Foto: Jovana Reisinger

Residenzprogramm HELLERAU, #2 – 2021

Künstler:innen forschen, erproben, verwerfen, erschaffen, präsentieren. HELLERAU ermöglicht in Zusammenarbeit mit dem Fond Darstellende Künste Raum und Zeit für 95 #TakeCareResidenzen. Die Schriftstellerin und Filmemacherin Jovana Reisinger und das Trio „Patterns of Paradyze“ mit Kathrin Dröppelmann, Margarete Kiss, Leon Lechner geben auf den kommenden Seiten Einblicke in ihren Rechercheprozess.

Heimat

Von Jovana Reisinger, die sich in ihrer Recherche mit dem Heimatbegriff und der Anti-Heimat-Kunst beschäftigt (Fassung vom 31. Mai 2021). L.L. schickte mir einst ein Foto von sich auf einem Berg, umgeben von Latschenkiefern, tiefhängenden Wolken und anderen Berggipfeln. Seine Haare waren zu süßen Zöpfchen gebunden und er zog eine cute Schnute, während er verschämt blinzelnd in die Kamera guckte. Ich fand ihn sehr attraktiv, zeigte er sich so gar nicht als Katalog-Naturbursche. Dieses Porträt kam unvermittelt mit einem Spruch, der mich an Mütter und Fotoalben aus den 1990er Jahren denken ließ („Bin hoch hinaus“). Dennoch, dieser Mann schien wie geschaffen für den Gipfel (für alle Gipfel!) und ich antwortete umgehend: „Du siehst gut aus in der Landschaft“. Und obwohl ich ihm das schrieb, ging er nie mit mir wandern (uff!). Stattdessen nahmen L.B. und ich einen Mietwagen und fuhren aus der Stadt raus, hinein in die Bergwelt. Die Aufregung über die bevorstehende Natur-Erfahrung ließ uns entzückt kichern und eine Schlagerplaylist heizte die Stimmung weiter an. Zum Glück regnete es seit Tagen unentwegt und das Wetter gelobte erst ab den Mittagsstunden Besserung, so konnten wir getrost ausschlafen und entspannt einkehren (deftiges Mittagessen!), ehe wir die Wanderung antreten würden (vgl.: „Der Weg ist das Ziel“, „Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt“). L.B.’s blaue Patagonia-Daunenjacke schmiegte sich nicht nur elegant in die Landschaft des rauschenden Gebirgsflusses, den wir stromaufwärts wanderten, sondern gliederte sich ganz geschmeidig in die Masse der anderen dünnen, dunkelblauen Daunenjacken ein, die mit uns vom tatsächlich so ausgeschilderten Wandererparkplatz startete – was uns gleichermaßen amüsierte, wie abstieß. Die ausrangierte Wander-Kleidung meiner Tante suggerierte zweifelsohne, dass ich nicht nur eine regelmäßige Tourengeherin bin (völlige Fehleinschätzung), sondern auch, dass ich Wert auf Qualität und Marken lege – und über das nötige Kapital verfüge (Nein!). Ich ging also als Profi durch. Leider war es angenehm kühl, so dass die Hose mit den vielen Reißverschlüssen nicht zum Einsatz kam, die mich als eine mit Sinn für sich permanent verändernde Wetterlagen gezeigt hätte. Mir gefällt die Vorstellung, in einer langen Hose loszugehen, zwischendurch auf Kniehöhe und dann an den Oberschenkeln die Reißverschlüsse zu öffnen und jeweils die unteren Teile zu lösen. Drei-Hosen-in-einer finde ich toll. Ich liebe praktische Dinge, aber besonders schön finde ich das Gefühl der Sicherheit, die (High-Tech-)Funktionskleidung ausstrahlt. Das Versprechen, für jede Situation ausgestattet zu sein (survival mode: on), muss allerdings mit der Attitüde getragen werden, sich niemals für das Overequipped-sein zu schämen (Motto: „Vorsicht ist besser als Nachsicht“). Mich nervt das ewige Sich-grüßen am Berg, was ich entweder übertrieben engagiert oder verstohlen nuschelnd tue – was mich letztendlich wohl immer als unsichere Städterin outen wird. Eine Weile lang stand ich auf einer Anhöhe und betrachtete die an der Hütte glücklich konsumierenden Menschen in ihrem Survival-Couture-Style, freudig miteinander plaudernd, als wären alle einander bekannt. L.B. war mit seinem Outfit schier nicht mehr auszumachen und kam irgendwann mit einem Bier zu mir zum Aussichtspunkt, was mich freute – denn so ein Getränk würde nach so einer Anstrengung ganz besonders köstlich schmecken. Es sollte sich nicht nur herausstellen, dass für die meisten unserer Begleiter:innen diese hübsche Hütte das Ende der Wanderung war (schönes Ziel!), sondern auch, dass die restliche Zeit der Gebirgsfluss ständig aufs Neue überquert werden musste, um bis zu den Wasserfällen in der Schlucht zu gelangen. Die anfängliche Unsicherheit wich einer ungeahnten Abenteuerlust und wir sprangen von Stein zu Stein und suchten flink die Wege über das eiskalte Wasser (nur ein Fuß landete darin, blieb aber dank der hochqualitativen Schuhe trocken, danke Tante). Ich spürte mein Herz klopfen und mochte es, auch mal schneller als L.B. am anderen Ufer zu sein, der mir aber meist die Hand reichte, um mir über knifflige Passagen zu helfen. Die Wolken rasten an diesem Tag so schnell, wie der Fluss dahin rauschte und die letzten Meter glaubten wir, in ein fürchterliches Gewitter zu kommen (da sind wir einmal in der Natur!) gingen aber weiter. Doch dann, just in dem Moment, als wir vor dem Wasserfall auf einen Felsen kletterten, um darauf unsere Jause zu verzehren, brach die Sonne durch und die Umgebung zeigte sich im schönsten Kitsch. Die Felsen, Höhlen, Kiefern, Bergblümlein, Heilkräuter und das tosende Geräusch ließen mich glauben, dass ich dringend in ein Bergdörflein ziehen müsse, um wirklich glücklich zu werden. Ich schoss viele Fotos. Überwältigt und froh. Völlig high. Einsam in der Schlucht. Die Anderen hatten wir abgehängt. Die ganze Natur nur für uns. Eins davon schickte ich L.L. Er antwortete: Du bist schön in der Landschaft. Und ich wusste, es stimmt. Denn das hier war perfekt. L.B. lachte und ich wusste nicht, warum. Ich lachte und erinnerte mich an einen Moment im alpinen Teil des botanischen Gartens in Berlin, als L.K. und ich den schönsten Baum (Tränen- Kiefer) fanden und uns schworen, für immer zusammen zu bleiben. Die Natur löst die lustigsten und feinsten Gefühle in uns aus. Schmachtend dachte ich: Liebes Drama, I’m all in! Show me what you got. Und L.L. hat den nächsten Wandertag schon wieder abgesagt. #TakeCareResidenzen ist ein Förderprogramm des Fonds Darstellende Künste im Rahmen von NEUSTART KULTUR. Realisiert durch das Bündnis internationaler Produktionshäuser, dem Zusammenschluss der 7 größten Institutionen für die freien darstellenden Künste in Deutschland, gefördert von der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Paradyze Me

