Foto: Tanja Krone

How far is East ,#2-2022

Künstler:innen forschen, erproben, verwerfen, erschaffen und präsentieren. HELLERAU als Mitglied des Bündnisses der internationalen Produktionshäuser ermöglicht im Rahmen von Neustart Kultur, in Zusammenarbeit mit dem Fonds Darstellende Künste, Raum und Zeit für #TakeHeart Residenzen 2021/22. Zwei Künstlerinnen, Tanja Krone und Kristina Dreit, geben hier Einblick in ihre Forschungsfragen und Arbeitsprozesse.

Auszug aus meinem Recherche-/Reisetagebuch von Tanja Krone

08.05.22, Athen

22 Grad, gestern Regen. Vier Wochen Reise liegen hinter mir. Von Berlin nach Athen, auf dem Landweg. Österreich, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Nordmazedonien. Ich habe mich aufgemacht, wie „Hans im Glück“, den guten Streit zu suchen. Und dabei jene Grenzen passiert, die hochgezogen wurden, als die Grenze zwischen Deutschland und Deutschland gerade fiel. Dort Vereinigungs-Jubel und temporäre Euphorie. Hier Abspaltung, Abgrenzung, was „Eigenes“ kreieren, manifestiert in einem Krieg, der für alle deutlich sicht- und spürbar war und ist. Die 1990er (…)Ich möchte nicht über den Krieg sprechen und komme nicht drumherum. Ich möchte über den guten Streit sprechen und stelle schnell fest, dass der hart erkämpft werden muss. So erzählen es mir die Leute überall dort, wo ich verweile. Zwanzig gezielt geführte Gespräche. Circa. Ich behalte sie vorerst für mich.

17.04.22, Sarajevo

Die Wunde bleibt. Kann man am besten sehen, wenn man acht Stunden im Bus von Zagreb nach Sarajevo fährt, von Nord nach Süd. Wunderschöne Landschaft, rauh, grün, kalt und warm at the same time. Präsenz auf allen Ebenen. Klarheit. Ganz anders als bei den Häusern, den Leuten. Unsicherheit, Skepsis, unverputzte Neubauten, verletzte Fassaden. Ich kenne die Karte des Krieges nicht. Aber ich erkenne sie, je mehr ich mich hier durch bewege.

Was bedeutet es, wenn eine Bevölkerung ihre 30 Jahre alten Kriegsverletzungen nicht bedeckt. Ist das ein allgegenwärtiges Memorial und auch so gemeint? Das wäre  nicht schlecht, das hätte was mit Emanzipation zu tun. Die eigene Wunde zeigen und offensiv mit dieser Verletzung, mit diesem Eingriff umgehen. Aber das ist es nicht. Es ist irgendwie egal, dagelassen, keine Zeit, keine Kraft gehabt, diese Häuser mit ihren Einschusslöchern wieder heile zu machen. Oder kann es sein, dass das hier keine:r mehr sieht. Nur ich mit meinen ungetrübten, nicht wahrhaben wollenden Augen, mit diesen fern-der-Realität-Augen, diesen kindlichen, ostdeutsch sozialisierten Augen (…) Diese Augen, die so lange dachten, die heutigen Kriege sind die letzten ihrer Art, die hören auf, nur noch eine Frage der Zeit.

Wo war ich? Was habe ich verpasst? Ist das Naivität und wenn ja, war die wichtig, um überhaupt Lust zu haben, sich über Neues Gedanken zu machen? Die Veränderbarkeit der Welt.

Heute gibt es drei Sprachen und mindestens zwei Geschichtsbücher in den Schulen in Bosnien und Herzegowina. Die Sprachen klingen und schreiben sich gleich und meinen auch das Gleiche. Mit aller Kraft wird hier an einer Unterscheidung gearbeitet, aber das dauert. Jetzt schon 30 Jahre. Anders bei den Geschichtsbüchern, da ging die Abgrenzung schneller, verschiedene Autor:innen, verschiedene Perspektiven, fertig. Auf den Krieg zum Beispiel, auf die Geschichte. Denn es kann viele geben bzw. kann die Geschichte unterschiedlich erzählt werden. Ist das Streit? Nein, das ist kein Streit. Das ist Manifestation von Macht, von Alleinstellung, die allseitige Inanspruchnahme der historischen „Wahrheit“ und sucht keine Auseinandersetzung.

30.04.22, Zug von Thessaloniki nach Athen

Ich treffe Johanna*. We are partners in crime. Sie sucht die Liebe, ich den guten Streit. Beides gehört zusammen. Beides will was „gemeinsam machen“. Johanna sagt: Interessant, wie du über Sarajevo sprichst. Ich denke darüber nach, warum aus  einer solchen Situation der Verwundung kein Streit entstehen kann. Braucht es eine gewisse Gesundheit und Intaktheit, um zu streiten? Was ist das Fundament? Was können politische Rahmensetzungen sein, um eine streitbare Bevölkerung zuzulassen? Und welche Rolle spielt Sprache? Ich rede über Agilität, dass Streit lebendig ist oder sein müsse. Und dass mich die (selbst) verordnete Passivität (weil man „eh nichts machen kann“), der ich auf meiner Reise durch dieses Ex-Jugoslawien zu oft begegnet bin, zunehmend abgestumpft hat. Dass sich andererseits ALLE, die ich so getroffen habe, wünschen, es würde gute Formen dafür geben. Techniken!

08.05.22, Athen

Ich lese das und frage mich: Wie nun rankommen an diese Techniken? Denn es gibt ja welche. Wie erlernen? Welche lustvollen, auch neuen Formen lassen sich (er)finden? Und sammle weiter. Hier in Athen, der europäischen, offiziell anerkannten „Wiege des Streits“.

Tanja Krone ist Regisseurin, Performerin und Musikerin und liebt alles, was „echt“ ist. Im April 2022 hat sie sich mit ihrem #TakeHeart-Stipendium spontan auf eine Reise gen Osten begeben, um dort nach alten und neuen Kulturtechniken des Streitens zu suchen. Sie hofft, mit streitbaren Ansätzen und einem besseren Verständnis, was oder wer „der Osten“ eigentlich ist, zurückzukehren.

Gefördert vom Fonds Darstellende Künste im Rahmen von Neustart Kultur: #TakeHeart. Realisiert durch das Bündnis internationaler Produktionshäuser, das Netzwerk freier Theater und das flausen+bundes netzwerk. Das Residenzprogramm in HELLERAU wird gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.