03.03.2020

#WOD Requiem für die Zukunft – Lesung in HELLERAU

Am 07.02.2020 – ein Wochenende vor dem 75. Jahrestag der Kriegszerstörung Dresdens im Februar 1945 – wurden im Rahmen der Bus-Tour von „Requiem für die Zukunft“ des Bündnisses für ein Weltoffenes Dresden Besucher*innen von HELLERAU mit auf eine fiktive Zeitreise genommen. Eine Lesung über die Gartenstadt der 1930er Jahre und die Geschichte des Festspielhauses im Nationalsozialismus, ein historisches Diorama, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. Hier finden Sie den vollständigen Text der Lesung zum Nachlesen:

„Und würde auch gerne neben ihm laufen“

Mein Name ist Hans, ich wohne in Hellerau, der Gartenstadt von Dresden. Deutschland hat den Krieg begonnen, wovon hier noch nicht viel zu merken ist. Ich schreibe Tagebuch und habe vor kurzem meine Erinnerungen aus dem Jahr 1934 wiederentdeckt. Damals war ich 11 Jahre alt und ich berichtete von den Erlebnissen, die sich ereigneten und mich bewegt haben: Es ist der 25. Mai 1934 und das größte Ereignis des Jahres steht bevor, der Führer Adolf Hitler wird Dresden besuchen, weil hier die Reichstheaterfestwoche stattfinden wird. Meine Eltern sind schon sehr gespannt darauf, und ich freue mich auch ein bisschen den Führer zu sehen, auch wenn ich noch gar nicht so genau weiß, was ein Führer ist und was ein Führer macht. Bei uns im Klassenzimmer hängt seit dem letzten Jahr ein Bild von ihm; er schaut darauf immer sehr streng. Unser Lehrer sagt immer, dass wir für ihn lernen und arbeiten sollen, damit Deutschland wachsen kann. Seit diesem Jahr bin ich ein Jungvolkjunge. Mein Vater erzählte immer von seinen Erlebnissen beim Wandervogel, was ich spannend fand und deshalb wollte ich auch mit meinen Freunden Abenteuer erleben. Mein großer Bruder ist schon in der Hitlerjugend, er erzählt häufig von seinen Fahrten ins Zeltlager, bei denen er viel Sport macht, boxt und sogar schießen darf. Ich hoffe, ich lerne auch bald zu schießen. Meine ältere Schwester will Tänzerin werden, sie geht jeden Tag in die Tanzschule von Frau Marsmann, aber meine Mutter möchte lieber, dass sie Kindergärtnerin oder Lehrerin wird. Meine Mutter ist nämlich auch Lehrerin, aber sie kann jetzt nicht mehr arbeiten, da ein neuer Lehrer ihre Klassen übernommen hat. Es war irgendwann vor Weihnachten, als sie ganz aufgelöst nach Hause kam und erzählt hat, dass es ein neues Gesetz gibt und es dadurch sein kann, dass sie nicht mehr arbeiten darf. Vater hatte sich noch darüber lustig gemacht, dass sie nicht so ängstlich sein soll. „Das wird schon nicht passieren“, hatte er gesagt und zur Not bekommen wir etwas mehr Geld vom Staat. Wenn Mutter zu Hause bleiben muss, würde sie auch unterstützt werden. Aber ihr geht es nicht um das Geld, sie ist gern Lehrerin. Und jetzt ist es doch passiert und darüber ist meine Mutter sehr traurig. Mein Vater tröstet sie immer und sagt, er werde mehr arbeiten, er ist Tischler bei den Deutschen Werkstätten. Unsere Nachbarn schmücken ihre Vorgärten schon für die Festwoche, sie haben extra kleine schwarz-rote Fähnchen geholt und stecken sie in die Hecken und an die Gartenzäune. Klaus, unser Nachbar, wird das Fest nicht mehr mitfeiern. Er will aus Hellerau wegziehen, mein Vater sagt, das macht er, weil er Marxist ist. Ich habe Klaus gefragt, warum er wegziehen muss, nur weil er Marxist ist und er sagte mir, dass er hier nicht bleiben kann, weil er keine Arbeit mehr hat und seine Frau hier nicht glücklich ist. Ich mochte Klaus und seine Frau, sie hatten einen Teich im Garten und im Sommer habe ich öfter, wenn Vater nicht da war, mit Klaus zusammen Libellen beobachtet und seine Frau hat uns Limonade gemacht. Klaus und mein Vater waren früher beide bei den Naturfreunden. Bestimmt weiß Klaus deshalb soviel über Tiere und Pflanzen. Ich finde es komisch, dass der Lehrer in der Schule immer das Gesicht verzieht, wenn ich von den Tieren erzähle und Klaus erwähne, von dem ich etwas über sie gelernt habe. Das kam ganz plötzlich so, vorher hat er nicht abschätzig geschaut. Der Vater von Klaus war der Schiedsrichter bei uns im Fußballverein. Ich fand den alten Erich oft sehr ernst, aber zu uns war er trotzdem freundlich und es gab auch immer eine Limonade nach dem Spiel. Seit dem letzten Jahr ist er nicht mehr Schiedsrichter und den Verein haben sie verboten. Sie sagen: auch das sind Marxisten und sie seien gegen unseren Führer. Dem alten Mann kamen immer die Tränen, sagt Klaus, wenn er davon erzählt hat. Wie sie eines Nachts kamen und alles mitgenommen hätten, die Kasse, die Turngeräte, und dann waren alle Türen zu gesperrt … und auch die Naturfreunde gibt es seitdem nicht mehr. Die Turngeräte stehen jetzt in der Schule. Schiedsrichter ist jetzt so ein junger, mit kurzen rasierten Haaren und dicken Armen, er ist mir immer ein bisschen unangenehm. Ich finde es sehr schade, dass Klaus gehen wird, wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen. Meine Schwester sagt, auch die Frau Menzler, die sie manchmal beim Tanzen beobachten durfte, zieht weg. Und noch ein anderer Freund von mir muss aus der Gartenstadt gehen, er heißt Jakob, seinem Vater gehört der Laden, wo wir immer Gemüse kaufen. Jakob ist Jude und deshalb wollen er und seine Familie nicht mehr hier bleiben, vielleicht gehen sie auch ganz weg aus Deutschland. Erst letzte Woche haben Leute wieder was am Geschäft gemacht. Manchmal kommen sie nachts und schmieren was an die Wand und am nächsten Tag steht dann zum Beispiel: „Verzieht euch!“ Aber sie schreiben auch tagsüber an das Geschäft, einmal habe ich sogar jemanden gesehen, als ich nachmittags vorbei gelaufen bin und ich habe mich hinter einem Strauch versteckt. Der hat sich die ganze Zeit umgeschaut, damit ihn niemand beobachtet. So als ob er sich vielleicht irgendwie dafür schämt. Und dann ist er ganz schnell weggelaufen, als ob er nichts gemacht hätte. Ich hab‘ meiner Mutter aber nichts davon erzählt. Und Jakob zu fragen, habe ich mich nicht getraut. Er ist sowieso ganz still geworden in letzter Zeit. Manchmal erzählt er, dass sein Vater die ganze Nacht in der Küche herumläuft und nicht schlafen kann und immer das Gleiche vor sich hinspricht und seine Eltern sich oft streiten. Jakob mag dann manchmal nicht mehr essen. aber darüber spricht er nur selten. Zu den Treffen vom Jungvolk, wo die meisten von den anderen Jungs sind, kommt er nicht mit. Ich glaube, er will auch nicht. Ich lerne in der Schule und beim Jungvolk, dass Juden schlecht sind, aber mein Freund Jakob und seine Eltern sind nicht schlecht, das sagt auch meine Mutter. Jetzt ist es ein Tag vor dem Beginn der Theaterfestwoche und am morgigen 29. Mai soll ein großes Fest hier in Hellerau stattfinden, wir haben für diesen Tag extra schulfrei bekommen, damit alle Kinder teilnehmen können. Der Jungvolkchor wird auch an diesem Fest singen, ich singe mit und war bei jeder Probe. Von unserem Chorleiter haben wir gesagt bekommen, dass wir in kurzer Hose und Hemd kommen sollen, wenn unser Chor zur Theaterwoche singt. Die Gemeinde und die Schule haben aber kein Geld, um uns die neuen Sachen zu kaufen und deshalb müssen unsere Eltern das bezahlen. Er sagt: „das ist eine ehrenvolle Pflicht und eure Eltern machen das bestimmt gern“. Ich möchte auf jeden Fall eine kurze Hose tragen. Nur einen Hut möchte ich nicht tragen, ich mag nämlich keine Hüte. Wenn ich Glück habe, darf ich die Fahne mit unserem Abzeichen tragen und ganz vorn in der ersten Reihe marschieren. Doch heute ist noch Wochenende und wir unternehmen alle zusammen etwas, so wie wir das meistens am Wochenende machen. Ich wollte gern in den Zoo, aber Vater meinte, er müsse noch etwas für das Fest vorbereiten und deshalb kann es nur ein kleiner Ausflug werden. Deshalb haben wir einen Spaziergang gemacht, von Hellerau aus Richtung Prießnitz und den Fluss entlang. Auf dem Nachhauseweg hat Vater uns die neuen Häuser der Deutschen Werkstätten gezeigt, sie sind fast fertig. Nur an einem wird noch gestrichen. Und die kleinen Gärtchen drumherum sind auch schon schön gepflanzt. Sie stehen am Sonnenhang, nicht weit weg von unserm Haus. Vor einem Jahr hat da noch nichts gestanden, aber jetzt ist da eine ganz neue Straße entstanden. Sie sehen ganz anders aus als viele andere Häuser hier in der Gegend. Es sind Holzhäuser in verschiedenen Größen und für unterschiedlich große Familien. Vater sagt, wir könnten uns gerade mal das kleinste Haus leisten, aber das würde nicht für uns alle reichen. Er sagt, dass sie auch schon fast alle verkauft sind, an Leute, die aus der Stadt an den Stadtrand ziehen wollen, Professoren und Beamte. Meine Geschwister und ich schauen durch das Fenster eines der Holzhäuser, es ist alles möbliert und sieht aus, als ob schon Menschen drin wohnen würden. Manche Holzmöbel erkenne ich wieder, die habe ich schon in Vaters Arbeitsräumen gesehen. Mutter sagt, wir können uns die Häuser noch mal ansehen, wenn sie als Ausstellung eröffnet werden. Vater sagt, sie hätten seit diesem Jahr richtig viel zu tun auf Arbeit, gerade bauen sie eine neue Halle für neue Maschinen, um das Holz zu trocknen und damit noch mehr Holz verleimt werden kann. „Der Herr Direktor hat Großes vor“, erzählt er immer. „Er ist jetzt viel unterwegs, um neue Flächen für neue Fabrikhallen zu finden, sogar im Erzgebirge. Denn es wird viel Platz gebraucht. Und oft kommen jetzt wichtige Herren in die Werkstätten, auch welche von der Partei.“ Vaters neuer Vorarbeiter ist auch einer von der Partei, den alten hatten sie entlassen. Vater meint, er hätte seine Arbeit sehr gut gemacht und alle hätten ihn ernst genommen, aber er hat den Neuen nicht gepasst. Und den neuen Vorarbeiter nennt er immer einen „Armleuchter“, aber er will sich nicht mit ihm anlegen und macht lieber seine Arbeit. Er muss jetzt auch mehr arbeiten als früher und bekommt zur Zeit auch keinen Urlaub. Meine Mutter schaut ihn auch immer ein bisschen komisch von der Seite an, wenn er abends beim Essen erzählt, was sie heute alles auf Arbeit gemacht hätten und dass sie jetzt die Gefolgschaft sind. Denn so würden jetzt die Arbeiter genannt, ich weiß, dass ihm dass nicht so passt, auch wenn er es nicht erzählt. Vater erzählt, dass die Werkstätten jetzt für den Gauleiter arbeiten und sogar Möbel für Schiffe bauen: Ich möchte auch mal auf so einem Schiff mitfahren. Wir waren noch nie am Meer, auch nicht an der Ostsee. Nur mein Bruder durfte letztens mal weiter wegfahren: in die Berge mit den anderen Hitlerjungen, ins Lager, so mit Feuer und Zelten und Räuber-und-Gendarm-Spielen. Auf dem Marktplatz werden sogar heute noch Vorbereitungen für das Fest getroffen, es werden Fähnchen an die Häuser und Geschäfte gehängt. Der Laden, der Jakobs Vater gehört hatte, ist schon komplett leer und ein neues Schild, auf dem steht „Gemüse von deutschen Äckern“, hängt über der Tür. Am Abend habe ich noch mal Chorprobe. Am Sonntag nun ist es endlich soweit, die Reichstheaterfestwoche wird eröffnet, meine Eltern, meine Schwester und ich fahren alle mit der Straßenbahn in die Stadt zum Adolf-Hitler-Platz vor der Semperoper. Sonst fahren wir selten Straßenbahn, und laufen das ganze Stück, aber heute möchten wir schnell sein. Das ganze Fest beginnt mit einem Umzug verschiedener Organisationen; ich sehe Mädchen vom „Bund deutscher Mädel“, ich sehe die Hitlerjungen und da, da ist mein Bruder. Ich winke ihm zu und rufe, aber er ist mit Laufen, gerade-nach-vorn-Blicken und Armheben beschäftigt. Ich freue mich für meinen Bruder und würde auch gerne neben ihm laufen. Ich bewundere ihn, wie er da ganz stramm läuft; ganz erwachsen sieht er aus und ich frage mich, ob ich auch mal so toll aussehen werde wie mein Bruder? Mutter hat Tränen in den Augen, wenn sie ihm zusieht. Mitten im Umzug, von Fahnenträgern umgeben, fährt ein schwarzes offenes Auto, Vater ruft: „da kommt der Führer!“ Alle Menschen fangen an zu rufen und ihren Arm zu heben. Es wird unglaublich laut, der Führer steht in seinem Auto und winkt den Massen zu. Ich sehe zum ersten Mal den Führer Adolf Hitler, dennoch weiß ich immer noch nicht so genau, was er macht und warum ihm alle so zujubeln. Er ist immer noch so ernst, wie auf dem Bild in der Schule und ich dachte, er würde auch mal lachen, aber vielleicht kann er das gar nicht, wenn er so wichtig ist und so viel zu tun hat. Das Auto fährt weiter und hält vor der Semperoper, es werden verschiedene Reden gehalten, von denen ich aber nicht so viel verstehen kann, da der Platz so voll ist; dann verschwindet der Führer mit anderen Leuten in der Oper. Mutter sagt: „die schauen sich jetzt eine Oper an, so wie es auch bei dem Fest in Hellerau in zwei Tagen sein wird.“ Wir fahren nach Hause zurück, ich habe den ganzen Abend noch die Bilder der Eröffnung in meinem Kopf, ich sitze in meinem Zimmer, schaue aus dem Fenster und denke mir, ob es in zwei Tagen auch so sein wird? So viele Menschen, alle jubeln, und der Führer, kommt er auch? Ich höre meinen Bruder aus der Küche erzählen, er ist ganz aufgeregt und berichtet meinen Eltern von seinen Eindrücken, wie er marschiert ist, wie er sich positionieren musste und dass der Führer an ihm vorbeigelaufen ist und allen zugenickt hat. Jetzt ist es nur noch ein Tag bis zu dem großen Fest in Hellerau, ich habe das Gefühl, dass alle Anwohner in Hektik sind und die letzten Vorbereitungen treffen. Ich finde, in unserer Straße wollen sich die Nachbarn besonders viel Mühe geben beim Schmücken und Dekorieren. Alle haben ihre Fensterbretter bepflanzt. Mutter hat auch noch neue Geranien für die Blumenkästen gekauft, sie sagt, sie hätte die letzten roten bekommen. Sie findet, es müssten unbedingt rote sein. Als ich von der Schule komme, sehe ich die Proben für die Festveranstaltung. Auch mein Chor hat noch eine letzte Generalprobe. Ich hoffe, ich kann mir die Texte merken. Vor dem Abendessen muss ich meiner Mutter noch schnell helfen, die Fahne zu befestigen, bevor es dunkel wird. Sie hat heute Abend noch viel vor: zwei Kuchen backen, die Hemden für uns bügeln und alles zurecht legen für morgen. Vater kam dann auch erst spät nach Hause und Mutter hatte ganz vergessen, ihm das Essen in der Kiste warm zu halten; da hat er sich ein bisschen aufgeregt. Er musste heute länger in den Werkstätten arbeiten, wie an den letzten Wochenenden auch schon, um eine Holzkrone fertig zu bauen. Sie soll mit Blumen und roten und weißen Bändern geschmückt auf dem Marktplatz aufgestellt werden. Und morgen früh, ganz zeitig, muss Vater sie mit aufstellen helfen, bevor alles losgeht. Ich finde es schade, dass Vater jetzt immer so lange in den Werkstätten arbeiten muss und erst in der Nacht nach Hause kommt. Am nächsten Tag ist er auch oft müde und hat kaum Zeit für uns, aber sonntags unternehmen wir trotzdem immer etwas, auch wenn es für ihn anstrengend ist. Dann ist es soweit, ich werde sehr früh wach, sehe einen strahlend blauen Himmel und Sonnenschein und denke mir, dass kann nur ein guter Tag werden. Ich laufe zu den Hellerauer Werkstätten, denn da soll die Zeremonie beginnen. Es sind schon die Kapelle der Werkstätten, die HJ, die Schuljugend der Bund deutscher Mädel, die Gartenstadt-Verwaltung, die Gemeindeverwaltung und der Chor des Jungvolks versammelt. Wir werden alle positioniert und dann setzt sich die marschierende Menge in Bewegung. Zuerst die Gartenstadt- und Gemeindeverwaltung, dann die Kapelle, die auf dem Weg zum Festspielhaus fröhliche Lieder spielt, dahinter unser Chor des Jungvolks und anschließend die Hitlerjugend und BdM. Wir laufen vorbei am Marktplatz mit der geschmückten Krone, am Sonnenhang und am Gondler – wo ich im Winter immer rodeln gehe – und gefühlt nach jeder Straße, die wir passieren, folgen uns immer mehr Menschen und schließen sich dem freudigen Marsch an. Dann endlich sind wir am Ende des Heidewegs angekommen und man sieht schon das festlich geschmückte Festspielhaus und den geschmückten Adolf-Hitler-Platz, auf dem nun alle zusammenkommen. Der Chor steht auf der Bühne neben der Kapelle der Werkstätten, ich habe das Gefühl, dass das Festspielhaus und der Vorplatz noch nie größer und schöner ausgesehen haben. Dann passiert etwas mit der Menge, alle drehen sich zur Straße um und beginnen zu jubeln; sofort beginnt die Kapelle das „Deutschland-Lied“ zu spielen. Ein schwarzer Wagen fährt langsam den Adolf-Hitler-Platz hinauf. Es steigt ein Mann aus, der nicht aussieht wie der Führer, den ich vor zwei Tagen gesehen habe. Die Jungen neben mir fangen an zu tuscheln „das ist Herr Goebbels“. Ich frage, wer das ist und einer antwortet mir: „das ist der zweite Führer“. Der Chor fängt an zu singen, danach werden Reden gehalten, erst vom Bürgermeister, dann vom Ortsgruppenleiter der NSDAP, dann kommt der Herr Direktor von den Werkstätten, und er redet von der neuen Zeit, die jetzt anbricht und wie sehr er die Menschen wieder zu Menschen machen will durch deutsches Bauen und deutsches Wohnen. Er sagt, alles wird durch Arbeit und Erziehung ab jetzt wieder seine Ordnung haben; und mir fällt ein, dass unser Lehrer das auch immer sagt. Und dann kommen auch noch der Herr Schöne, von der Spritzenfabrik und der alte Strobel, und sie reden und ich langweile mich beim Zuhören. Und schließlich spricht der zweite Führer. Er sagt, dass er sich sehr freut, hier zu sein und wie schön unsere Gartenstadt aussieht, und dass der Direktor Schmidt viel für das Deutsche Volk getan hätte. Für die Volksgesundheit, weil er Hellerau, eine Gartenstadt gegründet hat. Er sagt: „Hellerau ist von deutschester Art und ein Vorbild für das Reich und ganz Deutschland kann sich ein Beispiel an der Gartenstadt nehmen, und wie sie dem Führer gefallen würde;“ auch sagt er, dass er sich vorstellen kann, aus dem Festspielhaus eine Akademie der Oper und der Schauspielkunst zu machen und dass morgen vielleicht der Führer nach Hellerau kommen wird. Daraufhin jubelt die Menge und die Kapelle spielt ein Ständchen. Noch einmal singt der Chor, es ist das Horst-Wessel-Lied und währenddessen laufen Herr Goebbels, der Bürgermeister und die anderen wichtigen Personen in das Festspielhaus. Allerhand Leute drängen sich zu Herrn Goebbels und überreichen ihm Blumen. Ich laufe zu meinen Eltern und meiner Schwester, die ich schon von der Bühne aus gesehen habe. Meine Mutter lobt mich und ich frage: „wird jetzt wieder eine Oper angeschaut?“ Meine Mutter nickt mir lachend zu und ein Mann neben uns ruft: „Ja, endlich werden hier wieder Opern aufgeführt und nicht dieser komische Tanz, den keiner versteht und dieser Schweizer kann auch bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ Wieso sagt der Mann das? Wieso komischer Tanz? Meine Schwester liebt es zu tanzen und sie schwärmt immer davon, wie schön es wäre auf der Bühne des Festspielhauses oder auf anderen Bühnen zu tanzen. Meine Schwester schaut meine Mutter traurig an und mein Vater sagt: „kommt wir gehen.“ Sie sagt zu meiner Schwester, dass sie das ganz toll findet, mit dem Tanz, und vielleicht klappt es ja in der Schule von Frau Marsmann, dass sie dort eine berühmte Tänzerin wird. „Und außerdem“, sagt sie, „habe ich vorhin gesehen, wie die Frau Marsmann mit einem Strauß Blumen zu Herrn Goebbels geganngen ist. Der findet Tanz und Gymnastik bestimmt auch ganz toll.“ Wir laufen einen längeren Weg nach Hause, vorbei an der Feuerwehr auf dem Schulweg. Dort sitzt die Kapelle im Schatten – die haben ja auch mächtig Krach gemacht. So viel, dass der Kopf von einem schon ganz rot angelaufen ist und er herumschwankt, dass er bestimmt gleich hinfällt. Ob der Führer wohl morgen kommt und sie dann auch wieder Musik machen? Es war komisch diese Zeilen zu lesen und sich daran zu erinnern. Jetzt sind fünf Jahre vergangen, ich bin 16 und wie schon erwähnt ist Deutschland im Krieg. So etwas wie die Reichstheaterfestwoche hat nicht noch einmal in Dresden stattgefunden. Ich bin mittlerweile bei der HJ, so wie es mein Bruder war; der ist jetzt bei der Wehrmacht. Zurzeit sind sie an der Ostsee stationiert. Meine Mutter arbeitet immer noch nicht wieder als Lehrerin, aber sie hat eine ehrenamtliche Tätigkeit bei der Gemeinde. Mein Vater ist noch bei den Hellerauer Werkstätten beschäftigt. Meine Schwester ist nun doch Kindergärtnerin geworden und hat das Tanzen aufgegeben, weil ihr Frau Marsmann gesagt hat, sie hätte zwar Talent, aber das Volk brauche jetzt Kinder und Erzieherinnen, und ob das nicht das Bessere für sie wäre. Darüber hat sich meine Schwester sehr geärgert, aber sie hat sich dann doch umentschieden. Ihr großer Traum im Festspielhaus zu tanzen, wäre eh nicht in Erfüllung gegangen, weil da seit zwei Jahren die Wehrmacht stationiert ist, es wurden sogar zusätzliche Gebäude für die Unterbringung der Soldaten gebaut. Generell ist in Hellerau sehr viel Militär stationiert, der Heller ist gesperrt und von den frühen Morgenstunden bis in die Nacht finden Schieß- und Flugübungen statt. Einige unserer Nachbarn sind schon weggezogen, weil sie den Lärm hier nicht mehr aushalten. Ich finde es eigentlich immer noch schön hier zu wohnen, ich habe meine Freunde, die Organisation, es gibt viele Feste. Wir fahren jetzt auch immer mit den anderen Hitlerjungen in die Berge, ins Lager, so wie mein Bruder das auch durfte, und wir turnen dort sehr viel und ich fühle mich dann schon ganz wie ein Mann. Waffen durften wir auch schon tragen. Eine der schönsten Veranstaltungen, die in diesem Jahr stattfand, war das Hellerauer Marktfest. Ich durfte dieses Mal sogar die Fahne tragen, ganz vorn…

14.01.2020

Gesichter in HELLERAU – Sybille Grießbach, Objektleiterin der POWER PERSONEN-OBJEKT-WERKSCHUTZ GmbH, #1 – 2020

In unserer neuen Reihe „Gesichter“ stellen wir künftig Menschen vor, die vor oder hinter den Kulissen dafür sorgen, dass im Haus alles reibungslos funktioniert und sich unsere Gäste hier wohlfühlen.

Sybille Grießbach Objektleiterin der POWER PERSONEN-OBJEKT-WERKSCHUTZ GmbH

Seit wann arbeitest du in HELLERAU und was sind deine Aufgaben? Ich arbeite hier seit 2011, also seit acht Jahren. Im Auftrag der POWER PERSONEN-OBJEKT-WERKSCHUTZ GmbH bin ich die Verantwortliche für HELLERAU. Ich erstelle die Dienstpläne für das gesamte Personal vom Besucherservice und kümmere mich um die Fortbildungen. Regelmäßig verkaufe ich im Besucherzentrum Tickets und bin für die Kassenabläufe verantwortlich. Darüber hinaus übernehme ich Vorderhausleitung, Abendkasse und Einlass – ich bin quasi an jeder Stelle einsetzbar. Was findest du in HELLERAU so besonders? In HELLERAU herrscht eine angenehme Atmosphäre. Mit dem Team von HELLERAU kann ich mich über alle Fragen schnell und auf kurzem Dienstweg verständigen. Mitdenken ist hier ausdrücklich erwünscht. Besonders toll finde ich das abwechslungsreiche Programm, das es in dieser Vielfalt sonst nirgendwo in Dresden gibt. Auch den sehr persönlichen Kontakt zu den Kunden finde ich spannend. Wie erlebst du das Publikum in HELLERAU? Früher hatten wir in HELLERAU viele Stammgäste. Seit Carena Schlewitt Intendantin ist, merken wir, dass neben dem Stammpublikum viele jüngere, neue und interessierte Menschen nach HELLERAU kommen. Was war dein beeindruckendes Erlebnis hier? Beeindruckend fand ich zum Beispiel Nik Bärtsch‘s Mobile (2016). Auch Bandstand ist jedes Jahr ein Erlebnis. Dieses Jahr war „MASSE“, das Tanzstück der Tanzklassen und des Jugendsinfonieorchesters vom Heinrich-Schütz-Konservatorium, ein echtes Highlight. Die Verbindung von Musik und Tanz fand ich super. Und das Stück hat besonders gut gezeigt, dass HELLERAU ein lebendiges Haus ist.  