Kathrin Dröppelmann, Margarete Kiss, Leon Lechner (Patterns of Paradyze) Wir recherchieren zu heterotopischen Entwürfen für eine inter-spezielle Kommunikation in zeitgenössischen Gärten vor dem Hintergrund widerständiger Praxen von Tieren, Pflanzen und (Nicht-)Menschen. Welche Formen einer gemeinsamen Sprache entwickeln sich, wenn der Mensch nicht mehr bestimmt? Wo finden sich Beispiele dafür in den Gärten Helleraus? Ausgehend vom Begriff des Paradieses entwickeln wir eine vielgestaltige Methodik, bestehend aus dem gemeinsamen Lesen von Theorie, Spaziergängen und Zaungesprächen in Hellerau. Den Kulturgarten HELLERAU nutzen wird zur Sichtbarmachung unseres wachsenden Wissens und Austauschs: Durch den performativen Akt der Pflanzung eines Brennnesselfeldes wollen wir einen parallelen Wachstumsprozess zu unseren Gedanken verdeutlichen. Nicht im Sinne eines fertigen Produkts oder mit einem Anspruch der Objektivität, vielmehr geht es uns darum, die ästhetische Praxis nach ihrem Wissen zu befragen: Welche Art von Wissen kann die Kunst produzieren? Im Kollektiv verhandeln wir uns und unser Vorgehen. Verhandeln heißt in diesem Sinne: sich gegenseitig zuhören, aushalten, sich kümmern, diskutieren, streiten, nachgeben und lachen können darüber. Privateigentum vs. Andere Eigentumsformen, Communitylandtrust, Genossenschaft,… 

Garten Ein Garten ist ein abgegrenztes Stück Land, in dem Pflanzen oder Tiere vom Menschen in Kultur genommen und somit gepflegt (kultiviert) werden. Gärten sind im Gegensatz zu Parks meist private Flächen. Wer sind die Besitzer:innen? John Locke sagt: „Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas Eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht.” (TTG II 27, 216 f., John Locke: Two treatises of Government, England, 1689). Garten als Schutzraum Der Garten als Kontrollraum oder als Beziehungsgemeinschaft? 

Vegetationsgemeinschaften (Nicht-)Mensch/Tier/Natur Vegetationsgemeinschaft beschreibt den Typus von Pflanzenbeständen, die eine sehr ähnliche Artenzusammensetzung haben. Sie entsteht, weil sich unter bestimmten Standortbedingungen nur eine spezifische Gruppe von Pflanzenarten ansiedeln und halten kann. Die Arten stehen in Wechselbeziehung zueinander. Faktoren für das Zusammenleben sind das Klima, die gegenseitige Unterstützung und auch die Konkurrenz. Ändern sich die Standortfaktoren, gehen die Pflanzengesellschaften in andere über. Dieser Prozess wird als Sukzession bezeichnet. 

Paradies Das Wort „Paradies“ stammt aus dem Alt-Iranischen und meint „Umzäunung“. „Chortos“, von dem sich „Garten” ableitet, ist indogermanisch und bezeichnet einen umfriedeten, behütenden Ort. Wer darf rein und wer darf es nicht? 

Zaun Der Zaun kann eine Abgrenzung zum Außen bilden oder auch ein Areal umfrieden. Im Falle des Gartens schützt er einen menschengemachten Raum, einen Lebensraum, der explizit Menschen sowie Nicht-Menschen aus- und einschließt. Durch unser Interesse an einer Mauer entstand mit der Eigentümerin ein Gespräch. Sie erklärte uns, warum diese Mauer in DDR-Zeiten entstanden ist: Sie sollte die Abgase der Trabis und Wartburgs, die die Straße neuerdings hinauffuhren, vom Kuchenteller fernhalten. 

Intervention: Brennnesselfeld Wir bauen einen 7-Meter-Zaun aus Unkraut. Unkraut: das „Un-“ hat immer das Potenzial, widerständig und wichtig zu sein. Die Brennnessel und ihre Rhizome wachsen und entwickeln sich parallel mit uns und unserem Wissen, vernetzen und verzweigen sich. Der erste Monat ist vergangen und unser Zaun wächst nicht. Vielleicht, weil die Brennnessel nicht von uns zum Zaun-Bau instrumentalisiert werden will? Wir wissen es nicht. 

„If the Earth is Planet Garden [Gilles Clément] we should all be gardeners […]“ Maria Paula Diogo, Ana Simões, Ana Duarte Rodrigues and Davide Scarso, Gardens and Human Agency in the Anthropocene, S.96,.l. 8, First published 2019 by Routledge