Foto: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 12828, Autor:in unbekannt, um 1939

Schwur der Steine, #1 - 2022

Wer die Geschichte von Hellerau vergisst, wird die Gegenwart nicht begreifen.  

Von Michael Ernst 

Steine können nicht reden. Steine sind Zeitzeugen, bleiben aber stumm. Da können die aus ihnen geschaffenen Bauwerke noch so beredt sein. Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch zufolge komme Hellerau als kulturelles Erbe eine ähnliche Bedeutung zu wie etwa der Semperoper und dem Zwinger. „Hellerau ist Ausdruck einer Reformbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts und steht als Antipode zur damaligen Residenzstadt. Aber auch als Nukleus für eine künstlerische Avantgarde sowie für neue Formen der Auseinandersetzung mit Gesellschaft und deren Lebensentwürfen in einer Großstadt.“  

Die Geschichte aus den ersten Jahren der Gartenstadt sei bereits gut erforscht, auch die Zusammenhänge um einstige Reformer wie Émile Jaques-Dalcroze. Künstlerisch derartig visionäre Unternehmen bergen stets die Gefahr des finanziellen Scheiterns, wie seinerzeit auch geschehen. Für umso wichtiger hält es die Politikerin, dass Freistaat und Stadt das einstige Festspielareal nach dem Ende seiner Kasernennutzung wieder einer künstlerischen Nutzung zugeführt haben und dies auch finanziell unterstützen. „Es muss uns darum gehen“, so Klepsch, „mehr als nur das architektonische Erbe sichtbar zu machen. Deswegen ist künstlerische Kontinuität hinsichtlich eines Anspruchs an die Avantgarde so wichtig.“ Zwar sei die jahrzehntelange Unterbringung der Roten Armee aus heutiger Sicht ein absoluter Frevel gewesen, doch dies könne nicht gleichgesetzt werden mit der bis 1945 dort eingerichteten Polizeischule. „Während der NS-Diktatur wurden hier Menschen ausgebildet, die dann in ganz Europa massive Gewalt ausgeübt haben“, hält die Politikerin fest. „Was danach geschah, war das Ergebnis der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten.“ Wie schwierig das Leben der sowjetischen Soldaten gewesen ist, sei derzeit ein weiterer Forschungsgegenstand.  

Stadtrat Tilo Wirtz sieht das ähnlich: „Schon der Umbau von Hellerau 1938 zur Kaserne war eine Vergewaltigung der Ideen Heinrich Tessenows, denn die Anordnung der Kasernenflügel und der dadurch entstehende Kasernenhof zerstörten die offene Piazza.“ Bei den Planungen in den 1990er Jahren sei darauf nicht rückwirkend eingegangen worden, da habe man sich keine Gedanken um die Geschichte gemacht und an Hellerau nur im Zusammenhang mit der Reformbewegung gedacht. Stutzig geworden sei Wirtz, als er erfuhr, dass dort ab 1938 eine Polizeikaserne etabliert worden war. „Polizei und SS wurden damals von Heinrich Himmler in Personalunion geführt und waren gleichermaßen Akteure des Holocaust.“ Je mehr sich diese Einsicht bestätigte und die Quellenlage faktisch verdichtet werden konnte, umso wichtiger wurde das Thema für den historisch interessierten Stadtrat. „Gerade im Zusammenhang mit der Bewerbung um den Titel des Weltkulturerbes dürfen wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, Dresden würde für eine derartige Aufarbeitung nichts tun. Im Laufe der 2000er Jahre gab es zu diesem Thema eine zunehmende Fülle von Material.“ Angetrieben, hier tiefer zu graben, habe ihn „das Wissen um Lücken in der Aufarbeitung, die heutzutage nicht mehr akzeptabel sind“. Der mitunter nach wie vor vertretenen Meinung von Dresden als „unschuldiger Stadt“ hält er entgegen: „Es ist nicht nur die SS gewesen, die für Gräuel vor allem in den von Deutschland überfallenen Ländern Osteuropas verantwortlich war, sondern es waren gerade auch reguläre Polizeieinheiten. Leute, die in den 1920er Jahren erwachsen geworden sind. Leute, die wussten, was sie taten.“ Er habe feststellen müssen, dass die Zeit von 1933 bis 1945 in Dresden viel zu schlecht aufgearbeitet sei. „Der Fokus auf den 13. Februar verstellt den Blick auf die Zeit davor, da gibt es ein fatales Desinteresse bis hin zur Ignoranz. Da will niemand ran. Aber an der Polizeischule in Hellerau wurden eben keine Verkehrspolizisten ausgebildet.“ Ab Sommer 1943 trug diese Institution den Namen Polizei-Waffenschule Hellerau I. 

Wie umgehen mit diesem Erbe?  

Die inhaltliche Erforschung dieser missbräuchlichen Nutzung ist ein wichtiges Anliegen auch für den Historiker Stefan Dornheim vom Stadtarchiv Dresden. „Um die UNESCO-Bewerbung gut vorzubereiten, müssen wir diese Zeit massiv aufarbeiten und ein Konzept vorlegen, wie die Stadtgesellschaft mit diesem Erbe umgehen will. Da gab es schillernde und dunkle Seiten, von denen wir noch zu wenig wissen. Aber man sollte valide Auskunft geben können.“  

Als Idealfall sieht er diesbezüglich die gelungene Kooperation von Kulturamt mit dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV). Robert Badura, der mit dem Projekt betraut ist, und Claudia Dietze verbindet nicht nur das historische Interesse, sondern auch eine schon längere Zusammenarbeit beim Vorderhauspersonal des Europäischen Zentrums der Künste. Sie sind mit der zu untersuchenden Materie vertraut und haben bereits begonnen, überliefertes Material zu sichten. Badura recherchiert nun weiteres Material, etwa zur organisatorischen Eingebundenheit der verschiedenen Institutionen. Da der Polizeiapparat und somit auch die Polizeischule formal staatliche Einrichtungen gewesen waren, ist Badura vorrangig im Hauptstaatsarchiv und im Stadtarchiv Dresden zugange. Problematisch seien freilich nach wie vor die Sperrfristen unterliegenden großen Aktenbestände in Moskau, die noch immer nicht zugänglich sind, sowie pandemiebedingte Einschränkungen in den Berliner Bundesarchiven.  

Claudia Dietze und Robert Badura konnten jedoch schon viel hiesiges Material zur Gartenstadt sichten und sind folglich darüber im Bilde, wie schnell die NSDAP in Hellerau Fuß fassen konnte, wie rasch der damalige Bürgermeister die ab 1933 verhängten Richtlinien umgesetzt und beispielsweise darüber berichtet hat, wie glücklich er über die rückläufige Arbeitslosigkeit gewesen ist. Mit Stolz soll er auch Feierlichkeiten der NSDAP-Ortsgruppe verkündet haben.  

Mit der Eingemeindung nach Dresden Mitte 1950 wurden sämtliche Aktenbestände ans Stadtarchiv übertragen. Darin beschrieben sind einschneidende Veränderungen wie Kriegsvorbereitungen und Flugübungen, aber auch sämtliche Bausachen sowie Akten zur sogenannten Gemeinschaftspflege und zu Festen. Mit deren Sichtung könne beantwortet werden, wie die Zivilgesellschaft mit der Polizeischule umgegangen ist, ob da eher kooperiert wurde oder man sich gestört gefühlt habe. Stefan Dornheim will die Frage beantwortet wissen, inwieweit die Polizeischule als Fremdkörper gesehen wurde oder ob es eine einvernehmliche Koexistenz gegeben habe. „Nach grober Sichtung wissen wir, dass es durchaus Klagen gegen massive Polizeiübungen gab. Doch neben einer gemeinsamen Sportplatznutzung und Kinoveranstaltungen für die Gemeinde im Festspielhaus fanden auch Volksfeste statt, die in eindeutigen Traditionen standen. Forschungen zur völkischen Ideologie belegen, dass es diese Strömungen schon vor 1933 gegeben hat und dass die Lebensreformbewegung recht unterschiedliche Wendungen nahm, von einer allgemeinen Reformbewegung bis hin zu völkisch esoterischen Entwicklungen. Da war also nicht alles liberal und international, wie später gern angenommen.“  

Über die blinden Flecken haben auch Thomas Nitschke und Justus H. Ulbricht bereits geforscht. Aktuell sind in einem Artikel von Thomas Nitschke im Kolloquiumsband zur Welterbe-Bewerbung erhellende Details zu Hellerau als „Zentrum der Völkischen Bewegung“ nachzulesen. Darüber hinaus setzte sich Claudia Dietze in ihrer 2017 verfassten Masterarbeit mit solchen und anderen Aspekten der Vergangenheit auseinander. Gemeinsam mit Robert Badura bietet sie Führungen zum Thema „Die Gartenstadt im Nationalsozialismus“ an, um so viel Wissen wie möglich zu diesem Kapitel der deutschen Geschichte zu vermitteln. „Das Interesse daran ist nicht abgerissen“, berichtet sie und hält weitere Aufarbeitung für wichtig: „Das ist Arbeit gegen das Vergessen. Was gewesen ist, daran soll für weitere Generationen erinnert werden. Hinter sämtlichen Entwicklungen stecken immer Personen, einzelne Menschen, die darf man nicht vergessen.“ Ein bis heute nicht ausreichend beleuchteter Aspekt sei, dass es auch eine jüdische Bevölkerung in Hellerau gegeben hat, über die wenig bekannt ist. „Das muss unbedingt aufgearbeitet werden, das ist Erinnerungsarbeit!“ 

„Real wird Geschichte nur, wenn alle Seiten beleuchtet werden, dazu gehören auch die schlechten Seiten.“ 

