30 Jahre danach

Belarus und der lange Zerfall der Sowjetunion

Belarus 2021/22 Gespräch

Am 25. August 1991 hat sich Belarus für unabhängig erklärt. Ende 1991 ist die Sowjetunion Geschichte. Damit endete auch der Kalte Krieg. Die Hoffnung, dass der Fall des Eisernen Vorhangs in eine stabile globale Friedensordnung und multilaterale Kooperationen münden würde, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Der russische Präsident Wladimir Putin sieht den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Dementsprechend werden die Länder der ehemaligen Sowjetunion als russisches Einflussgebiet gesehen. Um die eigene autokratische Macht zu sichern, werden demokratische Bestrebungen dieser Länder gezielt sabotiert und als Angriff auf die eigene Machtvertikale gesehen.

Mit: Alexei Bratachkin (Historiker), Olga Shparaga (Philosophin), Alhierd Bacharevic, Julia Cimafiejeva (Schriftsteller:innen)

Moderation: Volker Weichsel (Redakteur der Zeitschrift OSTEUROPA, Übersetzer)

Gespräch Russisch mit deutscher Simultanübersetzung

Dauer: 1 Std. 30 Min.

Aliaksei Bratachkin

Aliaksei Bratachkin wurde 1974 geboren. Historiker, Leiter des Programms für öffentliche Geschichte am European College of Liberal Arts in Belarus. Derzeit Gastdozent an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt (Oder)). Mitverfasser von Büchern und Artikeln über die Erinnerungspolitik in Belarus, die Europawahl und Identitätsprobleme in Belarus. 

Olga Shparaga

Olga Shparaga, Dr.in phil., Jg. 1974, lehrte bis 2021 Philosophie am European College of Liberal Arts in Minsk (ECLAB), welches sie im Jahr 2014 mitbegründet hat. Sie hat in Minsk und Bochum studiert. Von 2001 bis 2014 unterrichtete sie Philosophie an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius, einer belarusischen Hochschule im litauischen Exil. Sie lehrte und forschte an Universitäten und wissenschaftlichen Zentren in Tschechien, Polen, Litauen, Deutschland und den USA.

2006-2014 war sie Redakteurin der intellektuellen Zeitschrift «Novaja Eŭropa» («Neues Europa»).

Sie gehört dem wissenschaftlichen Rat der Zeitschriften Ideology and Politics Journal, The Interlocutor und pARTisan an. Sie ist Autorin von drei Büchern. Die Gemeinschaft-nach-dem-Holocaust. Unterwegs zur Gesellschaft der Inklusion (Minsk, ECLAB-books, 2018, auf Russisch), wurde 2018 als das beste philosophische Buch vom Internationalen Kongress der Forscher in Belarus ausgezeichnet. Olga Shparaga ist Co-Redakteurin von 7 Sammelbänden. Sommer 2021 erschien ihr Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“ im Suhrkamp Verlag.

Olga Shparaga ist mit Mitglied im Koordinationsrat rund um die belarusische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja. Sie ist Mitbegründerin der Fem-Gruppe in diesem Rat. Als Mitglied der feministischen Gruppe wurde sie im Oktober 2020 inhaftiert. Um einem drohenden Strafprozess zu entgehen, floh sie nach Vilnius. Olga Shparaga lebt im Exil und ist derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.

Julia Cimafiejeva

(geb. 1982) ist eine belarusische Dichterin, Übersetzerin, eine der Gründerinnen und Herausgeberinnen des literarischen Online-Magazins „PrajdziSviet“.  Mitglied des belarusischen PEN-Zentrum und des Verbands der belarusischen Schriftsteller. Sie ist die Autorin von drei Gedichtbänden. 2019 erschien ihre Sammlung „Zirkus“ auf Deutsch (übersetzt von Thomas Weiler und Tina Wünschmann). Ausgewählte Gedichte wurden ins Englische, Ukrainische, Russische, Litauische, Georgische, Schwedische, Polnische und andere Sprachen übersetzt. Ende 2020 wurde ihr Tagebuch „Dagar i Belarus“ („Tage in Belarus“) über das Leben im revolutionären Minsk in Schweden veröffentlicht. Im Mai 2021 wurde ihr Buch MINSK.TAGEBUCH über den Alltag in Minsk während der Protesten gegen Lukaschenka im deutschen Verlag edition.fotoTAPETA veröffentlicht.  Sie hat auch Gedichtsammlungen von Walt Whitman und Stephen Crane sowie mehrere Gedichte von anderen amerikanischen und englischen Autoren ins Belarussische übersetzt. Sie übersetzt auch Kinderliteratur aus dem Norwegischen.

Alhierd Bacharevič (* 1975, Minsk/Belarus)

ist ein Belarussischer Schriftsteller und Dichter. Er studierte belarusische Literatur und Sprachwissenschaft an der Pädagogischen Universität in Minsk. Bacharevič hat einige Romane („Alindarkas Kinder“, „Das letzte Buch von Herrn A.“ u.a.) sowie Essaybände veröffentlicht. Texte des Autors wurden in international renommierten Literaturzeitschriften abgedruckt.

2017 erschien das Hauptwerk des Autors: „Die Hunde Europas“. Der Roman, den Bacharevič selbst aus dem Belarusischen ins Russische übersetzte, war für den größten russischen Literaturpreis „Das große Buch (dt.)“ nominiert und hat es in die Short-Liste geschafft. Das „Belarus Free Theater“ inszenierte den Roman im März 2020 in Minsk. Die Weltpremiere ist aktuell für März 2022 in London geplant. Die Neuauflage des Romans wurde im Frühjahr 2021 von Lukaschenkas Behörden konfisziert und als „extremistisch“ und „staatswidrig“ eingestuft. 

 

 

 

2021 wurde er mit dem deutschen Erwin-Piscator-Preis geehrt („für das kraftvolle Werk als einer der bedeutendsten belarussischen Schriftsteller, der in monumentalen Romanen „Die Elster auf dem Galgen“ und „Die Hunde Europas“ und tiefgründigen Essays die Bedingungen totalitärer Herrschaft erforscht“).

 

2020 entstand noch in Minsk der Essay „Das letzte Wort der Kindheit. Faschismus als Erinnerung“, das in mehrere Sprachen übersetzt und veröffentlicht wurde. Auf Deutsch erschien der Text in der österreichischen Zeitung „Die Presse“. Das Thema des Essays behandelt die Revolution und die Repressionen in Belarus. Alhierd Bacharevič ist seit Jahren Teilnehmer an internationalen Literaturfestivals und im Intellektuellen Klub der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Aleksievich. 2020 war er gemeinsam mit seiner Frau, der Autorin und Übersetzerin Julia Cimafiejeva und Hunderttausenden Belaruss:innen aktiver Teilnehmer an den friedlichen Massenprotesten in Minsk, die gegen das Regime von Lukaschenka gerichtet waren. Seit Dezember 2020 lebt Alhierd Bacharevič mit Julia Cimafiejeva mit dem Literaturstipendium „Writer in Exile“ als Gast des Kulturressorts der Stadt Graz und der Kulturvermittlung Steiermark in Graz.