14.01.2020

Schulprojekte in HELLERAU – Lehrerinnen berichten, #1 – 2020

Kunst zum Anfassen „Die Besuche mit den Mädchen und Jungen in HELLERAU sind immer ein besonderes Erlebnis, weil sie stets interaktiv stattfinden. Das geht über das ,Zuschauen‘ hinaus. Ob wir im Anschluss an Aufführungen nochmal mit den Künstlerinnen und Künstlern ins Gespräch kommen, Workshops mit ihnen durchführen oder hinter die Bühne schauen dürfen – diese ,Kunst zum Anfassen‘ lässt Momente sinnlichen Erlebens entstehen, in denen Kinder ihre Welt neu entdecken und verstehen lernen.“ Alexandra Starosta Hort der 82. Grundschule, Dresden-Klotzsche Einlassen auf Unvorhergesehenes „HELLERAU ist ein anregender Ort. Tradition und Avantgarde sind hier fassbar verknüpft und bei jedem Besuch spürbar. Aufführungen der Dresden Frankfurt Dance Company haben unsere Vorstellungen von Tanz und Ballett völlig verändert. Eigene Bewegungsschulung, geschärfte Beobachtung und ganz neue Ansätze zur Ausdruckssteigerung haben wir bei Workshops mit Tänzer*innen und Choreograf*innen in HELLERAU oder in unserer Schule erleben dürfen. Und das Geometrische Ballett von Ursula Sax und Katja Erfurth hat mit den lebendigen und doch im Bewegungsspiel eingeschränkten Tanzskulpturen erneut eine andere Dimension eröffnet, die auf der großartigen Appia-Bühne mit genialer Beleuchtung und herausragender musikalischer Begleitung jeden Aufwand rechtfertigt, Schüler auch in Zukunft zu ermutigen, trotz weiter Wege nach HELLERAU zu fahren.“ Gaby Bachmann Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium Pirna-Copitz Kreativität und Bewegung „Bei meiner Arbeit als Lehrerin an der Astrid Lindgren Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist es selbstverständlich, die Schüler*innen mit allen Sinnen anzusprechen. Alles ist bei uns so anschaulich und lebensnah wie nur möglich. Kreativität und Körperbewegung sind unabhängig von Alter und Wissensstand und bieten viele Möglichkeiten, die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu fördern. Wie gut das für unsere Schüler*innen auch außerhalb der Schule gehen kann, konnten meine Kolleginnen und ich mit einer unserer Klassen bei der Teilnahme am Projekt „home sweet home“ in HELLERAU (September 2019) erleben. Hier konnten alle ihr eigenes Haus kreieren, Musikwünsche beim Radio abgeben und sogar einen Laden eröffnen. Einfache Sprache, Klarheit und genügend Möglichkeiten für alle zum individuellen Gestalten machten Lust zum Loslegen.“ Luise Matzat Astrid Lindgren Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung  

14.01.2020

Auf zu neuen Horizonten, Von Nicole Aurich & Frieda Pirnbaum, KOST, #1 – 2020

Seit September 2019 gibt es in HELLERAU erstmalig einen Lehrer*innenclub „Tanz und Performance neu entdecken“. Lehrer*innen machen sich hier unter Anleitung von verschiedenen Theaterkünstler*innen und Tänzer*innen auf den Weg, neue Ästhetiken, Arbeitsweisen und Methoden zu erkunden, die sie für ihre (künstlerische) Arbeit in der Schule nutzen können. Dieser Ansatz ist in jeder Beziehung neu und selten, denn wenn man die Reduzierung von künstlerischen Fächern an Sachsens Schulen und die zunehmend erschwerten Rahmenbedingungen für ein fächerverbindendes und projektorientiertes Arbeiten bedenkt, ist das ein besonderes Engagement, dem unterschiedliche Motivationen zu Grunde liegen. HELLERAU steht für interdisziplinäres Arbeiten, für aktuelle Thematiken und diverse künstlerische Teams. Die Lehrer*innen möchten diese neuen Ästhetiken und künstlerischen zeitgenössischen Formen, die den Schüler*innen und dem jungen Publikum vielleicht noch neu und fremd sind, für sich entdecken und erschließen. Performance und Tanz der Freien Szene können für die schulische Arbeit relevant sein, da sie auf eine Organisationsstruktur aufbauen (können), die demokratischen Prinzipien folgt, die die Geschichten der Einzelnen hört und dennoch „live“ im Kollektiv entsteht und die vom Körper und konkretem Handeln ausgeht. All das sind Aspekte, die – unabhängig vom eigenen künstlerischen Produzieren im Schultheater – für die Schule unserer Zeit relevanter werden sollten. Die Ganzheitlichkeit des Lernens wird in vielen Lern-Settings zugunsten von schnell abfragbarem Wissen und unter dem Zeitdruck eines prall gefüllten Lehrplans in Frage gestellt. Darüber hinaus zeigt sich auch die Notwendigkeit eines demokratischen Miteinanders, insbesondere in der Schule sowie der Schaffung von gemeinsamen Erlebnissen und Ergebnissen. Der Club bietet den teilnehmenden Lehrer*innen neue Erfahrungen und Zugänge, und er erzählt umgekehrt der Institution HELLERAU etwas über die Diversität und Ausgangslage an Schulen. Er beschreibt die Zugänge, die es für einen Theaterort und die Künste Tanz und Performance braucht, um die Bezeichnung als Elfenbeinturm in Frage zu stellen und auch einen Ort der Kulturellen Bildung zu schaffen. Wir freuen uns als Fachstelle KOST – Kooperation Schule und Theater in Sachsen, diesen Dialog und Perspektivwechsel mit einem für Dresden so wichtigen und inspirierenden Ort wie HELLERAU gemeinsam zu denken und zu gestalten. KOST – Kooperation Schule und Theater ist eine Initiative zur Kulturellen Bildung an sächsischen Schulen in der Trägerschaft der Landesbühnen Sachsen. Ziele sind die Stärkung und qualitative Weiterentwicklung des Schultheaters, Kooperationen zwischen Schulen und Theaterschaffenden. KOST möchte bestehende Schultheaterstrukturen ausbauen, unterstützen, vernetzen und alle Beteiligten wie Lehrer*innen, Schüler*innen, Theaterpädagog*innen und Künstler*innen fachlich und organisatorisch begleiten. Wir danken dem Landesamt für Schule und Bildung für die Unterstützung des Lehrer*innenclubs.

14.01.2020

„Hier gehört man mit dazu“, Gabriele Gorgas, #1 – 2020

Dass HELLERAU ein ganz besonderes, sehr eigenes Publikum hat, beweist sich praktisch jeden Tag. Und es ist auch auffällig, wie es sich seit einiger Zeit weiter verjüngt hat. Da lässt sich durchaus von einem „nachwachsenden“ Interesse sprechen. Doch das gibt noch keine Garantien. Zumal HELLERAU, wenn auch gut erreichbar, nach wie vor etwas „weiter draußen“ liegt und das Festspielhaus noch längst nicht in aller Munde ist. An der sich verjüngenden Publikumsstruktur ist Frauke Wetzel als vielseitige, an Geschichte, Geschichten und Neugierigen interessierte Kulturwissenschaftlerin mit der Gabe, Mögliches wie auch Unmögliches zu bewirken, seit Oktober 2013 deutlich beteiligt. Sie ist in HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste verantwortlich für „Audience Development, Kulturelle Bildung und Netzwerke“. Was ja reichlich kompliziert klingt und zudem als wahrhaft umfassendes wie „grenzenloses“ Aufgabengebiet erscheint. Tatsache ist, dass Veränderungen stets auch verlangen, Gegebenheiten neu zu überdenken, wobei sich Erfolge oft erst spät einstellen. Aber jeder*, der sich einmal mit dem HELLERAU-Virus infiziert hat (was ja keine Frage des Alters ist), sorgt letztlich mit für Bewegung, bleibt dran und spricht darüber. Das lässt sich überhaupt nicht auflisten. Andererseits kostet die Arbeit mit diversen „Netzwerken“ und Bildung für die Impulsgeber doch enorm viel Kraft, verlangt Geduld und Einfühlungsvermögen. „Als ich 2013 in HELLERAU anfing,“ erzählt Frauke Wetzel, „stand in meiner Stellenbeschreibung nichts drin wie zum Beispiel: Kümmere Dich um Kinder und Schulen! Das habe ich mir selbst zur Aufgabe und auch zur eigenen Erfahrung gemacht. Das Publikum war im Vergleich zu anderen Häusern zwar halbwegs jung. Es fehlte aber dennoch an jugendlichen Besuchern. Und obwohl die Festivals „Kids on Stage“ mit Kontinuität immer wieder junge Mitwirkende und Gäste nach HELLERAU brachten, mangelte es doch generell an Schülern bei den Zuschauern. Da waren schon Gewohnheiten zu durchbrechen und Pädagogen mussten erst darauf neugierig gemacht werden, was in HELLERAU geschieht. Und das alles braucht so seine Zeit. Heute gibt es Verbindungen zu etwa 200 Lehrern und es finden beispielsweise Projektwochen, Führungen oder Gespräche zu Vorstellungen statt.“ Speziell eingeprägt hat sich, wie Frauke Wetzel beim Festival „modul dance“ 2015 eine junge Kritiker-Runde zusammenbrachte, die sich in gemeinsamer Diskussion vor der Kamera zu den verschiedensten Aufführungen äußerte. Das konnten sich die Besucher meist schon wenig später auf dem Bildschirm anschauen. Eine Jugendjury, wie man sie sich nur wünschen mag: Klug beschreibend, wertend, kenntnisreich. Lena gehörte damals mit zur Jugendjury, blieb auch weiter aktiv an HELLERAU dran. Obwohl sie schon längst weit entfernt studiert, nutzt sie Dresden-Besuche immer wieder zum „Vorbeischauen“ und ist besser informiert als mancher vor Ort. „Auf Anregung von Frauke haben wir uns erst unlängst als Ehemalige getroffen, diesmal zu einer Art Ideenwerkstatt für künftige Projekte. Da ging es beispielsweise auch um Workshops. Von Beginn an hatten wir mit der Dresden Frankfurt Dance Company von Jacopo Godani beste Kontakte. Das setzt sich jetzt weiter fort und der Teilnehmerkreis verändert sich auch. Ich weiß absolut zu schätzen, was ich an HELLERAU habe. Hier gehört man einfach mit dazu, fühlt sich wohl, wird weiter informiert. Und die Eintrittspreise sind gut bezahlbar. Zudem finden sich da immer wieder Vertraute wie eben auch Frauke.“ Die inspirierende Idee mit der damaligen Jugendjury setzte sich schon bald fort mit dem HELLERAU-Blog von jungen Kommentatoren und Kritikern bei „Kulturgeflüster“ Dresden, einer Online-Redaktion in Zusammenarbeit vom Europäischem Zentrum der Künste mit dem Medienkulturzentrum Dresden. Wer da mal reinschaut, reinhört, spürt sehr genau, wie aufmerksam die Beteiligten (manche sind schon drei Jahre dabei) in ihrer Wahrnehmung sind, wie sie offen über das Erlebte miteinander diskutieren. Das ermutigt auch dazu, eigene Positionen zu finden und sie zu artikulieren. Gewiss, einen Massenansturm jüngerer Besucher nach HELLERAU bewirkt das noch nicht, aber steter Tropfen höhlt den Stein. Und was zählt, ist das Beispiel. Andere werden aufmerksam, hören davon, manche bewerben sich auch bei Frauke Wetzel als Schülerpraktikanten. Welche als „Ehemalige“ mittlerweile schon eine ganze Schar sind. Das macht kaum ein anderer am Hause, was natürlich zudem eine Frage der Zeit ist. Die man sich dafür nehmen muss. Auf beiden Seiten. Die Schüler stehen nicht minder unter Zeit und Leistungsdruck. Wobei die Erfahrungen in HELLERAU gewiss auch eine gute Schule sind. Frauke Wetzel bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „Der Ort funktioniert einfach. Mit Festspielhaus, Freigelände, Besucherservice, mit allen, die hier arbeiten, einschließlich der sehr besonderen Techniker. Auch für die Jüngsten findet sich in HELLERAU immer etwas zum Spielen, zum Anschauen, zum Mitmachen. Hier ist einfach jeder gewollt und gewünscht.“

14.01.2020

All dies tut weh – Dies Irae Patricia Kopatchinskaja (MD) & Orchester des Wandels (DE), #1 – 2020