Fest steht für Robert Badura, dass dem „Mythos Hellerau“ ein Korrektiv verpasst werden müsse. „Das war keine Insel der Glückseligen, die aus der Lebensreform auftaucht und nach einem Dutzend Jahren wieder versunken ist, bis sie nach der Wiedervereinigung dann wieder auftaucht. Wir haben die Motivation, da mehr Licht reinzubringen. Hellerau soll nicht als Ort des Bösen deklariert, aber real dargestellt werden.“ Und Claudia Dietze ergänzt: „Real wird Geschichte nur, wenn alle Seiten beleuchtet werden, dazu gehören auch die schlechten Seiten.“ Thomas Nitschke berichtet in erwähntem Kolloquiumsband etwa, dass es „bedeutsame Überschneidungen zwischen Lebensreformern und Völkischen“ gegeben habe, sich die völkische Bewegung aber auch von Ideen der Lebensreformern abgegrenzt habe. Nitschke hält fest: „Die Ablehnung des politischen Liberalismus und die Bekämpfung humanistischer Grundwerte blieben den meisten Lebensreformern jedoch fremd.“ Auch dem in völkischen Strömungen zu findenden „rigorosen Antislawismus und Antisemitismus“ seien die Lebensreformer nicht gefolgt.  

Im Aktenmaterial zum Festspielhaus und zur Gartenstadt sei viel zu erfahren, etwa von der Nutzung des Gebäudes durch die Polizei und SS, bis hin zu Hinweisen auf Dienstgrade und den Alltag der Ausbilder, meint Robert Badura. Er betont seinen Anspruch, auch über die Täterperspektive sowie darüber, was später an den Einsatzorten der in Hellerau Ausgebildeten geschah, noch deutlich mehr herauszufinden.“ Stück um Stück konnte herausgearbeitet werden, dass 1934 zur ersten sogenannten Reichstheaterwoche die Opern „Alcestis“ und „Iphigenie in Aulis“ von Christoph Willibald Gluck sowie Händels „Julius Caesar“ im sonst oft leerstehenden Festspielhaus aufgeführt worden sind, dass der Platz bereits ein Jahr zuvor in Adolf-Hitler-Platz umbenannt und ab 1938/39 für die Öffentlichkeit gesperrt worden ist.  

In der Folge seien militärische und polizeiliche Einrichtungen in einen engen Kontakt und Austausch getreten, wurden mit Flughafen und Truppenübungsplatz auf dem Heller sowie der Nationalpolitischen Bildungsarbeit an der früheren Landesschule ein militärischer Komplex im Norden Dresdens geschaffen. Die Deutschen Werkstätten galten als kriegswichtig.  

Robert Badura konstatiert, erstaunt und froh darüber zu sein, „dass in Dresden auf den letzten Metern dieses Doppelhaushalts Gelder freigeworden sind, um hier etwas für die geschichtliche Aufarbeitung zu fördern.“ Wie aber soll in naher Zukunft mit den Ergebnissen all dieser Forschungen umgegangen werden? Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch kann sich Vermittlungsprojekte wie weitere Führungen auf dem Gelände vorstellen. Dazu gäbe es noch Gespräche mit dem Denkmalschutz, den Architekten sowie dem Planungsbüro für den derzeitigen Umbau des Ostflügels. Sie betrachtet es allerdings auch als eine Aufgabe, ein Bewusstsein für alle künftigen Gäste des Festspielhauses herzustellen: „Achtung, es gab auch dieses Kapitel in der Geschichte des Hauses!“ 

Wer mehr über die wechselvolle Geschichte des Festspielhauses und der Gartenstadt erfahren möchte, kann hier weiterlesen:

Nitschke, T. (2005). Grundlegende Untersuchungen zur Geschichte der Gartenstadt Hellerau. Band 1 „Die Gründerjahre“. Leipzig: Engelsdorfer Verlag.

Nitschke, T. (2007). Die Gartenstadt Hellerau im Spannungsverhältnis zwischen weltoffener Reformsiedlung und nationalistisch gesinnter völkischer Gemeinde. Dissertation Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Nitschke, T. (2009). Geschichte der Gartenstadt Hellerau. Dresden: Hellerau-Verlag.

Nitschke, T. (2021). Die Gartenstadt Hellerau: Eine „Pädagogische Provinz“ und ihre Gegner. Dresden: Thelem-Verlag (Universitätsverlag).

Schinker, N. (2013). Die Gartenstadt Hellerau 1909-1945. Stadtbaukunst. Kleinwohnungsbau. Sozial-und Bodenreform. Dresden: Sandstein Verlag.

Teufel, A. (2014). Der „un-verständliche“ Prophet. Paul Adler. Ein deutsch-jüdischer Dichter. Dresden: Thelem-Verlag (Universitätsverlag).

Ulbricht, J. H. (2007). Keimzellen „deutscher Wiedergeburt“ – Die Völkischen in Hellerau und Dresden. Dresdner Hefte: Beiträge zur Kulturgeschichte, 15, (51), S. 80-86.