Das politische System Russlands ist ein Hybrid, #2 – 2019

Dramaturg Johannes Kirsten im Gespräch mit Marina Davydova Moskau, Mai 2019. Marina Davydova, Chefredakteurin der Zeitschrift TEATR und künstlerische Leiterin des Moskauer NET-Festivals, über die Bedingungen des Russischen Theaters 2019. 

Johannes Kirsten: 2012 haben Sie in einem Artikel für Theater heute geschrieben, dass Russland weder eine reine Diktatur, noch eine wirkliche Demokratie sei, sondern Elemente von beidem in sich trage. Wie sehen Sie das heute? 

Marina Davydova: Seitdem ist wirklich viel passiert. Das politische System Russlands ist aber immer noch ein Hybrid. Dieses Regime ist stabil, gerade weil es zwischen Diktatur und vielleicht eher einer Imitation von Demokratie hin und her pendelt. Wir können hier immer noch Dinge tun, die zum Beispiel in China unmöglich wären. Aus dem Ausland ist nicht so leicht zu verstehen, was hier passiert. Was wir politisches Leben nennen, ist nicht mit dem in westlichen Ländern zu vergleichen. Praktisch jegliche Opposition ist zerstört oder so marginalisiert, dass sie nicht der Rede wert ist. Was wir politisches Leben nennen, ist der Widerstreit unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb des Kremls. Auf der einen Seite die sogenannten Liberalen und auf der anderen Seite Konservative, eigentlich Faschisten, die vom neuen russischen Imperium mehr oder weniger in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion träumen. Seit Putin 2012 wieder die Macht übernommen hat, werden diese konservativen Kräfte immer stärker. Von 2008 – 2012 war Dmitri Medwedjew Präsident, vielleicht auch nur eine Marionette, auf jeden Fall eine Symbolfigur. Er erklärte immer wieder, dass er das Land modernisieren wolle. In Dokumenten des Kulturministeriums aus dieser Zeit wird das Wort Innovation auffallend oft verwendet. 

Warum ist gerade das Theater in den letzten Jahren so in den Fokus konservativer Kräfte in der russischen Politik gerückt? 

Anders als Schriftsteller oder Komponisten hängen Theaterleute in Russland sehr vom Staat ab. Auch wenn man mit keinem einzigen Rubel unterstützt wird, so finden die Aufführungen doch in Gebäuden statt, die dem Staat gehören. Die Logik der Macht ist, wenn sie Geld, Equipment, Elektrizität usw. geben, dann haben die Theater ihnen zu dienen.

„Dieses Regime ist stabil, gerade weil es zwischen Diktatur und vielleicht eher einer Imitation von Demokratie hin und her pendelt.“

Kommt diese Fokussierung aufs Theater vielleicht auch aus der sowjetischen Tradition, von der viele Funktionäre noch geprägt sind? 

Zu Sowjetzeiten spielte das Theater eine große Rolle in unserem Leben. Das Theater hat Institutionen wie ein wirkliches Parlament, freie Medien oder sogar die Kirche ersetzt. Theater war ein Risiko. Deshalb stand es unter spezieller Beobachtung der Autoritäten. Das hat also eine lange Tradition. Als die Sowjetunion zerfiel, verlor das Theater in den 1990er Jahren seine spezielle Rolle. Es wurden fast nur klassische Stücke gespielt und hatte praktisch nichts mehr mit der Realität zu tun. Mit dem Beginn des Millenniums fing es an, sich seiner vergangenen Bedeutung zu erinnern. Kirill Serebrennikov war eine der wichtigsten Personen dieses Prozesses. Er hat angefangen, neue Stücke über einfache Leute und aktuelle Probleme auf die Bühne zu bringen. Das 2013 gegründete Gogol Center verstand sich als ein Ort der Gesellschaft. Anders als viele andere Theater ist es nicht erst kurz vor der Vorstellung am Abend geöffnet, sondern man kann auch tagsüber hingehen. Neben den Inszenierungen gibt es öffentliche Diskussionen und Vorträge über politische und gesellschaftliche Fragen. Das ist in den Augen der Macht ein Affront: Serebrennikov nimmt unser Gebäude und macht es zu einem Ort dieser liberalen Community und für Diskussionen gegen uns. 