Die Kunst ist immer ein Kind ihrer Zeit. Bach und Bruckner schrieben aus Gottgewissheit. Haydn schuf eine Gegenwelt zum Chaos und Unglück der Welt. Beethoven komponierte in der Hoffnung auf das neue Zeitalter der Weltverbrüderung. Aber was ist mit uns? Was hat die Kunst zu unserer Zeit zu sagen? Unsere Zeit steht vor einer nie geahnten Bedrohung der globalen Erwärmung. Viele Menschen und vor allem viele Mächtige wollen das nicht wahrhaben. Aber unsere besten Wissenschaftler*innen sagen, dass die Erwärmung ohne Gegenmaßnahmen zur Selbstverbrennung des Planeten führen wird. Und die bisherigen Gegenmaßnahmen sind halbherzig und ungenügend. Die jetzt schon zu beobachtenden Dürren, Hungersnöte, Staatszusammenbrüche und Massenmigrationen sind nur ein schwaches Vorspiel dessen, was in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten ist: Ganze Erdteile sind bedroht, Ressourcenkriege werden sich weiter ausbreiten, Millionen Menschen werden sich auf die Wanderschaft machen, und vielleicht kommt ein Ende der Zivilisation und der Welt, wie wir sie kannten … Wie können Musiker*innen ihre Betroffenheit über diese Zustände ausdrücken? Seit dem Mittelalter war das „Dies irae“ der musikalische Ausdruck der Endzeit, von jenem „Zorn Gottes“, der sich im Jüngsten Gericht entlädt. Eine zeitgemäße Fassung des „Dies irae“ hat Galina Ustwolskaja 1972/73 noch in der alten Sowjetunion komponiert: Das Klavier schlägt brutale, dissonante Cluster, acht Kontrabassisten wiederholen erstickende Phrasen – sie sehen aus wie Totenvögel. Im Zentrum steht die von Ustwolskaja erfundene und mit einem Hammer zu traktierende Holzkiste. Diese ausweglose und verzweifelte Schicksalsmusik ist das Kernstück und der Höhepunkt meines Programms. Es beginnt mit Giacinto Scelsis „Okanagon“: Monotone, dürre Klänge werden von Tamtam-Rhythmen unterbrochen, die jedoch ermüden und wieder absterben – die Dürre duldet keine Menschen mehr. Hören Sie den Herzschlag der Erde? Ist da noch was? Das sind Ihre Schritte auf der Erde – Jorge Sánchez-Chiong hat sie zu Soldatenschritten verarbeitet. Auf dem Weg zu diesem Jüngsten Gericht kommt es zu Kriegen, im Programm versinnbildlicht mit Heinrich Ignaz Franz Bibers barockem Schlachtengemälde „Battalia“. Zwischen den Sätzen sind zwei Werke eingeschoben, die als Reaktion auf den Vietnamkrieg entstanden sind: George Crumbs Streichquartett „Black Angels“ und, als Video, Jimi Hendrix‘ Gitarrenimprovisation über „The Star-Spangled Banner“. All dies tut weh. Der erste Satz des Violinkonzerts von Michael Hersch ist eine offene Wunde, es gibt nichts zu beschönigen. Antonio Lottis Crucifixus steht für den Leidensweg, auf dem Erlösung von den Menschen nicht mehr erwartet werden kann. Die Improvisation über den 140. Psalm ruft Gott als letzte Zuflucht an. Zum Höhepunkt, Ustwolskajas „Dies irae“, führt Scelsis „Anagamin“ für dreizehn Instrumente: ein banges, ungewisses Warten zu unheimlichen, verfälschten, sich kaum verändernden Tönen. Wie viel Zeit bleibt uns noch? Patricia Kopatchinskajas Entdeckerfreude und Repertoire als Violinistin, Kammermusikerin und Solistin reicht von Barock über Klassik, Romantik und Moderne bis zu Uraufführungen. Beginnend mit ihrem ersten Klimakonzert in Berlin im Jahr 2012 erweitert Kopatchinskaja ihre Konzerte immer wieder durch Kontext und Inszenierung. Das Hamburger Projekt „Bye-Bye Beethoven“ mit dem Mahler Chamber Orchestra stellte den erstarrten Konzertbetrieb in Frage, und wurde inzwischen in den USA und England wiederholt. Die Aufnahme „Der Tod und das Mädchen“ mit dem Saint Paul Chamber Orchestra gewann 2018 einen Grammy. Das Projekt „Dies Irae“ wurde 2017 beim Lucerne Festival erstmals aufgeführt. Die Staatskapelle Berlin gehört mit ihrer seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Tradition zu den ältesten Orchestern der Welt. 2009 riefen die Musiker*innen der Staatskapelle Berlin das „Orchester des Wandels“ und die Stiftung NaturTon ins Leben, für die sie regelmäßig Konzerte spielen und deren Erlös internationalen Umweltprojekten zugute kommt.

14.01.2020

Ich hasse Schubladen – Dada Masilo (ZA) , #1 – 2020

Die südafrikanische Tänzerin und Choreografin Dada Masilo sprach mit Shirley Ahura (Lucy Writers Platform, University of Cambridge) über ihre Neuentdeckung der Klassiker des Balletts, die Stärkung von Frauen und den Einsatz von Tanz zum Abbau kultureller Barrieren. Du hast einen Großteil deines eigenen Repertoires durch mutige und radikale Neuinterpretationen klassischer Ballette entwickelt, von „Schwanensee“ bis hin zu „Romeo und Julia“. Kannst du sagen, ob deine Stücke konkret an bestimmte Menschen gerichtet sind und würdest du sagen, dass sie konkret für bestimmte Menschen sprechen? Ein Großteil meiner Arbeit ist ein Spiegelbild meines eigenen Lebens. Ich sehe täglich Menschen darum kämpfen, sie selbst zu sein und ihren Platz im Leben zu finden. Sie werden diskriminiert, sind Rassismus, Homophobie und häuslichem Missbrauch ausgesetzt und erleben Vergewaltigung oder andere Formen von Gewalt. Für meine Arbeit spreche ich mit meiner Großmutter, meiner Mutter, meinen Schwestern und ich rede auch mit meinen schwulen Brüdern. Aber es geht mir nicht nur um eine subjektive Wahrnehmung. Ich möchte größere Fragen stellen, zum Beispiel wie wir in der Gesellschaft vorankommen. Das ist eine Lernerfahrung für mich und die Tänzer*innen, wir bilden uns nicht nur selbst, sondern vermitteln dies auch dem Publikum. In vielen deiner Arbeiten hinterfragst du die Repräsentation von Frauen im klassischen Repertoire und versuchst, sie neu zu definieren – insbesondere ihre Rollen, ihre Position und ihr Handeln in ihrer jeweiligen Gesellschaft. Würdest du sagen, dass deine Haltung feministisch ist und warum? Wenn ich meine Arbeit mache, denke ich nicht: „Ich mache dieses Stück mit einer feministischen Einstellung“, aber ich arbeite immer daran, Frauen zu stärken. Wir haben so viele Erwartungen an uns von der Gesellschaft – sich nicht zu beschweren, die Dinge einfach zu akzeptieren. Bei meiner Arbeit geht es mir vor allem darum, Respekt und Anerkennung für uns als Frauen zurückzugewinnen. Das Persönliche ist das Politische. Bist du in deiner Karriere als Tänzerin/Choreografin auf besondere Herausforderungen gestoßen? Wie hat das deine Arbeit beeinflusst? Wenn wir in Europa auftreten, wird mir oft die Frage gestellt: „Warum erzählst du europäische Geschichten? Warum erzählst du nicht „afrikanische“ Geschichten?“ Ich habe zum Glück eine Ausbildung, die mich auf die Welt aufmerksam gemacht hat. Ich stecke nicht nur in meiner „afrikanischen“ Schublade. Ich hasse Schubladen, das habe ich immer getan. Ich möchte die Verbindungen zwischen den Geschichten meiner Kultur und der Welt finden. Das Wichtigste für mich ist es, die Regeln des klassischen Balletts zu lernen und zu kennen. Wenn ich die Regeln lerne und kenne, bin ich in einer besseren Position, um sie zu brechen. Du hast einmal gesagt, „Tanzen bedeutet, Stellung zu beziehen“. Gibt es eine Verpflichtung des Künstlers/der Künstlerin, über die Zeit und die Welt um sich herum nachzudenken? Ich habe noch nie abstrakte Arbeiten gemocht. Ich möchte Geschichten erzählen. Es ist mir wichtig, nicht nur als Frau meinen Raum einzunehmen und in der Welt gleichberechtigt zu sein, sondern auch als Mensch. Als Gesellschaft neigen wir dazu, Dinge unter den Teppich zu kehren. Als ich in meinen Zwanzigern war, wollte ich nur tanzen. Aber jetzt bin ich in einem Alter, in dem ich Fragen stellen möchte: nicht nur an die Welt, sondern an meine eigene Kultur. Bei unseren Stammesältesten zum Beispiel ist so viel von dem, was sie in ihrer Tradition kennen und praktizieren, völlig unhinterfragt. Bei ihnen gibt es diese „shut up and do“-Mentalität, „denn so haben wir es immer gemacht“. Aber ich bin jetzt an einem Punkt meines Lebens angekommen, an dem ich respektvoll die Dinge hinterfragen möchte. Wie siehst du Tanz als Medium für das (Wieder-)Erzählen von Geschichten? Ich benutze meinen Körper, um mich auszudrücken. In letzter Zeit arbeite ich auch sehr mit meinem inneren Zustand, mit Emotionalität. Ich möchte meine Geschichte mit Ehrlichkeit erzählen, mit Verletzlichkeit, aber auch mit Freude. Ich möchte, dass die Betrachter*innen alles fühlen: das Glück, den Schmerz, die Trauer. Ich beginne immer bei mir – wenn ich nicht in der Lage bin, auf der Bühne verwundbar zu sein, dann überträgt sich auch nichts auf das Publikum. Ich muss akzeptieren, dass ich nicht nur ein Körper im Raum bin, sondern ein Mensch, der diesen Raum mit anderen teilt. Du arbeitest an einem neuen Stück. Könntest du uns ein wenig darüber erzählen und was du noch für die Zukunft geplant hast? Ich arbeite an einem Stück, das ich „The Sacrifice“ („Das Opfer“) genannt habe, und es ist inspiriert vom „Frühlingsopfer“ von Igor Strawinsky. Ich nenne es „Das Opfer“, weil ich hoffe, darin alles näher betrachten zu können, was wir täglich opfern. Bei den meisten Interpretationen lässt man die Tänzerin sich am Ende des Stückes einfach zu Tode tanzen. Ich interessiere mich aber für die verschiedenen Opfer, die im Laufe des Stückes dargebracht werden. Was ist überhaupt ein Opfer? Was opfern wir in unserem täglichen Leben? Die Handlung beim „Frühlingsopfer“ ist sehr einfach. Daher ist es eine Herausforderung für mich, eine größere Geschichte zu erzählen. Als Teil meiner Forschung habe ich mit Stammesältesten über ihre Praktiken gesprochen, insbesondere über das Thema „Reinigung“ – was mich mehr und mehr interessiert, weil ich das Gefühl habe, dass unsere Welt gerade jetzt eine Reinigung braucht. Die Stammesältesten waren wirklich offen für unsere Rituale rund um die Reinigung – wir reinigen uns, wenn wir krank sind, aber auch, wenn es Grund zum Feiern gibt. Ich lerne so viel, und der Prozess ist nach wie vor äußerst aufschlussreich. Die Produktion „The Sacrifice“ von Dada Masilo mit einer neuen Musik von Philipp Miller wird im Februar 2020 in Südafrika Weltpremiere feiern. Das vollständige Interview erschien im September 2019 auf www.lucywritersplatform.com. Das Interview übersetzte und bearbeitete André Schallenberg.

14.01.2020

Erbstücke #2, #1 – 2020

2020 setzen wir unsere Spurensuche im Feld der Traditionen und Erbstücke fort. Die Beschäftigung mit Erbe hat schon immer eine globale Dimension. Das zeigt nicht nur der flüchtige Blick in die mit „exotischen“ Schätzen gefüllte Wunderkammer Augusts des Starken oder auf das Yin-Yang-Zeichen am Giebel des Festspielhauses. Émile Jaques-Dalcroze und Heinrich Tessenow ließen es bekanntlich zu Beginn des letzten Jahrhunderts dort anbringen, als wohlmeinendes Symbol einer erhofften Heilung vom Gräuel der Industrialisierung durch ganzheitliche, ostasiatische Philosophie, Heilkunst und Körperpraxis. Auch Tanzkünstler*innen wurden damals davon erfasst – man denke nur an die „orientalischen“ Stücke von Nijinsky. Im Festival widmen sich gleich zwei Stücke dieser brisanten Periode der Tanz- und Weltgeschichte: Jérôme Bel und Elisabeth Schwartz sezieren in „Isadora Duncan“ den Werdegang einer der Pionierinnen des Ausdruckstanzes und des Feminismus, während die südafrikanische Choreografin Dada Masilo mit „The Sacrifice“ einen Grundstein der europäischen Moderne neu interpretiert, das Ballett „Sacre du Printemps“ von Strawinsky und Nijinsky. In Masilos Werk, das in HELLERAU als Europapremiere gezeigt wird, treten gleichzeitig auch die heftigen postkolonialen Verwerfungen der globalisierten Gesellschaft zutage. Auch Eisa Jocson aus Manila beschäftigt sich mit dieser Verbindung künstlerischen Erbes mit gesellschafts- und machtpolitischen Fragestellungen. Ihre „Prinzessinnen“, die den asiatischen Disneyland-Freizeitparks entlehnt sind, stehen sowohl für ein festgefügtes Comic-Rollenbild als auch für die oft einzige, kümmerliche Karrierechance ausgebildeter Balletttänzer*innen in Südostasien. In diesem Komplex der hybriden Formen und Fragen nach Identitäten und Herkünften bewegen sich auch die chinesischen Künstler*innen Xiao Ke und Zi Han, die in ihrem Chiname-Projekt Hunderte chinesisch-stämmige Menschen auf der ganzen Welt nach ihren Vorstellungen zu diesen Wurzeln gefragt haben. Wo beginnt die politisch motivierte Konstruktion einer eindeutigen Identität, wo beginnt die Fiktion? Simon Mayer hat eine eigene Form dieser fluiden Zustände gefunden: In seiner extrem unterhaltsamen Form des alpenländischen Folklore-Futurismus ebenso wie Gintersdorfer/Klaßen mit ihrer westafrikanisch gespiegelten Version der „Geschichten aus dem Wienerwald“ oder Joana Tischkau, die über zärtliche Karikaturen die Rollenbilder der Popgeschichte abtastet. Sogar DDR-Tanz wies erstaunlich komplexe internationale Einflüsse und Wechselbeziehungen auf, wie Saša Asentić und sein Team eindrücklich beweisen. Der Begriff der künstlerischen Auseinandersetzung ist uns hier besonders wichtig – die Relevanz von Traditionen und Erbe hängt von der ständigen Befragung und Neuauslegung ab. Die Kunst, speziell das Theater, scheinen uns genau der richtige Ort für diese weltweite Debatte zu sein.

