Eine bessere Welt schaffen, #1 – 2021
Seit 2018 führten Wissenschaftler:innen auf der Grundlage der Erfahrungen mit den EBOLA-Epidemien in Afrika Simulationen durch, die an Fachleuten vor Ort (Minister:innen, Krankenhausmanager:innen und Sicherheitskräften) in verschiedenen Ländern Nordwestafrikas getestet wurden. Sie alle sind Fachleute, doch sie waren ratlos, wenn es darum ging, das Unbewältigbare zu bewältigen. Anfang 2019 bekamen wir Zugang zu den für diese Simulationen verwendeten Szenarien. Wir kopierten sie und entwickelten daraus in Zusammenarbeit mit dem Arzt, der die ursprünglichen Simulationen erstellt hatte, und mit Spiel-Entwicklern, ein Simulationsspiel, das wissenschaftlich validiert wurde. Das Simulationsspiel funktioniert für eine Gruppe von 40 bis 100 Spieler:innen. Es gibt keine Schauspieler:innen, sondern nur zwei Koordinator:innen, die die Spieler:innen durch das Spiel führen. Beim Betreten des Raumes entscheiden sich die Spieler:innen, sich einer der unten aufgeführten Gruppen anzuschließen und eine entsprechende farbige Weste anzuziehen, bevor sie sich ihrem Tisch, ihrer „Basis“, anschließen. Die Gruppen sind:
- Gesundheit
- Forschung
- Sicherheit
- Kommunikation der Regierung
- Presse
- Lebensmittel
- Wirtschaft
- Bevölkerung
Innerhalb ihrer Gruppe erhalten sie eine Charta mit ihren beruflichen Imperativen. Das Spiel findet in 3 Phasen statt, die den 3 Phasen der Entwicklung einer Pandemie entsprechen. Zwischen jeder Phase treffen sich Vertreter:innen jeder Gruppe am Krisentisch, um den Fortschritt ihrer Gruppenarbeit zu kommunizieren und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Die Folgen all dieser Entscheidungen verändern den Verlauf und den Ausgang des Spiels: Es gibt 4 mögliche Zukunftsszenarien. Vielleicht finden sie sich am Ende des Spiels in einer neuen, weicheren Gesellschaft wieder oder vielleicht in einer Diktatur. Wir haben die Erstellung der ersten Version dieses Spiels im November 2019, vor dem Beginn von COVID-19, abgeschlossen. Natürlich waren wir etwas später beeindruckt davon, wie die Realität die Fiktion überholte. Von dem Moment an, als Wuhan im Dezember 2019 unter Quarantäne gestellt wurde, wurde all das, was wir theoretisch gelernt hatten, wahr. Wir meinten, das Spiel hätte seinen Sinn verloren und wir sollten es vielleicht ausrangieren. Aber dann gingen wir das Material wieder durch, um zu sehen, wie und ob es immer noch „funktionierte“. Das Spiel scheint in dem Paradigmenwechsel, den die heutige Situation herbeigeführt hat, völlig widerstandsfähig zu sein. Wir glauben, dass dies vor allem durch zwei Dinge möglich ist: die Präzision des Simulationsmodells von Dr. Philippe Cano – alles, was geschehen ist oder noch geschieht, ist ausnahmslos in seiner ursprünglichen Simulation aus dem Jahr 2018 enthalten – und die unglaubliche Qualität der Anpassungsarbeit der Spielentwickler Théo Rivière und Corentin Lebrat. Die Bedeutung des Spiels ändert sich jedoch: Es ist nicht mehr ein dystopisches Antizipationsspiel, sondern ein kathartisches, verdauendes Spiel. Am Grundmaterial des Spiels haben wir nichts geändert. Alles war und ist da wie ursprünglich erarbeitet. Wir haben nur die Gruppe der Vertreter:innen der Zivilbevölkerung um eine komplexere Rolle erweitert. In der Tat existieren sie in den ursprünglichen Simulationen kaum – aber während des ersten Lockdowns wurde uns klar, wie jede:r darüber dachte, in welcher Welt wir danach leben sollten, wie jede:r eine Meinung darüber hatte, wie Länder mit Pandemien umgehen, welche Art des Lockdowns wir wählen sollten und so weiter. Jetzt gibt das Stück VIRUS der Utopie einen Raum, eine Aussicht, dass eine andere Welt aus einer Pandemie hervorgehen kann. Sind wir bereit, weniger zu fliegen als früher? Können wir es uns leisten, dass ausländische Saisonarbeiter:innen unser Gemüse für einen dürftigen Lohn anbauen und pflücken? Können wir besser als die Regierungen mit einer Pandemie umgehen? Können wir andere Regierungsformen etablieren? Können wir eine bessere Welt schaffen? Wir haben bisher in den Niederlanden, in Deutschland, in der deutschen Schweiz und in Frankreich gespielt. Es ist unglaublich interessant zu sehen, wie am Ende des Spiels verschiedene Gesellschaften entstehen, von denen einige in Diktaturen enden, andere in utopischen Formen des Regierens. Es macht Spaß zu sehen, wie die Spieler:innen Volksabstimmungen vorschlagen oder Fragen und Themen in die öffentlichen Debatten einbringen, die nicht vorhergesehen waren. Der anregendste Teil des Spiels besteht aber tatsächlich darin, wie die Spieler:innen das Spiel übernehmen, wie sie MIT dem Spiel spielen. Das ist etwas, das mir bei meiner Arbeit im Allgemeinen sehr gefällt – zu sehen, wie eine Gruppe von Menschen ein Stück für oder in der Gesellschaft BENUTZEN kann. Können wir eine bessere Welt schaffen? Nun, in VIRUS können wir das. Von Yan Duyvendak
23. – 25.06.
VIRUS
Yan Duyvendak (CH)
Performance
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Gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.