Beast Type Song

Sophia Al-Maria

HYBRID Biennale Installation

Beast Type Song (2019) ist ein Einkanal-Video mit Ton, in dem die Themen Sprache, Bildung und Schrift in einer Untersuchung der Auslöschung und Revision von Identitäten und Geschichten aus Vergangenheit und Zukunft miteinander verwoben sind. Das Werk, das als Projektion gezeigt wird und etwas mehr als achtunddreißig Minuten dauert, besteht aus einer Konstellation von Bildern und Geschichten, die sich zu einer abstrakten und sich verändernden Konfliktlandschaft zusammenfügen. Das Video besteht aus einer Sammlung von „Überarbeitungen“, wie Al-Maria es nennt, und lehnt sich in seiner Struktur an die visuelle Sprache der Drehbuchbearbeitung an. So wie die einzelnen zurückgegebenen Überarbeitungen eines Drehbuchs durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet sind, wird jeder Akt von Beast Type Song durch ein Sternchen auf einem andersfarbigen Hintergrund markiert: blau, rosa, gelb, grün, goldgelb, sandfarben, lachsfarben, kirschrot, hellbraun. Das Video besteht aus neun solcher Überarbeitungen. Als Künstlerin mit Erfahrung als Drehbuchautorin setzt Al-Maria ihr Medium bewusst ein, um verdunkelte Realitäten zu beleuchten. Form und Inhalt vermischen sich durch die Verwendung von Überarbeitungen der Schrift, um historische Überarbeitungen anzusprechen. Beast Type Song wurde auf dem heruntergekommenen ehemaligen Campus der Central Saint Martins School of Art and Design in Holborn, London, gedreht, einem Ort, der für die Ausbildung vieler prominenter britischer Künstler ein wichtiges Erbe darstellt.

Beast Type Song wurde erstmals im Rahmen des Programms Art Now in der Tate Britain zwischen September 2019 und Februar 2020 ausgestellt. Am 18./19.11.2022 wird es im Rahmen der HYBRID Biennale 2022 im Spero Saal im Festspielhaus Hellerau in Kooperation mit PYLON präsentiert.

Das Screening ist Teil des PYLON-Lab Programms COLLATERAL EXTINCTION, unterstützt von der Kulturstiftung Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Sophia Al-Maria ist Künstlerin, Schriftstellerin und Filmemacherin. Sie wuchs in den Vereinigten Staaten und Katar auf, bevor sie nach Ägypten zog, um an der American University in Kairo vergleichende Literaturwissenschaft zu studieren. Anschließend absolvierte sie ein Studium der akustischen und visuellen Kulturen an der Goldsmiths University in London.

Zu den scheinbar disparaten Inspirationsquellen für Al-Marias multidisziplinäre Praxis gehören Popkultur, Anime, arabische Poesie, Science-Fiction und ihre persönlichen Erfahrungen mit Umweltverschmutzung und Klimawandel. Die Künstlerin arbeitet vor allem mit Film und erzählendem Text, webt fesselnde Geschichten, um ihre Gedanken und Gefühle über die Zukunft zu verarbeiten, insbesondere angesichts des derzeitigen Klimas der Ausrottung. Ihre jüngsten Arbeiten befassen sich zunehmend mit der Isolation des Einzelnen durch die Technologie und dem Konsumverhalten als Ersatzreligion. Vor allem mit der Frage, welche Rolle das Handeln und der Zufall bei der Verblendung durch eine ungewisse Zukunft spielen.

 

In Beast Type Song (2019) gibt es zwei Musikstücke, deren Interpret*innen unbekannt sind. Eins davon ist die Koransure über den Blutklumpen (العَلَق), die von einer jung klingenden androgynen Stimme vorgetragen wird, und das andere das arabische Volkslied The Dove Bird (طيرالحمام) – im Video ist die darin besungene Taube ein wiederkehrendes Element. Das Lied wird zunächst „live“ vor einem palästinensischen Poster gesungen, das während Al-Marias Kindheit in ihrem Wohnzimmer hing. Gegen Ende ist es ein weiteres Mal in Form eines YouTube-Clips zu hören. 2010 vom User Os66s hochgeladen, zeigt er eine junge Frau, die gegen ein Kissen gelehnt auf dem Boden sitzt. Eindringlich, dabei ruhig, singt sie den Song im einfallenden Licht eines Sonnenstrahls. Während ich dies schreibe, hat das Video bereits über 1,6 Millionen Aufrufe, und jeder zweite Kommentar beklagt sich über die Tatsache, dass die Identität der Sängerin bis heute – nach über zehn Jahren – unbekannt ist. Ich habe mich oft gefragt, ob die Person im Video je daran gedacht hat, sich als Interpretin dieses herumgeisternden Songs zu outen, aber vielleicht war Anonymität die notwendige Voraussetzung für ihre Performance. Die Verwendung des Clips, der Al-Marias Video als Klammer dient, ist insofern passend, als es hier um die verräterische Natur von Sprache geht – das schwierige Terrain, das man in dem Moment betritt, wenn man irgendetwas äußert.

Zu Beginn des Videos sagt Al-Maria, dass sie mit einer Shakespeare’schen Fünf-Akt-Struktur arbeitet. Am Ende entspricht das allerdings nicht der Form, in der dieses Ungetüm von einem Werk das Licht der Welt erblickt: Es ist in etwa 13 Kapitel unterteilt, wobei die einzelnen Abschnitte jeweils durch einen Asterisk oder ein anderes Runenzeichen vor wechselnden Hintergrundfarben angekündigt werden. In einer Collage, die Archiv-Filmmaterial mit Live-Performance verbindet, versammelt Al-Maria einen frenetischen Chor aus dissidenten Stimmen: manche seit Langem verstummt und zu Mythen geworden, wie Michelle Cliff, Mohamed Choukri, Ghassan Kanafani, Shakespeares Caliban und andere; doch dazwischen finden sich auch zeitgenössische Protagonist*innen wie der*die Performancekünstlerin boychild, die Schauspielerinnen Elizabeth Peace und Yumna Marwan, Al-Maria selbst und eine Schar weißer Tauben. Sie sind die Figuren, die den Film vorantreiben, zögerlich zwar, holprig und stotternd, gelegentlich mit Verweisen auf den „Krieg mit der Sonne“ vermischt, wie ihn die libanesische Künstlerin Etel Adnan 1989 in ihrem buchlangen Gedicht The Arab Apocalypse beschrieb. An einer Stelle lässt uns Al-Maria an ihrem Insiderwissen aus der Filmindustrie teilhaben, und zwar nicht nur, was die Verwendung der Farben im Drehbuchlektorat angeht, sondern auch an empörenden Details wie die von einem Weißen vorgenommenen Korrekturen an den Rollen nicht-weißer Darsteller*innen, wobei es dabei wohl um das Drehbuch der Künstlerin zu ihrer TV-Miniserie Little Birds von 2020 ging. Außerdem erfahren wir, dass sie den Auftrag ausschlug, einen Zukunftsroman über das Klima umzuschreiben, weil sie wegen ihres Aberglaubens nicht zu pessimistisch in die Zukunft schauen möchte. In einem anderen Kapitel, das von einem blutroten Asterisk eingeleitet wird, fragt „Yumna“ – hier eine auf einem Raumschiff gelandete Freiheitskämpferin – „Sophia“, ob sie noch mit Schreiben beschäftigt ist, was sie verneint. Der erzählerische Teil ist wie ein Matrjoschka-Set: Über all die diversen Welten hinweg, die das Video uns eröffnet, bleiben Al-Maria und ihre Freund*innen skeptisch hinsichtlich gesprochener Worte und ihrer Macht, irgendetwas zu verändern. Trotzdem versuchen sie es beharrlich, aber wachsam weiter.

 In einer anderen Szene liest Al-Maria aus Cliffs Essay „Caliban’s Daughter“ [Calibans Tochter] von 1991, während sich in der Ferne ein wolkenbruchartiger Sturzregen über hohe Baume ergießt. Die eigenwillige Synthese, die die Sprache der jamaikanisch-amerikanischen Schriftstellerin bildet und in der ihr eigenes zusammengewürfeltes Selbst zum Ausdruck kommt – „sometimes civilized, sometimes ruinate“ [manchmal zivilisiert, manchmal ruiniert] –, eine Absage an die eigene Sprachlosigkeit, wird mit Edward Saids Konzept der „dritten Natur“ in Verbindung gebracht. Der Begriff „ruinate“ ist eindeutig jamaikanisch; er bezieht sich auf vormals kolonisierte und kultivierte, nun aber überwuchernde Felder und Plantagen, die sich in Wildnis zurückverwandelt haben. Saids „dritte Natur“ verweist auf ebenden Zustand, der sich als ein wiederhergestelltes Sein in der Welt beschreiben lässt und der die in Jahrzehnten der (neo-)kolonialen Entwicklungen entstandene ökologische Zerstörung überwunden hat und somit weniger tragisch ist als unser eigener Status quo. Letztendlich bleibt es den Protagonist*innen des Films versagt, einen Weg zu unverdorbenen Wiesen, zu Thymianfeldern oder Wäldern aus Seifenbaumgewächsen zu finden. Dennoch steht fest, dass sie nicht davon ablassen werden, auch zukünftig unerschrocken brüllende „Biester“ zu sein, in ihrer dritten und 13. Natur, verbessert und verschmäht und wieder ausgespien.

Bassem Saad