14.01.2020

The new slow down – APPARAT, #1 – 2020

The new slow down – APPARAT, #1 – 2020

Seit fast zwei Jahrzehnten gehört Sascha Ring zu den prägenden Protagonist*innen der elektronischen Musik in Deutschland. Unter dem Namen Apparat hat er wie nur wenige andere die Verschränkung zwischen programmierten Klängen und analogen Instrumenten erkundet und variiert. Neben zahlreichen Solo- und Kollektivprojekten schreibt er seit einiger Zeit auch erfolgreich Musik für Kino-, Fernseh- und Theaterproduktionen, erhielt 2018 für die Musik zu Mario Montes Film „Capri-Revolution“ einen Preis für den besten Soundtrack bei den Filmfestspielen in Venedig. Auf Netflix läuft die Serie „Dark“ mit seiner Titelmelodie, und im Londoner Barbican war kürzlich seine Zusammenarbeit mit den Installations- und Performancekünstler*innen von Transforma zu sehen. Wie viele zog es auch ihn, der 1978 im ostdeutschen Quedlinburg geboren wurde, in den 90ern nach Berlin, um in die wilde und kreative Szene einer damals einzigartigen Club- und Elektronikkultur einzutauchen. In seiner Heimat hielt ihn nichts mehr, vielmehr erinnert er vor allem die Zeit kurz nach dem Fall der Mauer als eine bedrückende Phase der Perspektivlosigkeit, begleitet von Arbeitslosigkeit, betäubenden Techno-Partys und ständiger Angst vor Nazis. Hier legte er Platten auf, begann in Berlin aber zunächst eine Ausbildung zum Grafiker. Doch als er seinen ersten großen Job als Art-Director angeboten bekam, entschied er sich konsequent dagegen – und für die Musik. Die Zusammenarbeit mit Freunden wie Marco Haas vom Label Shitkatapult, dem Designkollektiv Pfadfinderei, Ellen Alien oder schließlich Gernot Bronsert und Sebastian Szary bestärkten ihn in dieser Entscheidung. 2002 schloss sich Sascha Ring alias Apparat mit dem Duo Gernot Bronsert und Sebastian Szary alias Modeselektor zusammen: Als Moderat gehörten sie neben den Kalkbrenner-Brüdern bald zu den deutschen Produzent*innen, die im Ausland kommerziell am erfolgreichsten waren. Moderat wurden wahlweise als „Elektropop-Supergroup“ oder „Laptop-Boygroup“ bezeichnet. Sanfte elektronische Sounds bestimmten das Klangbild, dazu sang Ring in meist hoher Stimmlage, was manchmal an Radiohead-Mastermind Thom Yorke erinnerte – melancholische, verspielte und fricklige Popsongs, denen man aber immer auch den Clubhintergrund anhörte, Musik die „aus dem Technokeller kommt“ (Ring). „Wir sind alle Typen, die vor über 20 Jahren nach Berlin gekommen sind und angefangen haben rumzustümpern“, sagt Sascha Ring über die Prä-Laptop-Boygroup-Zeiten von Moderat. Damals gab es noch wahnsinnig viel zu entdecken, die ganze Computermusikwelt schien zu explodieren: „Ständig wurden neue Plugins entwickelt, die wiederum ganz neue Sounds generieren konnten. Wenn da noch nichts Passendes dabei war, hat man sich seine Sounds einfach selbst programmiert.“ Später sind für Ring elektronische Geräusche aber zunehmend langweilig geworden. „Ich habe immer seltener einen Aha-Effekt, wenn ich elektronische Musik höre – das Thema ist einfach etwas abgegessen. Für mich haben mittlerweile akustische Signale einen größeren Reiz, weil sie nie hundertprozentig perfekt sind.“ Konsequent erscheint vor diesem Hintergrund das neue Album, das Sascha Ring, wieder als Apparat, 2019 herausgebracht hat: „LP 5“ ist eine Art „back to the roots“, wie das Kürzel LP für Langspielplatte schon andeutet. Die Tracks wirken fragil, minimalistisch, feiern die Reduktion und lassen viel Raum für Stille, auch auf der Bühne stehen neben elektronischen Klängen vor allem analoge Instrumente und die menschliche Stimme im Vordergrund. Und vielleicht ist gerade auch diese filigrane Verbindung von digitaler und analoger Welt, diese stille und eher intime Musik und vor allem dieses Moment der Entschleunigung so richtig wie notwendig für neue Gedanken: in Zeiten, in denen die Menschheit überrollt zu werden scheint von digitalen Transformationsprozessen, von kaum noch erfassbaren Beschleunigungen und Überhitzungen der Systeme.

14.01.2020

Uncanny Valley, #1 – 2020

Mit „Uncanny Valley” (dt. Unheimliches Tal) wird jenes Phänomen bezeichnet, bei dem Roboter von Menschen nicht umso mehr akzeptiert werden, je menschenähnlicher sie werden. Das Gegenteil ist zu beobachten: Je ähnlicher Roboter den Menschen werden, desto beklemmendere Gefühle lösen sie aus. Ein solches Unbehagen dürfte paradoxerweise erst dann aufhören, wenn Roboter und Menschen nicht mehr unterscheidbar sind. Stefan Kaegi, Regisseur und Mitbegründer des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, hat sich mit dem Schriftsteller Thomas Melle in dieses unheimliche Tal begeben. Ein theatralischer Reisebericht: Die Anfangsthese meines Theaterprojektes „Uncanny Valley“ ist, dass sich im Theater eine Frage stellen lässt, die die Gesellschaft in allen von Robotik bedrohten Arbeitsfeldern betrifft (und das sind ja bekanntlich alle). Warum nicht hier zur Robotik greifen, wo Wiederholbarkeit zur Bedingung von Genialität geworden ist: Im Repertoirebetrieb des deutschen Stadttheaters. Es entstand die Idee, auf einer Bühne, auf der Darsteller*innen normalerweise scheinbar einmalige Aura ausstrahlen, einen Körper hinzusetzen, der ohne zu klagen immer wieder auftritt, um seinen eigenen Entstehungsprozess zu reflektieren: Einen künstlichen Klon, angetrieben durch Strom und DMX-Signale. Ich habe also gemeinsam mit dem Schriftsteller Thomas Melle eine Kopie von Thomas Melle erstellt. Ein komplexes Unterfangen, das zum Nachdenken übers Menschsein anregt – wie jedes Selbstportrait: egal ob Höhlenmalerei, Tuschezeichnung, Plastik oder Selfie. Selten habe ich so viel Angst um einen Darsteller* gehabt. Kaum je so viel Empathie. Kein Wunder: Nie hatte ich so viel Zeit damit verbracht, einem Performer Wort für Wort das Sprechen beizubringen. Ihm auch noch die kleinste Regung seines Handgelenks vorzugeben. Da unsere eigene Funktion – nicht nur im Theater, sondern auch im Büro, im Netz und im Familienalltag – zu großen Teilen darin besteht, uns selbst darzustellen, trifft der Roboter als Darsteller einen sensiblen Nerv seiner Zuschauer*innen. Als Publikum sind sie nämlich darauf programmiert, sich mit dem da vorne zu identifizieren. Sie leiden mit. Einige haben Tränen in den Augen, andere beteuern mir, sie hätten in unserem Humanoiden einen begabten Schauspieler bewundert, der seine Rolle als Roboter virtuos erfülle. Offenbar schafft es der Humanoide mit seinen Worten, seiner Mimik und einem sensiblen Tanz im Publikum jene Regungen auszulösen, die in ihnen bisher nur lebende Darsteller ausgelöst haben. Er schafft es, in ihnen das Programm zu starten, das sie dazu bringt, selbst ein ganz normales Publikum darzustellen, das sich identifiziert und am Ende zwar zögerlich – aber dann doch – applaudiert. Dieser Applaus ist das eigentliche Ereignis. Es ist ein Applaus, der erst gewohnheitsmäßig anschwillt, dann verunsichert abbricht, um dann doch gegen Ende des Abspanns nochmal wiederzukommen. Ein kleiner rebellischer Akt, der versucht, sich der Routine zu entziehen – um wenig später doch wieder in dieselbe zurückzufallen. Nach der Premiere jedenfalls wurde die mechatronische Kopie von Thomas Melle in einer Kiste mit martialisch justierter Halsbefestigung verstaut, während Thomas und ich uns zur Premierenparty aufmachten – mit einem schalen Gefühl von Mitleid, dem Leid also, ebendiese Emotion nicht mit der Kopie teilen zu können. Der Kopie also, die wir schufen, um nicht zu leiden. Dass der Humanoide dieses Gefühl nicht erwidert, gehört für ihn zu seiner Definition – und für uns zum unheimlichen Tal, das uns von ihm trennt.

14.01.2020

„You’re stuck“ – André Schallenberg im Gespräch mit missingdots, #1 – 2020

In ihrer Produktion „Land ohne Worte“ inszeniert die Dresdner Künstler*innengruppe „missingdots“ ein Stück von Dea Loher mit den Künstlerinnen Julia Amme, Svea Duwe, Nora Otte, Nora Schott und Kristin Mente. Die preisgekrönte Autorin Dea Loher verarbeitet in ihrem Text von 2007 eine Reise nach Afghanistan, die sie unter dem Eindruck des seit 2001 neu entflammten Krieges unternommen hatte. Wie seid Ihr auf diesen Text gekommen und weshalb interessiert es euch, mit ihm zu arbeiten? JA: 2015 hatte ich ein Pflegekind zu Hause, einen jungen Afghanen. Zeitgleich las ich diesen Text von Dea Loher und dachte: Das passt jetzt! Ich erlebe diesen Krieg nicht unmittelbar, aber bis heute ist er über die Geschichten, die täglich in meiner Küche erzählt werden, immer präsent. Dieser Text spiegelt für mich eine Fassungslosigkeit, die ich sehr stark empfinde. SD: Wir sind mit diesen Kriegsbildern so übersättigt und überfordert, auch mit unserer Verantwortung dafür. Auf der anderen Seite haben wir kaum Möglichkeiten, adäquat darauf zu reagieren. Genau diese Problematik steckt für mich in dem Text. Die Bilder treffen und berühren uns, aber wir sind nicht wirklich involviert. Wie reagiert der Text auf diese Übersättigung? NO: Der Text ist ein Schrei nach Reduktion. Dea Loher stellt sich selbst ins Zentrum der Auseinandersetzung. Sie fragt nicht, wie schlecht es den Anderen geht, sondern wie wir uns dazu verhalten. SD: Man kann mit diesem Text nicht wie mit einem Teig arbeiten, den man nochmal ordentlich durchknetet. Für mich hat er etwas sehr Bildhauerisches in seinen Strukturen. JA: Daher inszenieren wir den Text zwar vollständig, aber nicht im klassischen Sinne. Ich spiele eben keine Rolle, ich spiele keine Schriftstellerin, die nicht mehr schreiben kann, sondern ich bin völlig reduziert auf eine Unvollkommenheit und Gebrochenheit. Also geht es eigentlich um uns Zuschauer*innen? SD: Es geht um die Unmöglichkeit, Worte zu finden. Es gibt eine Wiederholung im Text: „you’re stuck“. Das ist ein sehr zentrales Moment, an dem wir arbeiten. Das Gefühl, emotional total involviert zu sein, aber eigentlich nichts machen zu können. Vielleicht ist es am Ende auch eine Antriebslosigkeit? NO: Es geht uns weniger um eine Inszenierung des Textes, sondern eine Suche nach der Haltung des Textes dem Unsagbaren gegenüber. Mir scheint es immer etwas merkwürdig zu fragen, wie kann Kunst die Welt verändern. Ich glaube, es geht eher darum, mit Kunst die Welt zu befragen. Das ist ja auch schon eine Form von Veränderung.

14.01.2020

„Kvartira“ als Utopie, #1 – 2020

Die Journalistin und Produzentin Nika Parhomovska über ein einzigartiges Theaterexperiment

Im gegenwärtigen russischen Theater gehen soziale oder inklusive Projekte überwiegend auf Initiativen unabhängiger Gruppen oder Regisseur*innen zurück, die sich ehrenamtlich engagieren oder vom Staat oder privaten Stiftungen durch Fördermittel unterstützt werden. Obwohl die Inklusion in letzter Zeit inoffiziell en vogue ist und Menschen mit Behinderungen oder Menschen aus sozial schwachen Gruppen stärker als vor ein paar Jahren in den kreativen Prozess einbezogen werden, befindet sich das soziale Theater immer noch an der Peripherie zum „offiziellen“ Theater. Die Tatsache, dass in den Jahren seines Bestehens zwischen 2017 – 2019 das „Kvartira“-Projekt breit diskutiert wurde, lässt darauf hoffen, dass das Interesse an diesem Thema wachsen wird. Denn „Kvartira“ gibt es nicht mehr. Seit Abschluss des Projekts in einer Petersburger Wohnung sind mehrere Monate vergangen und eine kleine Theaterlegende ist entstanden. Jetzt ist es möglich, sich rückblickend über die Bedeutung dieses Experiments klar zu werden. Boris Pavlovich und die Leitung der Alma Mater Stiftung zur Förderung von Kunstinnovationen entwickelten vor einigen Jahren die Idee, einen Theaterraum in einem Wohnhaus zu etablieren. Ich kam als Produzentin mit umfangreicher Erfahrung im Bereich des sozialen Theaters dazu. Weitere Akteur*innen schlossen sich schnell der Suche und dem kreativen Prozess dieses besonderen theatralischen „Kraftortes“ an: eine Gruppe von jungen Künstler*innen unter der Leitung von Katerina Andreeva, die Schauspieler*innen des inklusiven Theaterstücks „Die Vogelsprache“, das Pavlovich während seiner Tätigkeit am Bolshoi Drama Teatr St. Petersburg inszeniert hatte, ein Choreograf, ein Chorleiter sowie ein musikalischer Leiter. Vor allem aber drehte sich alles um Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Pavlovich machte regelmäßig Workshops mit ihnen. Nachdem die Idee entstand, ein eigenes Wohnungstheater zu gründen, wurden diese Workshops intensiver und zielgerichteter. Als eine geeignete Wohnung im Zentrum von St. Petersburg gefunden wurde, begann man, sie zu renovieren und einzurichten. Viele Enthusiast*innen brachten sich mit ihrer Zeit, Sachspenden und anderen Ressourcen ein, um den kreativen Zusammenschluss von Theaterprofis und Menschen mit geistiger Behinderung zu ermöglichen. Während die Verantwortlichen für das Management noch technische Fragen klärten, wurde ein Schauspieler*innenteam angeworben. Im Rahmen eines Open Calls konnten sich junge Absolvent*innen der Theaterhochschulen, die sich für das soziale Theater interessierten, für das Projekt bewerben. Bis Oktober 2017 war das Team komplett und bestand aus rund vierzig Personen, darunter neun Student*innen aus dem Zentrum „Anton tut rjadom“ für die Rehabilitation von Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Die erste Premiere im neu eröffneten „Kvartira“ war das Stück „Non-Children‘s Talks“, das im November 2017 für eine gemischte Gruppe von Kindern mit und ohne Behinderung und deren Eltern aufgeführt wurde. Bald darauf gehörten zum „Kvartira“-Repertoire auch die für das Projekt symbolträchtigen „Gespräche“. Dieses Theaterstück entstand nach einer Buchvorlage von Leonid Lipavsky, der Gespräche zwischen seinen Freund*innen der Künstler*innengruppe OBERIU in den 20er Jahren aufgezeichnet hatte. Für das Stück „Gespräche“ gab es zwei Versionen: Die erste räumte den Zuschauer*innen eine noch nie dagewesene Freiheit ein und fußte nicht auf einer klaren Partitur, sondern auf Improvisationen. Die zweite Version zeichnete sich dadurch aus, dass sie eine geregelte Struktur und einen Zeitplan hatte. Dieser ermöglichte den Zuschauer*innen, ihre eigenen individuellen Routen durch verschiedene Räume zu berechnen – von der Bibliothek über das Kinderzimmer bis hin zu Wohnzimmer und Küche. Die Aufführung lief mehr als vierzigmal und wurde für den russischen Nationaltheaterpreis „Goldene Maske“ in der Kategorie „Experiment“ nominiert. Ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Projekts waren zwei weitere Aufführungen, die im zweiten Jahr seiner Existenz gezeigt wurden. Zum einem war es die inklusive „Märchenfabrik“. Sie wurde von der französischen Anthropologin und Schauspielerin Hélène Malayet initiiert, die professionelle Schauspieler*innen und Student*innen aus dem Zentrum „Anton tut rjadom“ unterrichtete und ihnen dabei half, sich an die Geschichten aus ihrer Kindheit und an die von ihnen gehörten Märchen zu „erinnern“ und sogar ihre eigenen Märchen zu entwickeln. Das daraus entstandene Theaterstück wies Ähnlichkeiten mit dem Genre des Stand-up-Storytellings auf und war durch ein gemeinsames musikalisches Thema und eine durchdachte Komposition miteinander verbunden. Die letzte Premiere, gespielt im „Kvartira“ in der Moika-Straße 40, war das Stück „Die Erforschung des Horrors“, das ebenfalls nach den „Gesprächen“ von Lipavsky entwickelt wurde. Diesmal wurde es aber ohne Schauspieler*innen mit Autismus-Spektrum-Störungen aufgeführt. In den zwei Spielzeiten, in denen es „Kvartira“ gab, wurden formal und inhaltlich sehr unterschiedliche Stücke aufgeführt. Der Raum, der verbindend und inklusiv gedacht war, brachte tatsächlich Menschen zusammen, die sich für ein Theater als Labor und Prozess interessierten. Der Leistungsgedanke trat in den Hintergrund, obwohl die Leistung von „Kvartira“ beeindruckend ist und nicht nur in zahlreichen Nominierungen und Auszeichnungen zum Ausdruck kommt. Sie äußert sich vor allem darin, dass trotz des Verlusts des Spielortes das Team und die Inszenierungen nach wie vor bestehen, an unterschiedlichen Orten gespielt wird und neue Projekte entwickelt werden.

