Pflanzen-Meditation: Eine praktische Anleitung, #1 – 2022

Was gilt als „natürlich“ oder „unnatürlich“, wenn wir uns um jemanden kümmern? Im Oktober 2021 waren Eszter Kállay und Bence György Pálinkás als Residenzkünstler:innen zu Gast in HELLERAU. Im Kulturgarten, inmitten von Pflanzen, die scheinbar natürlich sind, sich aber aufgrund ihres kulturellen Umfelds ganz anders verhalten als in ihrem natürlichen Lebensraum, luden sie zum Workshop „Roses are Red, Gender is Performative“ ein, der die Beziehung zwischen der Bewirtschaftung eines Gartens und der Kindererziehung untersuchte. Um einen geschützten Raum zu eröffnen, in dem sich jede:r wohlfühlt und ein Austausch mit den Teilnehmer:innen angeregt wird, begannen sie ihre Workshops immer mit einer zehnminütigen Meditation, welche die Künstler:innen hier in schriftlicher Form weitergeben möchten. 

Bitte bereite für diese Meditation Papier und Stifte vor. Wir empfehlen dir, einen oder mehrere Partner:innen zu suchen und ihnen den folgenden Text vorzulesen oder ihn dir vorlesen zu lassen. Begib dich in einen Garten, einen Wald oder auf einen Balkon, wo du in entspannter Stimmung verweilen kannst.  
Bitte suche dir einen bequemen Sitzplatz und stelle deine Füße auf dem Boden ab. Schließe deine Augen. Du befindest dich in einem Garten/Wald/etc. Beginne, deinen Atem wahrzunehmen. Achte auf dein Einatmen, dein Ausatmen und auf den Moment, wo sie sich treffen. Wenn Gedanken auftauchen, nimm sie einfach zur Kenntnis, akzeptiere sie, aber du musst nicht an ihnen festhalten.  
Versuche, mit jedem Einatmen Ruhe einzuatmen und entspanne mit jedem Ausatmen deinen Körper. Beginne, deine Füße, deine Zehen zu entspannen. Spüre die Verbindung deiner Füße mit der Erde. Entspanne deine Knöchel, deine Schienbeine, entspanne deine Knie und deine Oberschenkel. Du kannst deine Hüfte und deinen unteren Rücken entspannen und dich einfach in deinen Sitz hinein entspannen. Dann entspanne deine Bauchmuskeln, deine Rückenmuskeln. Du kannst deine Schultern und Nacken entspannen. Versuche auch, dein Gesicht zu entspannen, deinen Kiefer, deine Stirn, den Raum zwischen deinen Augenbrauen–lasse diese Muskeln einfach los.  
Nimm nun die Umgebung um dich herum wahr. Achte darauf, ob du irgendwelche Geräusche in deiner Umgebung hörst: Geräusche des Gartens, Geräusche des Wetters, Geräusche von Lebewesen, von Menschen. Achte auf diese verschiedenen Geräusche der Natur und der Kultur. Nimm Gerüche wahr, das Licht, das durch deine geschlossenen Augenlider bricht. Verändern sich die Gerüche, das Licht? Achte auf die Veränderung. Achte auf die Temperatur des Raumes und die Qualität der Luft.  
Stelle dir nun einen Garten vor. Es kann jede Art von Garten sein. Und in diesem Garten gibt es eine Pflanze. Sieh dir diese Pflanze an. Hat sie eine Farbe oder mehrere verschiedene Farben? Achte auf die Form dieser Pflanze, auf die Größe der Pflanze. Steht sie für sich allein oder ist sie mit anderen Pflanzen verbunden? Du kannst dir auch vorstellen, diese Pflanze zu berühren. Welche Teile hat sie? Hat sie weiche Teile? Raue Teile? Du kannst dir auch vorstellen, deine Finger in die Erde dieser Pflanze zu stecken. Stelle dir die Qualität des Bodens vor. Ist er feucht? Ist er trocken? Aus welcher Art von Erde wächst die Pflanze?  
Und nun stelle dir die Geschichte der Pflanze vor. Wie ist sie in den Garten gekommen? Wurde sie hier gepflanzt oder ist sie von selbst gewachsen? Was ist der Ursprung dieser Pflanze? Du kannst auch über die Geschichte des Wachstums der Pflanze nachdenken. Haben Menschen der Pflanze geholfen zu wachsen? Ist ihr Wachstum auf Hindernisse gestoßen? Hat sie Grenzen oder wächst sie sehr hoch und frei? Kontrolliert jemand diese Pflanze? Beschützt sie jemand? Wurde sie von jemandem kultiviert? Welche Rolle spielt diese Pflanze im Garten? Hat sie Früchte, die man essen kann oder ist sie ein Zierelement? Gilt sie als nützlich? Wächst sie ohne menschliches Zutun? Inwieweit ist sie Teil der Natur und inwieweit ist sie Teil der Kultur?  
Schaue dir die Pflanze noch einmal an: ihre Qualität, ihre Farben, den Boden, den Garten, der sie umgibt. Schaue ein letztes Mal genau hin.  
Kehre nun zu deinem Körper zurück und konzentriere dich wieder auf deinen Atem. Erlaube ihm, in seinen natürlichen Rhythmus zurückzukehren. Höre wieder auf die Geräusche der Umgebung und nimm das Licht wahr, das durch deine geschlossenen Augenlider dringt. Du kannst langsam deine Zehen und Fingerspitzen bewegen, wenn es für dich angenehm ist. Du kannst auch mit deinen Handgelenken und Knöcheln kreisen. Dehne dich, wenn es sich gut anfühlt. Öffne langsam deine Augen.  
Und nun zeichne die Pflanze, die du dir vorgestellt hast. Wenn es sich gut anfühlt, kannst du über die Pflanze sprechen, während du sie zeichnest.  

Eszter Kállay ist Dichterin, Übersetzerin, hat den Masterstudiengang Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien absolviert und arbeitet als Sozialarbeiterin. Ihr Interesse gilt der kritischen Pädagogik und dem feministischen Aktivismus. Kállays erster Gedichtband, „Kéz a levegőben“ (Hand in der Luft) erschien im Oktober 2020 im Magvető Verlag.  Bence György Pálinkás ist gelernter Tischler, war Gastdozent an der Slade School of Fine Art – UCL, London und am Zentrum für Osteuropastudien, Warschau. Nicht-hierarchische Gemeinschaften interessieren Bence György Pálinkás auf der Bühne und in diversen künstlerischen Arbeitszusammenhängen. Mit dem Stück „Die ungarische Akazie“ war er mit seinem Team u.a. hier zu sehen: Mousonturm, Spielart, PALM OFF FEST, Theaterfestival Basel, BOZAR und bei Off Europa Festival.  

Das Residenzprogramm in HELLERAU wird gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.