Hat das Gogol Center Schule gemacht? 

Auf der einen Seite ja, auf der anderen Seite nein. Heute gibt es eine Menge kleiner unabhängiger Theater. In der Regel entstehen sie nicht in Moskau, sondern in Provinzstädten, auch in Petersburg. Um etwas mehr oder weniger Unabhängiges zu machen, muss man anscheinend weiter entfernt vom Zentrum der Macht sein. Das Teatr Ugol in Kasan ist eines der besten Beispiele dieser unabhängigen Strukturen. Der schwierigste Ort für unabhängiges Theater ist Moskau. Das hat ideologische, aber auch finanzielle Gründe. Die Mieten in Moskau sind extrem hoch. 

Was ist mit Theatern wie Globus oder Krasnij Fakel in Novosibirsk, wo der Regisseur Timofey Kuljabin arbeitet? 

Diese Theater sind nicht unabhängig, aber sie versuchen künstlerisch unabhängig zu arbeiten. Es ist gut für sie, dass sie so weit weg vom Machtzentrum sind. Aber man erinnere sich an den Tannhäuser von Timofey, der verboten wurde. Man weiß nie, wie es kommt. Als der Tannhäuser verboten wurde, konnte man immer noch Der ideale Gatte vom Regisseur Konstantin Bogomolow im Moskauer Künstlertheater sehen, obwohl hier ebenso wie bei Tannhäuser radikale, orthodoxe Gläubige dagegen protestiert hatten. Sie konnten aber in dem Fall nichts ausrichten, weil der künstlerische Direktor des Theaters, der berühmte russische Schauspieler Oleg Tabakow war. Tabakow hatte sehr gute Verbindungen zu offiziellen Stellen. Es folgt keiner Logik, sondern hängt immer davon ab, wer und wann und wo. 

Wie hat der Tod der beiden Gründer des Teatr.doc Michail Ugarow und Elena Gremina und der Tod Dmitrij Brusnikins die Theaterszene beeinflusst? 

Das Teatr.doc von Gremina und Ugarow war nicht nur ein Theater, sondern eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die Community um das sehr kleine Theater mit nur dreißig Sitzen war riesig. Jetzt, wo die beiden charismatischen Leiter tot sind, verändert sich die Landschaft extrem. Brusnikin war eine andere Persönlichkeit. Er hat nie so eine Institution gegründet, aber er war ein Theaterlehrer und viele junge Leute kamen als Studenten zu ihm. Er hat die mentale Situation unseres Theaters sehr verändert. Es ist eine traurige Koinzidenz, dass diese drei Theaterleute praktisch alle innerhalb eines Jahres gestorben sind. Auch Oleg Tabakow muss man dazurechnen. Seine Intendanz am Moskauer Künstlertheater begann im Jahre 2000 zur gleichen Zeit wie Putins erste Präsidentschaft. Tabakow öffnete die bedeutendste Bühne des Landes für Serebrennikov, Bogomolow und Juri Butusow. Nach Tabakows Tod war die erste Handlung des neuen künstlerischen Leiters, Bogomolow die Arbeitsmöglichkeit dort zu entziehen. Auch wenn Tabakov schon ziemlich alt und vielleicht auch ein bisschen altmodisch war, hat er trotzdem für das Neue gekämpft. Die Theatermacher Ugarow, Gremina, Brusnikin und Tabakow sind gestorben, Serebrennikov wurde verhaftet und Bogomolow hat sich vom Moskauer Künstlertheater verabschiedet. Es stellt sich die Frage, ob dieses Vakuum in Zukunft gefüllt werden kann? Russland ist ein großes Land mit einer Menge talentierter Leute. In den Jahren des Stalinismus wurden so viele Leute umgebracht und trotzdem starb die russische Kunst nicht.

„Um etwas Unabhängiges zu machen, muss man anscheinend weiter entfernt vom Zentrum der Macht sein.“

10. – 26.01.2020 
Karussell Zeitgenössische Positionen russischer Kunst
Neue Dramatik, Musiktheater, Performances, Dokumentartheater, Installationen, Filme, Diskussionen, Mitmachen
Programmleitung: Johannes Kirsten, Moritz Lobeck, Carena Schlewitt
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Ostdeutsche Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Ostsächsischen Sparkasse Dresden und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen