Bouchra Ouizguen: Schwesterlichkeit, mit Leib und Seele, #2 – 2023 von Adnen Jdey

Mit „Éléphant“, einem Stück, das inmitten der marokkanischen Natur entstanden ist, taucht Bouchra Ouizguen in das traditionelle Musikrepertoire der Laâbates ein – und begibt sich an der Seite von drei weiteren Interpretinnen auf die Suche nach Schwesterlichkeit.

„Wie meine früheren Werke, wurde auch dieses Stück vollständig in Marokko geschaffen, aber diesmal in den Bergen. Das Wandern, Singen, Erzählen und das Sein in der Natur haben uns geprägt.“

Erneut arbeitet Bouchra Ouizguen mit ihren langjährigen Komplizinnen Milouda El Maataoui und Halima Sahmoud. Beide sind Mitglieder ihrer Company und spezialisiert auf traditionelle marokkanische Musik und traditionellen Tanz. „In diesem Stück geht es darum, das Repertoire der Laâbates, was ,die Spielerinnen‘ bedeutet, zu Gehör zu bringen“, erklärt Bouchra Ouizguen. Die Laâbates sind in Marokko zwar ebenso frei und vom patriarchalischen Blick verpönt wie gemischte Musikensembles wie etwa die Chikhates, allerdings sind die ausschließlich weiblichen Gesangs- und Tanzgruppen sehr gefragt, wenn es darum geht, gesellige Feste und Familientreffen (Hochzeiten, Taufen) sowohl in den Städten als auch in den Dörfern des Landes zu beleben.

Die Entstehung von „Éléphant“ liegt schon einige Jahre zurück. Eine erste Recherchephase wurde 2019 auf der Rabat-Biennale vorgestellt. Seitdem ist Ouizguen Schritt für Schritt vorgegangen und sagt, sie habe die künstlerische Freiheit bevorzugt, das Projekt zu verändern, wenn sie neue Künstler:innen kennenlernte. Im Herbst 2021 entschied sich Ouizguen, die marokkanische Besetzung um die französische Darstellerin Joséphine Tilloy zu erweitern. Die beiden hatten sich fünf Jahre zuvor bei einem Workshop am Nouveau Théâtre in Montreuil kennengelernt, und Tilloy spielte schließlich in Ouizguens „Corbeaux“ mit. Tilloy war sofort vom musikalischen Repertoire der Laâbates angetan. Der kreative Prozess begann mit Wanderungen im Atlas, nicht mit Tanz- oder Gesangsproben. „Dann bat mich Bouchra zu beobachten, woran sie bisher gearbeitet hatten“, sagt Tilloy, „und dann schlug sie ein Kostüm, einen Raum, Rhythmen vor – bevor sie mich schließlich ermutigte, mich auf meine eigene Weise und mit meinen eigenen Mitteln in das Stück zu stürzen.“

Die in „Éléphant“ aufgegriffenen Traditionen Marokkos haben zwar alte Wurzeln, aber bestimmte Repertoires werden dort auch heute noch praktiziert. „Die marokkanischen Lieder, Tänze und Volksmusik gehören für mich nicht der Vergangenheit an“, erklärt die Choreografin. Das Stück verwebt sie allerdings nicht einfach miteinander: Lokale Tänze und Musik haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt, und in Ouizguens Werk gibt es ein ständiges Wechselspiel zwischen (frei neu interpretierter) Tradition und ihrer Affinität zum zeitgenössischen Tanz. Aus diesem doppelten Einfluss macht sie kein Geheimnis: „Das traditionelle Tanzrepertoire ist Teil meiner Ausbildung. Aber dann weiche ich gerne davon ab, spiele damit, schaffe Reibung, umarme es – ich habe einen sehr spielerischen Zugang zu diesem extrem reichen Repertoire, seiner Geschichte, seiner Mündlichkeit und seiner Poesie.“

Seit „Ottof“ (2015), „Corbeaux“ (2016) und „Jerada“ (2018) ist Bouchra Ouizguen daran interessiert, Live-Sound und Stimme als Ventil für Freude und Trauer zu nutzen. Obwohl sie in Marokko gesellschaftlich unterdrückt werden, sind weibliche Stimmen dort sehr präsent. „Ihr Einsatz von Klang hat mich bewegt“, sagt Tilloy. „Das und das, was wir während der Proben gemeinsam erlebt haben, hat uns geholfen, die Bewegung zu spüren.“

In „Éléphant“ gibt es einen Text, der auf Arabisch gesprochen wird und bei der Erstaufführung in Montpellier nicht übersetzt wurde. „Das war eine vorübergehende Entscheidung“, sagt Ouizguen. „Seit der Premiere haben wir mit der Übersetzung hin und her überlegt. Es war keine Entscheidung, nicht zu übersetzen, sondern eher eine Entscheidung, keine schlechte Übersetzung zu liefern.“ In dem Stück kommen Stimme und Körper in einem Ritual zusammen, das mehr Gesang als Tanz beinhaltet und in dem die Frauen mit den Ängsten zu kämpfen haben, die durch körperliche Arbeit und den Lauf der Zeit entstehen. Sie bilden zwar eine enge Gruppe, aber ihre Individualität schimmert immer durch. Für Ouizguen kommt die Geschichte der Laâbates – wie die eines jeden Frauenchors – besser zur Geltung, wenn der Persönlichkeit jeder Frau Raum gegeben wird.

Könnte das eine Form der Heilung sein? „Ich sehe es eher als eine Gemeinschaft von Schwestern. Eine Schwesternschaft, die ihre Zerbrechlichkeit und Einsamkeit auch durch Schreie und Heulen zum Ausdruck bringt – und dabei ,Éléphant‘ formt“, fügt die Choreografin hinzu. „Aus der bescheidenen Arbeit des Künstlers als Handwerker und aus der Arbeit jedes Einzelnen für das Gemeinwohl ist dieses Werk entstanden.“

Der Text des Philosophen Adnen Jdey ist im Gespräch mit der Choreografin Bouchra Ouizguen und der Darstellerin Joséphine Tilloy entstanden.

Die ungekürzte Originalfassung und die englische Übersetzung finden Sie hier / Please find the original version and the English translation here