungsäußerung, Heim zur Selbstisolierung. Zentrum für soziale Gemeinschaft, Zentrum für geistige Reinigung, Zentrum für kreative Einatmung, Zentrum für künstlerische Ausatmung. Gizem Aksu war im Rahmen des Residenzprogrammes „Be Mobile – Create Together“ von März bis Juni 2020 in HELLERAU und arbeitete hier unter anderem an ihrem Projekt „Archiv der Gefühle“. „Be mobile – Create Together“ wird getragen von Institut français de Turquie, Niederländische Botschaft in der Türkei, Goethe-Institut Istanbul und Istanbul Foundation for Culture and Arts (İKSV). Mehr Infos unter www.hellerau.org/residenzen

23.09.2020

Das Fließen der Zeit, #2 – 2020

Anna Till (AT) und Barbara Lubich (BL) sind zwei von 21 Künstler*innen, die im Rahmen von TANZPAKT Dresden in diesem Jahr eine Recherche-Residenz durchführen. Auf den Schiffen der Sächsischen Dampfschifffahrt wollten sie zum Thema „Zeit“ forschen. Dann kam Corona und die Schiffe fuhren erst einmal nicht mehr. Über ihre Recherche sprachen sie mit Christoph Bovermann, künstlerische Produktionskoordination TANZPAKT Dresden, und Karin Hildebrand (KH), Geschäftsführerin der Sächsischen Dampfschifffahrt. Bei den Residenzen von TANZPAKT Dresden treffen Künstler*innen auf Partner-Institutionen, um dort zu einem bestimmten Thema zu forschen. Das war und ist für uns alle ein Experiment. Mit welchen Erwartungen sind Sie in das Projekt gestartet? KH: Ich hatte erstmal gar keine Erwartungen, aber als ich von dem Vorhaben erfahren habe, fand ich das sehr spannend und wollte wissen, wohin das führen könnte. Unter den veränderten Bedingungen mussten wir ganz neue Mittel und Wege finden. Diesen Prozess fand ich super. BL: Wir hatten erwartet, dass wir viel Zeit auf den Schiffen verbringen würden. Wir wollten das Fließen der Zeit, das Fließen des Wassers erleben. Dann kam alles ganz anders und wir haben eine Erfahrung von Zeit gemacht, die nicht nur die Leute auf dem Boot betraf – plötzlich saß die ganze Gesellschaft in einem Boot und teilte Extrem-Erfahrungen mit Zeit. Da konnte niemand aussteigen. Wie kam es zu dem Recherche-Thema „Zeit“? KH: Für mich ist das Thema Zeit sehr spannend, weil die Zeit auf dem Schiff eine ganz andere ist als an Land, egal ob das ein Dampf-, Hotel- oder Containerschiff ist. Leider müssen wir die Menschen mit Zusatzprogrammen aufs Schiff locken, obwohl die Schifffahrt an sich schon ein sehr besonderes Erlebnis ist. Diese Zeit auf dem Schiff kann man einfach mal auf sich wirken lassen. BL: In unserer letzten gemeinsamen Arbeit („parallel situation“, 2017) haben wir uns mit dem Festhalten vom Augenblick und der Möglichkeit des Erinnerns beschäftigt. In unserem neuen Projekt „EXPERIENCING TIME or How to stand still?