Foto: Sammi Landweer

Lia Rodrigues, #1 – 2022

„Come Together“ zeigt als Themenschwerpunkt von Mai bis September 2022 verschiedene künstlerische Positionen zu den Themen Empathie, Gemeinschaft, Fürsorge und sozialer Zusammenhalt. Auch die Gastspiele von Lia Rodrigues und von Dada Masilo im Juni 2022 finden in diesem Rahmen statt. Das abschließende Festival „Come Together ChoreoLab x Stations“ ist im September 2022 geplant. 

07./08.05.2022 
Encantado 
Lia Rodrigues Companhia de Danças 
im Rahmen von Come Together 
„Come Together“ wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. 

… das Recht, glücklich leben zu dürfen. 

Im Mai 2022 gastieren Lia Rodrigues und ihre Company mit ihrer neuen Produktion „Encantado“ in HELLERAU. Neben ihren weltbekannten Tanzstücken betreibt die brasilianische Choreografin auch ein großes Kunst- und Ausbildungszentrum in einer der größten Favelas in Rio de Janeiro. Arnd Wesemann (tanz) sprach mit ihr über diese in Europa wenig bekannte Seite ihrer Arbeit.  

Für mich als privilegierte, weil weiße Brasilianerin ergibt sich eine ganz andere Situation als für die Mehrheit der Menschen in meinem Land. Ich kann hier in Europa arbeiten, ich kann hier in einer anderen Sprache als Portugiesisch sprechen, ich bin eine Künstlerin.

Wenn ich zurückschaue, hat sich für mich immer nur eine Frage gestellt: Wie kann der zeitgenössische Tanz in Dialog treten mit einer sozialen Aufgabe? Was bewirkt er, wenn er immer nur für dieselben Leute im Kontext einer künstlerischen Aktion dargeboten wird, die stets denselben Diskurs, dasselbe Wissen teilen zwischen etablierten Tänzer:innen und dem Establishment, das im Publikum sitzt? Die Mehrheit der Bevölkerung dagegen hat gar keine Berührung mit zeitgenössischer Kunst.

Dieser Gedanke hat dazu geführt, dass ich zusammen mit meiner Dramaturgin 2003 in diese riesige Favela de Maré mit 140000 Einwohner:innen in Rio de Janeiro ging. Die Favela de Maré wird von vier Clans beherrscht, die sich untereinander bekriegen und zugleich eine sehr bestechliche Polizei unter ihrer Kontrolle haben. Diese Polizei betrachtet die Bewohner:innen der Favela nicht als Bürger:innen, sondern als Aussätzige. Entsprechend schnell kommt es zu Schießereien, meist aus sicherer Distanz. Du bringst deine Kinder nach Hause, und von oben ballert ein Kampfhubschrauber der Polizei wahllos in die Menge. Aber hier in der Favela gibt es auch Helfer:innen, nicht-staatliche Organisationen, die sich um die Erziehung und die medizinische Versorgung kümmern. Meine Idee war, mit ihrer Unterstützung ein Kunstzentrum in der Favela zu errichten. Kulturell gab es hier nichts. Monatelang bin ich durch die Favela gestreift und entdeckte 2008 schließlich eine vor zwanzig Jahren aufgegebene Fabrikhalle, die wir gemietet und mühevoll wieder hergerichtet haben–bezahlt wurde das meiste durch meine Company, also von Einnahmen aus den Tourneen in Europa. Die Halle hat 12000 Quadratmeter, sie ist riesig. 2009 haben wir sie eröffnet und können hier alles machen, Theaterklassen geben, proben, unsere Premieren aufführen, Konferenzen veranstalten. 2011 haben wir auch eine Tanzschule für 300 Kinder eingerichtet. Sie sind in zwei Gruppen geteilt: eine für Jugendliche von acht bis 18 Jahren, die Ballettklassen, Yoga, zeitgenössischen Tanz erfahren und für alle Kurse nichts bezahlen müssen. Zusätzlich haben wir eine Tanzcompany für Leute zwischen 14 und 23 Jahren, die professionell arbeiten, mindestens vier Stunden pro Tag trainieren und für ihre Arbeit Stipendien erhalten. Schule und Juniorcompany werden bezahlt von der französischen Fondation d‘entreprise Hermès. Ihr hat sich zuletzt auch der Prins Claus Fonds aus den Niederlanden angeschlossen. Das ist natürlich alles langsam gewachsen. Die ersten Student:innen erzählten es weiter, ihren Freund:innen und ihrer Familie etc. Aber es ist noch lange nicht so, dass die Massen strömen. Ich bin auch nicht so bekannt in meinem Land, nicht bei diesen Leuten, wohl eher nur in einem kleinen Zirkel, der sich für zeitgenössischen Tanz interessiert.

Essenziell ist für mich die Frage: Für wen mache ich Kunst? Für die Geldgeber:innen oder für die, die keinen Zutritt erhalten, die von der kulturellen Teilhabe ausgeschlossen sind? Ich bin in die Favela de Maré gezogen, um das zu teilen, was ich selbst umsonst erhalten habe: meine Erziehung und meine Hautfarbe. Ich will, dass diese Menschen auch eine Chance haben. Wenn sie Kunst machen wollen, wenn sie tanzen wollen, sollen sie das genauso dürfen wie ich. Wobei Tanz sicher den Vorteil hat, dass es eben keine Kunst der Privilegierten ist, nicht in Brasilien, wo eine unglaubliche Diversität an Tanzformen existiert, neben Modernem Tanz, neben Ballett, also neben den weißen Tanzformen. Und noch vor gar nicht so langer Zeit waren Tänze in Brasilien wie Candomblé oder Samba keine anerkannten Kunstformen, und sie sind es heute oft auch noch nicht. Seit ich in Maré lebe, habe ich eine andere Perspektive auf die Welt. Sie ändert meine Arbeit. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich diesen Weg gegangen bin. Ich denke, ich möchte einfach, dass auch diese Menschen das Recht erhalten, das zu tun, was sie tun wollen, dass auch sie das Recht haben, glücklich leben zu dürfen.  

Anmerkung zur aktuellen Situation: Das Kunstzentrum im Maré wurde 2020 zu einem Verteilzentrum für Lebensmittel und medizinische Hilfe umfunktioniert. Mehrere Vereine koordinieren hier die private COVID-19-Hilfe für die Maré-Bewohner:innen, die keinerlei staatliche Unterstützung erhalten. Die Schule läuft unter großen Schwierigkeiten und mit nur wenigen Schüler:innen weiter, um eine Komplettschließung zu verhindern.   

Gekürzte Fassung; der vollständige Artikel erschien im Jahrbuch 2019 der Zeitschrift tanz.