+++ online +++ Zum 85. Geburtstag von Helmut Lachenmann:
… zwei Gefühle … – Musik mit Leonardo, Ensemble der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber
Streaming des Workshop-Konzerts vom 07.11.20 aus dem Konzertsaal der HfM Dresden
Der vom Sprecher zu artikulierende Text Leonardo Da Vinci’s – in deutscher Übersetzung von Kurt Gerstenberg – ist gleichsam ein eigenes „Musik-Instrument“: eine ins musikalische Geschehen integrierte phonetische Klangquelle.
1. Er spricht im ersten Teil von den Naturgewalten, dem donnernd brüllenden, stürmischen Meer, den Eruptionen der Vulkane in Süd-Italien, Stromboli, Aetna, den glühendenden Höhlen von Mongibello, den Ausbrüchen des „herausgespieenen schlecht verwahrten Elements“, die „jedes Hindernis verjagen, das sich ihrem ungestümen Wüten entgegenstellt“. Dem entspricht der gewaltsame, eruptive Charakter des Anfangs.
2. Im folgenden Abschnitt – vielleicht eine Art „Rezitativ“ – vergleicht Leonardo diese Naturgewalten mit der Unruhe seines Herzens, „getrieben von meiner brennenden Begierde, das große Durcheinander wahrzunehmen, das die sinnreiche Natur hervorgebracht hat“.
Darnach schweigt der Sprecher, die Musik wird ein Stück weit nicht dirigiert, wird zur „Situation“, in der die Töne rhythmisch ungesteuert herein „tropfen“. Jeder Spieler zählt für sich allein bei extrem langsamem, vom Dirigenten zu Beginn des Abschnitts vorgegebenem Puls: Achtel = 63. Der Dirigent fängt zwischendurch das entstehende „Durcheinander“ in Fermaten auf, um dann das Ende dieses Abschnitts wieder in Ruhe zu dirigieren.
3. Die Musik „kommt“ wieder „in Gang“, sie begleitet den Erzähler auf seiner Wanderung durch die „schattigen Klippen“ (es gibt zwei „Echo-Rufe“ nämlich von 1. Trompete und von Tuba ins – pedalisierte – Gehäuse des Flügels)
4. … bis der Wanderer vor den „Eingang einer großen Höhle“ gelangt, vor der er „im Gefühl der Unwissenheit“ eine Weile verharrt, „die müde Hand aufs Knie gestützt“ – und er versucht vergeblich, in die Höhle hineinzublicken, um in ihrer Finsternis etwas zu unterscheiden.
5. „…als ich aber eine Weile verharrt hatte, erwachten in mir zwei Gefühle – Furcht und Verlangen: Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber, mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte“.
Das klingende Geschehen wird – bei aller Komplexität – immer stiller, zugleich immer gespannter. Den fff-Schlag am Ende habe ich seinerzeit aus der Zen-buddhistischen Lehrpraxis übernommen, in welcher der Meister dem Schüler auf dessen Frage nach dem Weg zur Erkenntnis als Antwort einen Schlag versetzt. (Der Schüler bekommt „eine geleuchtet“, und – ist erleuchtet…)
Helmut Lachenmann
Nicolas Kuhn (1989) ist Komponist und Dirigent. Er studierte in Dresden und Düsseldorf, u.a. bei Mark Andre, Manos Tsangaris und Rüdiger Bohn.