“ steht das individuelle Zeitempfinden im Mittelpunkt. Lebensdauer, Ungeduld, Aspekte von Effizienz, das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Freizeit oder die Sehnsucht nach einem Ort außerhalb von Zeitmessung – die Frage nach dem Umgang mit Zeit betrifft jeden. Wir möchten alltägliche Zeiterfahrungen besonderen Erlebnissen mit Zeit gegenüberstellen und dem Publikum die Möglichkeit geben, sich in ein Zeitloch zu begeben. Wie war die Residenz-Zeit für Sie? KH: Ursprünglich dachte ich, dass ich das Projekt viel schneller an meine Mitarbeiter*innen abgeben würde. Durch die stark veränderten Umstände hatte ich dann plötzlich Kapazitäten, um mich mit der künstlerischen Arbeit der beiden zu beschäftigen und sie ein bisschen zu begleiten. Gemeinsam konnten wir dann improvisieren und einen neuen Weg für das Projekt finden. Ich wurde richtig in das Projekt hineingesogen, dafür bin ich dankbar. Das ist auch meine Lebenserfahrung: Man kann viel planen, aber die Pläne gehen meist nie auf – da muss man einfach flexibel bleiben. AT: Die Residenz war für uns wirklich ein Luxus. Das Bedürfnis, künstlerisch zu forschen, ist oft präsent, aber es gibt keine Zeit, kein Geld dafür. Das findet dann eher zwischen Tür und Angel statt oder in Vorbereitung eines Projektantrags. Jetzt hatten wir Zeit, uns auch auf die Sächsische Dampfschifffahrt einzulassen. Ein Partner, der nicht primär im künstlerischen Bereich angesiedelt ist und uns ganz neue Perspektiven auf unser Recherchethema ermöglicht hat. Worin unterscheidet sich hier die künstlerische von der wissenschaftlichen Forschung? BL: Vielleicht liegen da Wissenschaft und Kunst gar nicht so weit auseinander, doch wir haben eine größere Freiheit im Umgang mit dem Recherche-Material. Unser Interesse lag auf der Erforschung des individuellen Zeitempfindens und wie wir dieses reproduzieren oder verändern können. Wir haben viele Gespräche geführt und unseren Interviewpartner*innen sehr persönliche, auch absurde Fragen gestellt. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Ansatz durften diese Fragen eine Richtung vorgeben. AT: Es bleibt Raum für Fantasie, für Science-Fiction, für Übertreibung und Humor. Unsere Recherche wird nicht an wissenschaftlichen Ergebnissen gemessen, sondern folgt unserem Interesse als Künstler*innen. Was nehmen Sie mit aus dieser Zeit? KH: Die Schiffe sind ein Kulturgut, daher würde ich mir wünschen, dass da viel mehr künstlerische Aktivitäten stattfinden. Ich hoffe, dass wir mit diesem Projekt Überlegungen zur kulturellen Nutzung der Schiffe anregen konnten. Vielleicht öffnet das für einige Mitarbeiter*innen auch neue kreative Möglichkeitsräume. Grundlage dafür ist allerdings, dass die Schiffe als Kulturgut anerkannt werden. Wenn ich immer nur Erträge erwirtschaften muss, habe ich weder die Zeit noch den Raum, um solche Initiativen zu unterstützen. Dabei finde ich diese Frage grade spannend: Was können wir mit den Schiffen noch machen? Im Januar 2021 treffen sich die TANZPAKT Resident*innen und weitere Choreograf*innen aus Sachsen zur Winterakademie in HELLERAU, um die Ergebnisse ihrer Residenzen zu reflektieren und sich gemeinsam über künstlerische Arbeitsprozesse auszutauschen. Im Herbst 2021 präsentiert TANZPAKT Dresden zehn Uraufführungen in einem großen Festival in HELLERAU und in der Villa Wigman.

