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Befreit aus dem Klammergriff der Institution, #1 – 2020

Der Dramaturg Johannes Kirsten im Gespräch mit Alexej Kiselev über unabhängiges Theater in Russland

Du hast dieses Jahr zusammen mit Anastasia Pauker und Roman Dolzansky das Programm des russischen Showcase beim Festival „Goldene Maske“ kuratiert. Es war auffallend, dass es in diesem Jahr mehr unabhängige Produktionen gab, als in den Jahren davor. Ist das ein Trend, den ihr festgestellt habt? 

Dass der „Russian Case“ das erste Mal so viel unabhängiges Theater gezeigt hat, hängt zum einen mit Anastasia und mir zusammen. Ich interessiere mich seit längerem für unabhängiges Theater und den sogenannten Underground. Zum anderen ist das unabhängige Theater in den letzten Jahren aber auch immer populärer geworden. Es gibt mehr unabhängige Gruppen. Dabei sind die wirklich interessanten alternativen und unabhängigen Theater in Moskau und St. Petersburg. Und was ist mit Ugol in Kazan oder 18+ in Rostov am Don? Klar, es gibt einige dieser Theater auch außerhalb von Moskau und St. Petersburg. Ich kann sie aber fast an einer Hand abzählen. Dagegen stehen in ganz Russland circa 2000 Repertoire-Theater. Der „Russian Case“ 2019 war sehr experimentell und vermittelte eine sehr spezielle Sicht aufs russische Theater. Die am meisten verbreiteten Formen sind immer noch Inszenierungen von klassischen Stücken in überholten Ästhetiken an einem Staatstheater. Ich hoffe aber, dass in Zukunft das unabhängige Theater noch populärer wird. 

Du hast gesagt, dass die Zahl der unabhängigen Theater wächst. Warum ist das so?

Zum einen gibt es sehr viele Theateruniversitäten in Russland, die jedes Jahr neue Regisseur*innen und Schauspieler*innen entlassen. Wir haben zwar eine Menge Theater, aber die Stellen dort sind für viele Jahre besetzt. Zum anderen vertrauen viele Leute aus dem Kunstsektor der Regierung nicht und wollen nicht abhängig von ihr sein. Sie entscheiden sich deshalb lieber dafür, in unabhängigen Strukturen zu arbeiten. Und man kann an einem staatlichen Theater nicht frei wählen, welche Projekte man macht … Theoretisch sind alle Theater frei in ihren Entscheidungen. Manche von ihnen haben aber Angst, dass bestimmte Projekte von der Regierung nicht gemocht werden, und dann greift so eine Art Selbstzensur. Es gibt vielleicht noch einen weiteren Grund, dass es heute mehr unabhängiges Theater gibt. Im 21. Jahrhundert findet Theater selbstverständlich auch in Galerien oder irgendwo im Stadtraum und nicht im klassischen Theaterraum statt. Es ist viel einfacher geworden, ein Projekt irgendwo auf die Beine zu stellen. Früher brauchte man erst einen Raum. Zu Sowjetzeiten war gar nicht daran zu denken. In den 1990er Jahren fand unabhängiges Theater fast nur in kleinen Blackboxtheatern oder Guckkastenbühnen statt. 

Du sagst, die Theateruniversitäten werfen jedes Jahr neue Leute auf den Markt. Die bilden doch aber eher klassisch aus und lehren nicht unbedingt, wie man Theater im Stadtraum macht. Oder sind das alles Quereinsteiger*innen? 

Die Leute, die unabhängiges Theater in Russland machen, waren meistens in Theaterschulen, aber sie haben, wie wir in Russland sagen, in der letzten Bank gesessen. Sie sind dort immer angeeckt und galten nicht als gute Schüler*innen. Dmitri Volkostrelov von teatr post ist ein Schüler von Lew Dodin. Dodin ist der Hauptvertreter des psychologischen Theaters. Volkostrelov ist der Hauptvertreter des postdramatischen Theaters. Während seines Studiums stand er ständig im Konflikt mit dem, was an der Universität gemacht wurde und dem, was ihn wirklich interessierte. Andere Beispiele sind Alexey Yershov und Maxim Karnaukhov, die Macher vom „Teatr. Na Vynos“. Yershov war Student an der Akademie in St. Petersburg, aber im ersten Jahr flog er mit Maxim Karnaukhov raus. Sie dachten sich dann, wozu brauchen wir die Ausbildung? Will ich wirklich Teil einer Institution werden? Was wir wirklich machen wollen, ist einfach Theater, Magie, seltsame Dinge. Was brauchen wir dafür? Wir brauchen nur Leute und irgendeinen Ort. Wir machen es hier, auf der Straße mit zufällig ausgewählten Leuten. Das dritte Beispiel ist Vasya Beresin aus Moskau. Er hat ein Diplom der Regie und Schauspielfakultät vom GITIS, aber in der Zeit der Ausbildung machte er alles falsch. Er machte keine Studenteninszenierungen, sondern nur verrückte Dinge. Er verbrachte seine Zeit auf der Straße, freundete sich mit Straßenkünstler*innen an, entdeckte die Stadt. Du siehst, viele von diesen interessantesten unabhängigen Theatermacher*innen kamen aus den Institutionen, aber sie haben den Weg hinaus aus dem Klammergriff dieser Institutionen gewählt. 

Wenn du Dir diese unabhängigen Theater anschaust, kannst du einen Trend oder Themen bzw. Ästhetiken beschreiben? 

Es ist wirklich schwer, einen allgemeinen Trend zu benennen. Die Stücke sind meistens sehr kurz. Sie kommen häufig mit wenigen Akteur*innen aus, sind nicht statisch, sondern dynamisch und finden oft auf der Straße statt. Die unabhängigen Theater benutzen in der Regel keine Stücktexte. Wenn sie Text benutzen, dann ist das ein improvisierter Text, Stand Up oder ein von den Theaterleuten selbst entwickelter Text. Die Bühne und Kostüme spielen in der Regel eine untergeordnete Rolle. Meistens wird bei Projekten in Innenräumen nur Video und Sound eingesetzt. 

Leute wie Dmitri Volkostrelov oder Sergej Chechov arbeiten sowohl in unabhängigen Strukturen als auch an staatlichen Theatern. Hat das einfach ökonomische Gründe? 

Ich habe mit einigen Künstler*innen darüber gesprochen und sie antworteten in diese Richtung. Wenn das Angebot des Staatstheaters gut für das Kollektiv ist und sie keine Kompromisse machen müssen, was fast unmöglich ist, dann arbeitet man auch dort.