14.01.2020

Befreit aus dem Klammergriff der Institution, #1 – 2020

Der Dramaturg Johannes Kirsten im Gespräch mit Alexej Kiselev über unabhängiges Theater in Russland

Du hast dieses Jahr zusammen mit Anastasia Pauker und Roman Dolzansky das Programm des russischen Showcase beim Festival „Goldene Maske“ kuratiert. Es war auffallend, dass es in diesem Jahr mehr unabhängige Produktionen gab, als in den Jahren davor. Ist das ein Trend, den ihr festgestellt habt? Dass der „Russian Case“ das erste Mal so viel unabhängiges Theater gezeigt hat, hängt zum einen mit Anastasia und mir zusammen. Ich interessiere mich seit längerem für unabhängiges Theater und den sogenannten Underground. Zum anderen ist das unabhängige Theater in den letzten Jahren aber auch immer populärer geworden. Es gibt mehr unabhängige Gruppen. Dabei sind die wirklich interessanten alternativen und unabhängigen Theater in Moskau und St. Petersburg. Und was ist mit Ugol in Kazan oder 18+ in Rostov am Don? Klar, es gibt einige dieser Theater auch außerhalb von Moskau und St. Petersburg. Ich kann sie aber fast an einer Hand abzählen. Dagegen stehen in ganz Russland circa 2000 Repertoire-Theater. Der „Russian Case“ 2019 war sehr experimentell und vermittelte eine sehr spezielle Sicht aufs russische Theater. Die am meisten verbreiteten Formen sind immer noch Inszenierungen von klassischen Stücken in überholten Ästhetiken an einem Staatstheater. Ich hoffe aber, dass in Zukunft das unabhängige Theater noch populärer wird. Du hast gesagt, dass die Zahl der unabhängigen Theater wächst. Warum ist das so? Zum einen gibt es sehr viele Theateruniversitäten in Russland, die jedes Jahr neue Regisseur*innen und Schauspieler*innen entlassen. Wir haben zwar eine Menge Theater, aber die Stellen dort sind für viele Jahre besetzt. Zum anderen vertrauen viele Leute aus dem Kunstsektor der Regierung nicht und wollen nicht abhängig von ihr sein. Sie entscheiden sich deshalb lieber dafür, in unabhängigen Strukturen zu arbeiten. Und man kann an einem staatlichen Theater nicht frei wählen, welche Projekte man macht … Theoretisch sind alle Theater frei in ihren Entscheidungen. Manche von ihnen haben aber Angst, dass bestimmte Projekte von der Regierung nicht gemocht werden, und dann greift so eine Art Selbstzensur. Es gibt vielleicht noch einen weiteren Grund, dass es heute mehr unabhängiges Theater gibt. Im 21. Jahrhundert findet Theater selbstverständlich auch in Galerien oder irgendwo im Stadtraum und nicht im klassischen Theaterraum statt. Es ist viel einfacher geworden, ein Projekt irgendwo auf die Beine zu stellen. Früher brauchte man erst einen Raum. Zu Sowjetzeiten war gar nicht daran zu denken. In den 1990er Jahren fand unabhängiges Theater fast nur in kleinen Blackboxtheatern oder Guckkastenbühnen statt. Du sagst, die Theateruniversitäten werfen jedes Jahr neue Leute auf den Markt. Die bilden doch aber eher klassisch aus und lehren nicht unbedingt, wie man Theater im Stadtraum macht. Oder sind das alles Quereinsteiger*innen? Die Leute, die unabhängiges Theater in Russland machen, waren meistens in Theaterschulen, aber sie haben, wie wir in Russland sagen, in der letzten Bank gesessen. Sie sind dort immer angeeckt und galten nicht als gute Schüler*innen. Dmitri Volkostrelov von teatr post ist ein Schüler von Lew Dodin. Dodin ist der Hauptvertreter des psychologischen Theaters. Volkostrelov ist der Hauptvertreter des postdramatischen Theaters. Während seines Studiums stand er ständig im Konflikt mit dem, was an der Universität gemacht wurde und dem, was ihn wirklich interessierte. Andere Beispiele sind Alexey Yershov und Maxim Karnaukhov, die Macher vom „Teatr. Na Vynos“. Yershov war Student an der Akademie in St. Petersburg, aber im ersten Jahr flog er mit Maxim Karnaukhov raus. Sie dachten sich dann, wozu brauchen wir die Ausbildung? Will ich wirklich Teil einer Institution werden? Was wir wirklich machen wollen, ist einfach Theater, Magie, seltsame Dinge. Was brauchen wir dafür? Wir brauchen nur Leute und irgendeinen Ort. Wir machen es hier, auf der Straße mit zufällig ausgewählten Leuten. Das dritte Beispiel ist Vasya Beresin aus Moskau. Er hat ein Diplom der Regie und Schauspielfakultät vom GITIS, aber in der Zeit der Ausbildung machte er alles falsch. Er machte keine Studenteninszenierungen, sondern nur verrückte Dinge. Er verbrachte seine Zeit auf der Straße, freundete sich mit Straßenkünstler*innen an, entdeckte die Stadt. Du siehst, viele von diesen interessantesten unabhängigen Theatermacher*innen kamen aus den Institutionen, aber sie haben den Weg hinaus aus dem Klammergriff dieser Institutionen gewählt. Wenn du Dir diese unabhängigen Theater anschaust, kannst du einen Trend oder Themen bzw. Ästhetiken beschreiben? Es ist wirklich schwer, einen allgemeinen Trend zu benennen. Die Stücke sind meistens sehr kurz. Sie kommen häufig mit wenigen Akteur*innen aus, sind nicht statisch, sondern dynamisch und finden oft auf der Straße statt. Die unabhängigen Theater benutzen in der Regel keine Stücktexte. Wenn sie Text benutzen, dann ist das ein improvisierter Text, Stand Up oder ein von den Theaterleuten selbst entwickelter Text. Die Bühne und Kostüme spielen in der Regel eine untergeordnete Rolle. Meistens wird bei Projekten in Innenräumen nur Video und Sound eingesetzt. Leute wie Dmitri Volkostrelov oder Sergej Chechov arbeiten sowohl in unabhängigen Strukturen als auch an staatlichen Theatern. Hat das einfach ökonomische Gründe? Ich habe mit einigen Künstler*innen darüber gesprochen und sie antworteten in diese Richtung. Wenn das Angebot des Staatstheaters gut für das Kollektiv ist und sie keine Kompromisse machen müssen, was fast unmöglich ist, dann arbeitet man auch dort.

14.01.2020

Kinder der Sonne – Дети солнца, #1 – 2020

Timofey Kuljabin, einer der bekanntesten jüngeren russischen Regisseur*innen, verlegt in seiner Inszenierung die Handlung von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ in die Neuzeit – ins russische Expat-Milieu von Kalifornien. Was bei Gorki die Angst vor dem kommenden 20. Jahrhundert und vor der am Horizont aufscheinenden Revolution ist, wird bei Kuljabin die Angst vor dem neuen Jahrtausend. Der Jahreswechsel 1999/2000 steht bevor und damit ein Turning Point der jüngeren russischen Geschichte: der Wechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin. Für die Novosibirsker Version von „Kinder der Sonne“ hat die Dramatikerin Olga Fedianina den Text teilweise überschrieben und den Figuren zeitgenössische Biografien gegeben. Pawel Fjodorowitsch Protasow Geboren 1973 in Leningrad Im Alter von 12 Jahren gewann er eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematik-Olympiade. 1988 schloss er die Schule extern ab und ging an die Universität für Informationstechnologien, Mechanik und Optik. Anfang der 90er Jahre erhielt er eine Einladung zu einem Praktikum an der Stanford University, danach blieb er in Kalifornien. Dort traf er seine zukünftige Frau Elena. Protasovs Eltern starben 1997 in St. Petersburg, und er brachte seine Schwester Liza, die einen Terroranschlag überlebt hat, in die USA. Im Jahr 1999 erhielt er ein Universitätsstipendium zur Entwicklung eines Cloud-Speicher-Algorithmus. Elena Nikolaevna Protasova Geboren 1974 in Moskau Ihr Vater war Diplomat und ihre Mutter Modedesignerin im Allunionshaus der Mode. Mitte der 80er Jahre zog ihre Familie nach Los Angeles, die Eltern ließen sich bald scheiden und Elena beschloss, bei ihrem Vater zu bleiben. Sie ging an die Stanford University, studierte Biologie und erhielt 1995 den Titel „Miss Stanford“. Sie erwarb einen Bachelor-Abschluss in Naturwissenschaften und heiratete im selben Jahr Pavel Protasov. Als Pavel sich immer mehr in seine Arbeit vertiefte, wandte sich Elena langsam von ihrer wissenschaftlichen Karriere ab. Lisa, oder Elizaveta Fedorovna Protasova Geboren 1970 in Leningrad Sie trat 1991 in das Leningrader Staatliche Institut für Theater, Musik und Filmkunst ein. Sie schloss dann 1995 ihr Studium an der Fakultät für Schauspiel ab. Am 11. Juni 1996 war sie in der Moskauer U-Bahn am Bahnhof Tulskaya, wo ein improvisierter Sprengsatz detonierte. Als Folge des Terroranschlags erlitt sie eine Hüftverletzung. Im November 1996 wurde sie in das Psychiatrische Krankenhaus Nr. 7 in St. Petersburg mit der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ gebracht, wo sie fast ein Jahr lang blieb. Nach dem Tod der Eltern 1997 holte Pavel sie zu sich nach Stanford. Boris Nikolaevich Chepurnoy Geboren 1958 in der Stadt Oboyan, Region Kursk Er schloss die Schule 1975 mit einer Silbermedaille ab und trat in die Erste Staatliche Medizinische Universität Moskau ein. Seit 1981 war er Assistent an der Universität. Im Rahmen des bilateralen Abkommens zwischen den USA und der UdSSR wurde er 1988 zu einem Praktikum in die Vereinigten Staaten eingeladen. Boris nahm am Programm „Raum ohne Grenzen“ und an der Entwicklung eines biomedizinischen Systems für die NASA teil. Nachdem das Programm abgeschlossen war, beschloss er, in Kalifornien zu bleiben und einen Job als Assistenzprofessor am Stanford Medical College zu bekommen. In Kalifornien traf er seine Halbschwester Melaniya, die uneheliche Tochter ihres Vaters.   Melaniya Kirpicheva Geboren 1977 in Jaroslawl nach einer Affäre zwischen ihrer Mutter und dem Ingenieur Nikolay Chepurnoy Melaniya war vier Jahre alt, als sie ihre Mutter verlor. Sie wuchs in der Familie ihres Onkels in einem Dorf in der Region Jaroslawl auf. Dort absolvierte sie die High School. Anfang der 90er Jahre lebte sie zusammen mit einem Kriminellen. Nach dessen Tod zog sie nach Moskau und arbeitete in einer Escort-Agentur. Dort verabredete sie sich mit einem 70-jährigen texanischen Multimillionär, der ein Netzwerk von Tankstellen und Straßenrestaurants besaß. Sie heiratete ihn und zog nach Kalifornien. Dort traf sie ihren Halbbruder Boris, den sie in Russland nie getroffen hatte. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1998 gewann sie das Erbverfahren und wurde Eigentümerin des Familienunternehmens. Dmitriy Sergejewitsch Vagin Geboren 1964 Sein Geburtsname ist Dietrich Wagen. Er wuchs in der DDR in einer russisch-deutschen Familie auf. 1978 zog die Familie nach West-Berlin. Nach der Schule war Dietrich auf der Suche nach Abenteuern: Er lebte in verschiedenen Ländern, arbeitete als Kellner, Modell, Packer, Spendensammler. Dann blieb er in den USA und begann in Stanford zu studieren, wo er Protasov traf. Bald gab er das Studium der exakten Naturwissenschaften auf, wechselte die Stadt und die Fakultät und erhielt einen Masterabschluss am Institute of Fine Arts der New York University. Er arbeitet erfolgreich als Designer und Modefotograf. Im Herbst 1999 wurde er eingeladen, einen Kurs über moderne Kunst an der Stanford School of Design zu geben, wo er erneut Pavel Protasov und Elena traf. Fima Geboren 1974 in Wyborg, Region Leningrad Sie absolvierte die Medizinische Fakultät Leningrad. Nach dem Tod der Mutter Anfang der 90er Jahre zog sie in die Vereinigten Staaten, wohin ihre Tante zuvor ausgewandert war. Sie bekam einen Job als Reinigungskraft auf dem Campus der Stanford University. Abends verdient sie als Kellnerin in einer Bar Geld.

14.01.2020

Eine Oper wie eine Zweikomponentenwaffe, #1 – 2020

Die Dramaturgen Moritz Lobeck und Johannes Kirsten im Gespräch mit Vladimir Rannev über seine Oper „Prosa“

Wie ist die Idee entstanden, für eine Oper die zwei Erzählungen zu kombinieren – Yury Mamleevs „Der Bräutigam“ und Anton Tschechow „Die Steppe“? Ausgangspunkt war die Erzählung Mamleevs, die er in den 1970er Jahren in der Emigration in den USA geschrieben hat. Sie erzählt im Prinzip von einem Autounfall und seinen Folgen und thematisiert für mich das Böse an sich. Ein Mann, Wanja, hat das siebenjährige Kind der Kondratovs überfahren. Sie sehen eine Möglichkeit, mit dem Verlust umzugehen, indem sie Wanja „adoptieren“. Er macht sich dann in der Familie breit. Mir war aber schnell klar, dass man diese Erzählung nicht einfach vertonen und singen kann. Das war nicht genug für eine Oper. Ich musste noch etwas finden. In Tschechows „Die Steppe“ sagt der Junge Jeguroschka der Mutter, der Natur und allem Guten Lebewohl. Er geht in die Stadt zu Verwandten. Er kommt in die Welt der Erwachsenen. Die Kindheit ist vorüber. In der letzten Zeile heißt es: „Wie wird das Leben sein?“ Und wir verstehen, es wird nicht gut sein. Meine Idee war, dass Jegoruschka von Tschechow und Wanja von Mamleev eine Person sind. Jegoruschka ist in die harte Welt gekommen und hat sich nach zehn Jahren eingelebt. Er hat verstanden, wie alles funktioniert und dass die Welt schlecht ist. Er begreift: Um diese schlechte Welt zu besiegen, muss er noch schlechter sein. Bei Tschechow habe ich alle Menschen gestrichen und von den ursprünglich 110 Seiten nur noch 13 Seiten Naturbeschreibung übriggelassen. Aus diesen Texten ist eine sehr dichte Vokalsolistenfaktur mit vielen Kontrapunkten und polyphonen Stimmen entstanden, die Arina Svereva mit dem Vokalensemble wunderbar umgesetzt hat. Wenn man da nicht alles versteht, ist das nicht weiter schlimm. Die Erzählung Mamleevs wird mit den Augen wahrgenommen und gelesen und Tschechows Text wird gesungen und gehört. Beides läuft gleichzeitig ab. Tschechow ist nur ein Wortozean und alles zusammen eine permanente Überforderung des Publikums. Ich habe das Stück in Moskau gesehen, vom Text eher wenig verstanden, aber ich habe es trotzdem fast als hypnotisch empfunden. Wie würdest du die Musik beschreiben? Sie gibt einen aufgeregten Kontext zu beiden Geschichten und bindet sie zusammen. Die Worte Tschechows werden gesungen. Sie sind eine Brücke und bilden gleichzeitig einen Rahmen. Ohne diesen Rahmen wäre es nicht eine so spannende und intensive Handlung. Die Inszenierung arbeitet sich sehr stark an einer Sowjetästhetik ab, die gleichzeitig durch den Fleischwolf eines Popkontextes gedreht wird. Kannst du etwas zu dieser ästhetischen Setzung der Oper sagen? Schau nur, wie es momentan in Russland läuft. Es gibt eine große Nostalgie nach der Sowjetunion. Wir waren stark. Man hatte Angst vor uns. Alles war stabil. Diese ganze Scheiße. Die ganzen Artefakte jener Zeit kommen zurück. Als wir an den Bildern arbeiteten, stellte sich uns die Frage, ob das nicht zu illustrativ sei. Wir haben uns dann entschlossen, hyperillustrativ zu sein. Es sind so viele Artefakte zu sehen, dass ein Strom von Objekten entsteht, bei dem die Energie dieses Stroms wichtiger ist, als der Inhalt, den er vermittelt. Aber vielleicht noch mal einen Schritt zurück. Ich stand vor der Frage, wie der Text von Mamleev am besten transportiert werden kann? Soll er einfach projiziert werden? Ich habe mich dann an die Arbeiten der Künstlerin Marina Alexeeva erinnert. Sie macht kleine Boxen mit einem Spiegel, die einen Effekt erzeugen: Das Videobild, das auf den Spiegel projiziert wird, hängt in der Luft und kann mit echten Objekten dahinter kommunizieren. Wir habend das Prinzip der Videoboxen dann auf unser Bühnenbild übertragen. Marina hat an dem Video mit der Erzählung von Mamleev gearbeitet und erst zwei Wochen vor der Uraufführung die ersten Noten gehört. Wir haben parallel gearbeitet, ohne zu wissen, was der andere macht. Wir sehen wie die Mutter sagt: „Wanja wach auf!“, aber sie singt schreiend mit Fortissimo. Das steht im krassen Widerspruch zueinander. Aber das war die Idee, dass im Nebeneinander der Ebenen ein starker Widerspruch entsteht. Also, für dich ist die ästhetische Setzung nicht aus der Geschichte heraus entstanden, sondern du hast diese Boxen gesehen und gedacht, dass wäre eine Möglichkeit für die Oper? Ja, das war die Möglichkeit, alles zusammenzubringen. Es gibt so Zweikomponentenwaffen. Jede Komponente ist für sich harmlos, aber wenn beide sich verbinden, dann entsteht eine explosive Mischung. Das Videobild im Spiegel, das Bühnensetting und die Handlungen der Sänger*innen, die ich durch den Spiegel hindurch sehe, setzen sich zu einem Gesamtbild zusammen. „Prosa“ ist vom Elektroteatr Stanislawski produziert worden. Ist es die Programmatik dieses Theaters, solche Experimente zu ermöglichen? Das Theater interessierte früher keinen. Der Moskauer Kulturbürgermeister Kapkov hat es dann vor ein paar Jahren an Boris Juchananov gegeben, der ihm mit postdramatischem Theater neues Leben eingehaucht hat. Sein Theater ist multidisziplinär. Deswegen hat er mich eingeladen, dort eine Oper zu machen. Wir überlegten, wer Regie machen soll und ich sagte, ich möchte das eigentlich selbst machen. Anfänglich war er zurückhaltend. Heiner Goebbels, Romeo Castellucci und andere namhafte Regisseure arbeiten da. Einen Monat später habe ich dann eine kleine Box von Marina präsentiert, um zu zeigen wie die Bühne aussehen soll. Das hat alle beeindruckt und beim nächsten Treffen ging es dann schon um die konkrete Organisation.  

28.11.2019

Interview mit Jule Oeft/JuWie Dance Company zur Premiere von „Rapid Cycling – Das bildest du dir nur ein“, #2 – 2019

Weshalb ist euch das Thema der bipolaren Störung so wichtig? Wir sind durch eine betroffene Person im persönlichen Umfeld auf das Thema aufmerksam geworden. Aus diesem Grund haben wir uns dann näher damit beschäftigt. Dabei ist uns bewusst geworden, was für eine Tragweite diese Erkrankung hat, sowohl für eine betroffene Person als auch für die Gesellschaft. Sie gehört zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in Deutschland. Studien zufolge leiden bis zu 5% der Bevölkerung an einer affektiven bipolaren Störung. Es gibt wenig Aufklärung über diese Erkrankung. Oft leiden Menschen Jahre lang ohne Hilfe zu bekommen oder selbst nach Hilfe zu suchen. Und oft steht ihnen die Stigmatisierung der Krankheit für eine rechtzeitige Diagnose im Weg. „Rapid Cycling“ – Worauf spielt dieser Titel an? „Rapid Cycling“ ist eine Form der affektiven bipolaren Störung. Dabei wechseln sich die Phasen Manie/Hypomanie und Depression rascher und in kürzeren Abständen ab. Da wir innerhalb des Stückes mehrere Phasen darstellen, wirkt es auf den Zuschauer wie „Rapid Cycling“. Wie wichtig ist es euch, das Publikum für das Thema zu sensibilisieren? Was erhofft ihr euch für Rückmeldungen? Unser Hauptanliegen ist es auf jeden Fall, die Menschen auf das Thema aufmerksam zu machen und damit auch zu sensibilisieren. Wir glauben daran, dass man darüber sprechen muss. Es hat eine gesellschaftliche Relevanz, und das Reden darüber trägt dazu bei, ein Stigma zu überwinden. Welche Rückmeldungen wir erhoffen, finde ich persönlich schwierig zu sagen. Natürlich wünscht man sich positive Reaktionen. Vielleicht kommen wir mit Betroffenen oder Angehörigen in einen Austausch. Das wäre schön. Kann Tanz betroffenen Personen weiterhelfen? Es gibt viele Strategien für Betroffene ihren Phasen vorzubeugen, dazu zählen auch Bewegung bzw. Sport. Tanzen kann also für manche eine gute Therapie sein, wenn es darum geht, mal Energie rauszulassen oder auf eine andere Art seinen Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Viele Betroffene sind in ihren manischen oder hypomanischen Phasen kreativer und nutzen den Tanz oder andere Kunstformen, um sich auszudrücken. Welche stilistischen, künstlerischen Mittel nutzt ihr, um den Zuschauer*innen eine Vorstellung davon zu verschaffen, wie sich Menschen mit bipolaren Störungen fühlen? Das zentrale künstlerische Element ist eine Bewegungssprache, der Tanz, welche gleichzeitig auf zwei Ebenen stattfindet. Das können sowohl extreme Pole sein als auch die innere und äußere Perspektive der dargestellten Person. Das wird durch Videoprojektionen realisiert. Ich nutze die Möglichkeiten des Tanz- und Objekttheaters, um die Bandbreite der Krankheit darzustellen. Die Arbeit mit elektronischer Live-Musik ist ein wichtiger Teil des Stückes. Dazu wird es begleitend eine kleine Ausstellung mit Interviews und interaktiven Objekten geben.  

30.08.2019

Das Bündnis internationaler Produktionshäuser, Ein Kooperationsmodell der Zukunft, #2 – 2019

2015 gründeten die sieben Spielstätten FFT Düsseldorf, HAU Hebbel am Ufer, HELLERAU, Kampnagel, das Künstlerhaus Mousonturm, PACT Zollverein Essen sowie das tanzhaus nrw das Bündnis internationaler Produktionshäuser. Es handelt sich hierbei um die sieben größten Institutionen der Freien Szene in Deutschland. Ausgangspunkt für die Gründung des Bündnisses war der drängende Wunsch, sich qualitativ zu Arbeitsweisen und künstlerischen Plänen auszutauschen und kollaborativ zu vernetzen. Viele der neuen Aufgaben und Entwicklungen von Produktions- und Arbeitsbedingungen der Künstler*innen brauchen Verbesserungen, die nur im direkten Dialog und Austausch zu erreichen sind – im Sinne der Erforschung von Praktiken und Möglichkeiten für ein Theater der Zukunft. Denn gerade in der Unterschiedlichkeit der Produktionshäuser bezüglich ihrer jeweiligen Geschichte, Größe, Organisationsform und Arbeitsweise liegt das Potential der Zusammenarbeit des Bündnisses: Es entsteht ein fruchtbarer, produktiver Raum füreinander und auch für die Künstler*innen, der in Zeiten immer neuer globaler gesellschaftspolitischer Herausforderungen den transkulturellen Austausch stärkt. Das Bündnis wurde auf Beschluss des Deutschen Bundestages in den Jahren 2016– 2018 mit jährlich 4 Mio. Euro durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Im November 2018 beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, die Förderung des Bündnisses in gleicher Höhe bis 2021 fortzusetzen. So konnte das Bündnis bereits viele gemeinsame Vorhaben im zeitgenössischen Theater, Tanz und Performance ebenso wie Musik, Diskurs und bildender Kunst realisieren. Dazu gehört u.a. der jährliche Themenschwerpunkt „Claiming Common Spaces“. Ein wichtiges Anliegen des Bündnisses ist die Nachwuchsförderung. So engagiert sich das Bündnis maßgeblich in neuen, immer wichtiger werdenden Berufsfeldern, zum Beispiel mit einer eigenen Akademie für freie Produzent*innen oder den gerade entstehenden Akademien zum Thema Journalismus und Vermittlung. Künstler*innenresidenzen, Auftragsarbeiten, Koproduktionen und ortsspezifische Projektentwicklungen sowie die Stärkung, Vermittlung und internationale Sichtbarmachung künstlerischer Positionen werden in diesem dezentralen Modell von Zusammenarbeit zukunftsweisend weiterentwickelt und erweitert. Mehr Infos zum Bündnis finden Sie hier oder unter www.produktionshaeuser.de

30.08.2019

Das politische System Russlands ist ein Hybrid, #2 – 2019

Dramaturg Johannes Kirsten im Gespräch mit Marina Davydova Moskau, Mai 2019. Marina Davydova, Chefredakteurin der Zeitschrift TEATR und künstlerische Leiterin des Moskauer NET-Festivals, über die Bedingungen des Russischen Theaters 2019. Johannes Kirsten: 2012 haben Sie in einem Artikel für Theater heute geschrieben, dass Russland weder eine reine Diktatur, noch eine wirkliche Demokratie sei, sondern Elemente von beidem in sich trage. Wie sehen Sie das heute? Marina Davydova: Seitdem ist wirklich viel passiert. Das politische System Russlands ist aber immer noch ein Hybrid. Dieses Regime ist stabil, gerade weil es zwischen Diktatur und vielleicht eher einer Imitation von Demokratie hin und her pendelt. Wir können hier immer noch Dinge tun, die zum Beispiel in China unmöglich wären. Aus dem Ausland ist nicht so leicht zu verstehen, was hier passiert. Was wir politisches Leben nennen, ist nicht mit dem in westlichen Ländern zu vergleichen. Praktisch jegliche Opposition ist zerstört oder so marginalisiert, dass sie nicht der Rede wert ist. Was wir politisches Leben nennen, ist der Widerstreit unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb des Kremls. Auf der einen Seite die sogenannten Liberalen und auf der anderen Seite Konservative, eigentlich Faschisten, die vom neuen russischen Imperium mehr oder weniger in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion träumen. Seit Putin 2012 wieder die Macht übernommen hat, werden diese konservativen Kräfte immer stärker. Von 2008 – 2012 war Dmitri Medwedjew Präsident, vielleicht auch nur eine Marionette, auf jeden Fall eine Symbolfigur. Er erklärte immer wieder, dass er das Land modernisieren wolle. In Dokumenten des Kulturministeriums aus dieser Zeit wird das Wort Innovation auffallend oft verwendet. Warum ist gerade das Theater in den letzten Jahren so in den Fokus konservativer Kräfte in der russischen Politik gerückt? Anders als Schriftsteller oder Komponisten hängen Theaterleute in Russland sehr vom Staat ab. Auch wenn man mit keinem einzigen Rubel unterstützt wird, so finden die Aufführungen doch in Gebäuden statt, die dem Staat gehören. Die Logik der Macht ist, wenn sie Geld, Equipment, Elektrizität usw. geben, dann haben die Theater ihnen zu dienen.

„Dieses Regime ist stabil, gerade weil es zwischen Diktatur und vielleicht eher einer Imitation von Demokratie hin und her pendelt.“

Kommt diese Fokussierung aufs Theater vielleicht auch aus der sowjetischen Tradition, von der viele Funktionäre noch geprägt sind? Zu Sowjetzeiten spielte das Theater eine große Rolle in unserem Leben. Das Theater hat Institutionen wie ein wirkliches Parlament, freie Medien oder sogar die Kirche ersetzt. Theater war ein Risiko. Deshalb stand es unter spezieller Beobachtung der Autoritäten. Das hat also eine lange Tradition. Als die Sowjetunion zerfiel, verlor das Theater in den 1990er Jahren seine spezielle Rolle. Es wurden fast nur klassische Stücke gespielt und hatte praktisch nichts mehr mit der Realität zu tun. Mit dem Beginn des Millenniums fing es an, sich seiner vergangenen Bedeutung zu erinnern. Kirill Serebrennikov war eine der wichtigsten Personen dieses Prozesses. Er hat angefangen, neue Stücke über einfache Leute und aktuelle Probleme auf die Bühne zu bringen. Das 2013 gegründete Gogol Center verstand sich als ein Ort der Gesellschaft. Anders als viele andere Theater ist es nicht erst kurz vor der Vorstellung am Abend geöffnet, sondern man kann auch tagsüber hingehen. Neben den Inszenierungen gibt es öffentliche Diskussionen und Vorträge über politische und gesellschaftliche Fragen. Das ist in den Augen der Macht ein Affront: Serebrennikov nimmt unser Gebäude und macht es zu einem Ort dieser liberalen Community und für Diskussionen gegen uns. Hat das Gogol Center Schule gemacht? Auf der einen Seite ja, auf der anderen Seite nein. Heute gibt es eine Menge kleiner unabhängiger Theater. In der Regel entstehen sie nicht in Moskau, sondern in Provinzstädten, auch in Petersburg. Um etwas mehr oder weniger Unabhängiges zu machen, muss man anscheinend weiter entfernt vom Zentrum der Macht sein. Das Teatr Ugol in Kasan ist eines der besten Beispiele dieser unabhängigen Strukturen. Der schwierigste Ort für unabhängiges Theater ist Moskau. Das hat ideologische, aber auch finanzielle Gründe. Die Mieten in Moskau sind extrem hoch. Was ist mit Theatern wie Globus oder Krasnij Fakel in Novosibirsk, wo der Regisseur Timofey Kuljabin arbeitet? Diese Theater sind nicht unabhängig, aber sie versuchen künstlerisch unabhängig zu arbeiten. Es ist gut für sie, dass sie so weit weg vom Machtzentrum sind. Aber man erinnere sich an den Tannhäuser von Timofey, der verboten wurde. Man weiß nie, wie es kommt. Als der Tannhäuser verboten wurde, konnte man immer noch Der ideale Gatte vom Regisseur Konstantin Bogomolow im Moskauer Künstlertheater sehen, obwohl hier ebenso wie bei Tannhäuser radikale, orthodoxe Gläubige dagegen protestiert hatten. Sie konnten aber in dem Fall nichts ausrichten, weil der künstlerische Direktor des Theaters, der berühmte russische Schauspieler Oleg Tabakow war. Tabakow hatte sehr gute Verbindungen zu offiziellen Stellen. Es folgt keiner Logik, sondern hängt immer davon ab, wer und wann und wo. Wie hat der Tod der beiden Gründer des Teatr.doc Michail Ugarow und Elena Gremina und der Tod Dmitrij Brusnikins die Theaterszene beeinflusst? Das Teatr.doc von Gremina und Ugarow war nicht nur ein Theater, sondern eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die Community um das sehr kleine Theater mit nur dreißig Sitzen war riesig. Jetzt, wo die beiden charismatischen Leiter tot sind, verändert sich die Landschaft extrem. Brusnikin war eine andere Persönlichkeit. Er hat nie so eine Institution gegründet, aber er war ein Theaterlehrer und viele junge Leute kamen als Studenten zu ihm. Er hat die mentale Situation unseres Theaters sehr verändert. Es ist eine traurige Koinzidenz, dass diese drei Theaterleute praktisch alle innerhalb eines Jahres gestorben sind. Auch Oleg Tabakow muss man dazurechnen. Seine Intendanz am Moskauer Künstlertheater begann im Jahre 2000 zur gleichen Zeit wie Putins erste Präsidentschaft. Tabakow öffnete die bedeutendste Bühne des Landes für Serebrennikov, Bogomolow und Juri Butusow. Nach Tabakows Tod war die erste Handlung des neuen künstlerischen Leiters, Bogomolow die Arbeitsmöglichkeit dort zu entziehen. Auch wenn Tabakov schon ziemlich alt und vielleicht auch ein bisschen altmodisch war, hat er trotzdem für das Neue gekämpft. Die Theatermacher Ugarow, Gremina, Brusnikin und Tabakow sind gestorben, Serebrennikov wurde verhaftet und Bogomolow hat sich vom Moskauer Künstlertheater verabschiedet. Es stellt sich die Frage, ob dieses Vakuum in Zukunft gefüllt werden kann? Russland ist ein großes Land mit einer Menge talentierter Leute. In den Jahren des Stalinismus wurden so viele Leute umgebracht und trotzdem starb die russische Kunst nicht.

„Um etwas Unabhängiges zu machen, muss man anscheinend weiter entfernt vom Zentrum der Macht sein.“

30.08.2019

Granma, #2 – 2019

Kubas Revolution aus der Sicht der Großeltern und Enkelgeneration Interview von Tom Mustroph mit dem Regisseur Stefan Kaegl Tom Mustroph: Sie haben ein Stück über die kubanische Revolution und die Perspektive mehrerer Generationen gemacht. War es schwierig für Sie, kubanische Darsteller für „Granma“ zu finden? Stefan Kaegi: Ich bin seit 2008 immer mal wieder auf Kuba gewesen und habe meist mit den Leuten vom Laboratorio Escénico de Experimentación Social (LEES) zusammengearbeitet. Das sind sehr junge Theatermacher*innen, die frustiert waren, dass die meisten Theater in den Händen von älteren Männern waren. Mit einer Kerngruppe haben wir über ein Jahr hinweg Personen gesucht, die die Revolution aus der Perspektive verschiedener Generationen erzählen können. Ursprünglich wollte ich das Stück mit Alten machen, aber ich wollte keinen „Buena Vista Social Club“. Ohnehin haben die Alten schon zu lange das Sagen gehabt. Die Anfänge ihrer Revolution faszinierten mich aber. Daher haben wir ein Doppelcasting gemacht für Protagonist*innen mit eigenen Geschichten und mit interessanten Großeltern. Auf der Bühne steht jetzt aber die junge Generation Kubas. Welche Geschichten werden erzählt? Daniels Großvater besorgte einst die „Granma“, das Schiff, mit dem Fidel Castro nach Kuba kam, und war später unter Castro der erste Umverteilungsminister. Der Großvater von Christian war mit dem berühmten – und später wegen Drogenschmuggels hingerichteten – General Ochoa und seinen kubanischen Truppen in Angola im Einsatz. Dianas Großvater wiederum trat als Musiker auch vor den Truppen Ochoas in Afrika und in Syrien auf. Milagro erzählt über ihre Oma und darüber, wie eine einfache Frau im sozialistischen Kuba zu einem besseren Leben kommen konnte und wie sie selbst auch davon profitierte, indem sie als Schwarze und als Frau studieren konnte. Wir erzählen mit Ausschnitten aus dem Parteiorgan „Granma“, aber auch aus sehr persönlichen Perspektiven, wie Kuba auf Ereignisse in der Welt blickte. Wie war der Blick von Kuba aus auf die Welt? 1968 wurden zum Beispiel die Studentenproteste in Paris und der Prager Frühling in Kuba ganz anders verstanden als bei uns. Dort stand die große Zuckerernte an. Über den Mauerfall 1989 war in Kuba kaum etwas in der Zeitung zu lesen. Für die kubanische Gesellschaft war damals das gleichzeitige Ende des Kolonialkriegs in Angola und der Prozess gegen Ochoa wichtig. Das erzählen wir dann mit dem Großvater von Christian. Und der zeigt auf, dass, als Kuba in Angola aktiv war, der Westen auf der anderen Seite der Grenze noch die Apartheid unterstützte. Abdruck des Interviews mit freundlicher Genehmigung von ZITTY – Stadtmagazin für Berlin

30.08.2019

Mit Echten reden (1): Das Ellenbogen-Prinzip, #2 – 2019

Carena Schlewitt im Gespräch mit Tanja Krone Frankenberg, 1989/90. Wenige Augenblicke nach der „Wende“. Tanja Krone ist 13 Jahre alt und besucht die 7. Klasse. Ein Satz liegt in der Luft – in der Schule, Zuhause, im ganzen Land: „Ihr müsst jetzt lernen, die Ellenbogen auszufahren!“ 30 Jahre später spricht Tanja Krone mit Eltern, Geschwistern, alte Schulfreund*innen und Lehrer*innen. Mit ihr stehen zwei Frauen auf der Bühne – die eine 43 Jahre, die andere 13 Jahre alt. Gemeinsam erkunden sie in kollektivistischer Geschichtsschreibung „Das Ellenbogen-Prinzip“: körperlich, inhaltlich, musikalisch, global. Carena Schlewitt: Im Jahr der Wende warst du 13 Jahre alt. Wie hast du die Ereignisse dieses besonderen Jahres zu Hause und in der Schule wahrgenommen? Tanja Krone: Ich denke an die Wende im Schwimmsport, die es möglich macht, dass man von einem Moment auf den nächsten die Welt aus einer anderen Perspektive sieht. Dieser Wendepunkt beschreibt das Lebensgefühl von damals. Zwischen den Menschen existierte eine Verbindung, weil man gemeinsam etwas durchlebte, das niemand benennen konnte. Auch „Strom“ kommt mir als Bild in den Sinn. Wir sind alle geschwommen. Was bedeutet es für dich, die Geschehnisse von damals heute im Theater zu kontextualisieren? Es gibt ja gerade einige gesellschaftliche Konflikte, die politisch und medial erneut auf dieser Ost-West-Achse verhandelt werden. Ich habe mich in diesem Projekt entschieden, die Ostexpertise aufzugreifen und mal kurz wieder die Ostdeutsche zu spielen. Dabei treffe ich auf Erinnerungen, die ich vorher gar nicht kannte. Im Theater können wir gemeinsam neue Erinnerungen herstellen, die uns in die Zukunft tragen. Was waren die ungewöhnlichsten Positionen und Geschichten in Deinem Rechercheprozess? Es gibt etwas Seltsames: Ich würde nie sagen, dass ich um meine Vergangenheit beraubt worden bin. Aber ich würde doch gerne jemandem eine Schuld geben. Alles ging zu schnell. Ich hätte mir lieber einen „Crossfade“ gewünscht. Dass jemand mit mir spricht und den politischen Systemwechsel in mein persönliches Leben einordnet. Aber die Losung war eher: Dann mach jetzt mal! In den Gesprächen hatte ich oft den Eindruck, dass man gar nicht so viel mit Freund*innen und Familie über die Wende gesprochen hat – mit Ausnahme der ersten fünf Jahre vielleicht. Der Einschnitt wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen und jede*r hat seinen Umgang im Alltag damit gefunden. Deshalb würde ich die Gespräche als ausgleichend beschreiben. Vielleicht auch relativierend. Tanja Krone ist Regisseurin, Kuratorin, Performerin und Musikerin. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich mit der Kunst als Möglichkeitsraum und dem Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe. Sie ist an- und ausdauernd auf der Suche nach der Poesie im Dokumentarischen.