23.09.2020

Zweimal 40 Jahre im Zeichen der Moderne

Was Demokratie und der ausdrückliche Bezug zur Herkunft mit musikalischer Avantgarde zu tun haben? EM sowie OEIN werden Auskunft geben Demokratie und künstlerische Kreativität sind ein schwieriges Paar. Einerseits ist das Recht auf freiheitliche Betätigung unabdingbar für die Entfaltung von Ideen und Konzepten, andererseits braucht deren Umsetzung nicht selten eine Spur diktatorischer Stringenz, um nicht im absichtslosen Chaos auszuufern. Der richtige Mix dieser Faktoren belebt die Kunst jeder Moderne. Und auch der Bezug zur originären Herkunft bedeutet nicht zwangsläufig völkisch eitle Nabelschau und tumb nationalistische Selbstbespiegelung, sondern kann Traditionen bewahren, um sie in eine weltoffene Zukunft zu führen. Zwei auf den ersten Blick (und sowieso beim ersten Hören) höchst unterschiedliche Ensembles betreiben just dieses ambitionierte Herangehen seit nunmehr vierzig Jahren und haben daraus in jeweils sehr eigener Form ihre Markenzeichen entwickelt. Mit den Kürzeln EM und OEIN werden vermutlich nur intime Kenner*innen der Szene etwas anfangen können. Doch wenn vom Ensemble Modern die Rede ist, horchen nicht nur Expert*innen auf. Denn dieses Unikat steht seit seiner Gründung im Jahr 1980 für eine nahezu ungebundene Kreativität, die demokratische Grundlagen ganz für sich auslotet, sie erweitert und immer wieder neu unbegrenzt anmahnt. Just zum Jubiläum war das seit Mitte der achtziger Jahre in Frankfurt am Main ansässige Ensemble aber durch eine voll und ganz amusische Pandemie ausgebremst, musste Konzerte absagen und sich auf den virtuellen, virenfreien Raum zurückziehen. Noch stärker war das bolivianische Ensemble OEIN von der Krise betroffen, denn dieses Orquestra Experimental de Instrumentos Nativos ist von Konzertabsagen und Reiseverboten fern seiner Heimat überrascht worden. Es sollte gemeinsam mit dem Stimmkollektiv PHØNIX16 die MaerzMusik in Berlin eröffnen und gleich darauf in HELLERAU gastieren, saß stattdessen jedoch fast drei Monate lang in deutscher Quarantäne fest. Fern von Familie und Freund*innen, aber immerhin im Schloss Rheinsberg, wo die Mitglieder dieses Projektorchesters ihr spektakuläres Uraufführungsprogramm weiterbearbeitet und vorproduziert haben. Einige der Musiker*innen um Carlos Guttierez waren sogar zum ersten Mal im Ausland, befanden sich also in mehrfacher Hinsicht in einer Ausnahmesituation. Seine Faszinationskraft entfaltet OEIN vor allem durch die Verbindung eines traditionellen Instrumentariums aus dem Andenland mit zeitgenössischem Schaffen. So retten sie seit nun schon vier Jahrzehnten indigene Musik vor dem Vergessen, indem sie durchs Land ziehen und sich traditionelle Spielweisen auf einem überwiegend handgefertigten Instrumentarium vorführen lassen, um diese Klangwelt mit neuen und experimentellen Ausdrucksformen zu erweitern. Darüber hinaus – und das ist wieder höchst demokratisch! – betreibt dieses Ensemble auch eine pädagogische Mission, indem es Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten den Zugang zur Musik ermöglicht. Zum Festival 4:3 im November (vgl. auch Text S. 22) werden die Rheinsberger OEIN-Aufnahmen in Audio-Installationen präsentiert. Auf ein nachgeholtes Konzert darf auch beim Ensemble Modern gehofft werden. Dieses in den vergangenen Jahren wieder regelmäßig in HELLERAU gastierende Urgestein eines Klangkörpers, der klingende Offenheit mit spielerischer Perfektion und ausdrücklichem Wagemut verbindet, wird im Januar 2021 zu „Happy New Ear“ wieder ins Festspielhaus kommen. Mit seinen nunmehr aus neun Ländern stammenden Solist*innen sollte EM ursprünglich im Frühjahr 2020 das vierzigjährige Bestehen feiern, doch auf dem prall gefüllten Terminkalender erschien dann nur noch das Wortpaar „Abgesagt/Cancelled“. Die Hoffnung jedoch stirbt zuletzt. Eine Binsenweisheit, die gerade in den Zeiten eines absolut undemokratischen Virus’ in ganz neuem Licht erscheint. Oder ist nicht gerade das C-Wort Ausdruck vollendeter Demokratie, da es unabhängig von Völkerschaften, Landesgrenzen und sozialem Status zuschlägt? Diese Frage mögen andere klären. Das Ensemble Modern jedenfalls will seine Projekttrilogie „riss“ von Mark Andre nachholen, einen in den Jahren ab 2014erarbeiteten Werkzyklus, der klangliche und kompositorische Zwischenräume erforscht. Gibt es Risse zwischen den Tönen, vielleicht sogar Unerhörtes und Überhörtes? Führen ein Intervall oder eine Synkope zur Zerreißprobe von Stücken, von Stück- und von Höreindrücken? Oder besteht nicht sogar just in einem (stofflichen) Riss auch ein Übergang zwischen verschiedenen Seiten, zwischen gegensätzlichen, gar unüberbrückbaren Polen? Der Forscherdrang des 1964 in Paris geborenen Mark Andre beinhaltet ein Fragen und Suchen, worin weniger das Gegebene denn dessen Werden, Gedeihen und Vergehen zu prüfen sind. Vielmehr greift der Komponist und Klangkünstler auf Urmotive zurück, deren Verformungen und Ewigkeitswerte er bewahrt, bearbeitet und – auf die Zerreißprobe stellt? Solch ein Riss geht durch und durch und ist, wenn nicht trennend, wenn nicht verbindend, so doch vermittelnd. Welche Mittler könnten sich der Komponist und sein Publikum mehr wünschen als erfahrene Expert* innen wie das Ensemble Modern? „Happy New Ear“ lässt nun hoffentlich bald aufhorchen, was im Frühjahr 2020 verpasst worden ist. Möglicherweise ist dieser Riss im Konstanten, Gewohnten ja durchaus ein Erfahrungsgewinn für Demokratie und künstlerische Kreativität?