Foto: Sebastian Bolesch

Abschied und Beginn, #2 – 2020

NEUN, die zweiteilige Kooperation zwischen dem Berliner Solistenensemble Kaleidoskop, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und der Staatsoper Hannover, nimmt zwei Monumente der Orchesterliteratur zum Ausgangspunkt: Die 9. Sinfonien von Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler. Beide Werke, 1824 bzw. 1912 uraufgeführt, markieren Anfang und Ende der großen romantischen Form. Beethovens „Neunte“, bis heute an Popularität kaum übertroffen, sollte seine letzte Sinfonie bleiben. Als Schlüsselwerk der sinfonischen Musik bereitete sie jedoch den Boden für nachkommende Komponist*innen der Romantik. Rund 90 Jahre später scheute Mahler zunächst die Arbeit an seiner 9. Sinfonie, da er fürchtete, neben Beethoven, Schubert, Bruckner und Dvořák nicht über diese Zahl hinauszukommen und mit ihr seinen eigenen Tod zu komponieren. Tatsächlich beschreibt Mahler dann mit der kurz vor seinem Tod entstandenen und erst danach zum ersten Mal aufgeführten 9. Sinfonie den Abschied vom Leben und den Übergang in den Tod – und gleichzeitig den Übergang in eine neue Epoche. Als „Abschied“ und „Beginn“ werden diese beiden Werke durch das Solistenensemble Kaleidoskop neu bearbeitet auf die Bühne gebracht. Das bekannte musikalische Material wird jeweils nur in kleiner Besetzung gespielt und performativ, klanglich und räumlich neu interpretiert. Durch diese Aneignung werden die Kompositionen vom überwältigenden Pathos des großen Orchesterwerks befreit und das Potenzial der Werke freigelegt. Das Solistenensemble Kaleidoskop und die Musiker*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters schaffen damit ein Musiktheater, das Hörgewohnheiten verschiebt und die Körperlichkeit der Musik sowie der Musiker*innen selbst in den Mittelpunkt stellt. Sie bilden keinen einheitlichen, homogen zusammenspielenden Klangkörper, wie es das Musizieren von Sinfonien im klassischen Orchester nahelegt. Vielmehr wird die Heterogenität der Spieler*innen und ihre individuelle Auseinandersetzung mit dem Werk ernst genommen und im Bühnenraum sicht- und hörbar gemacht. Die Musiker*innen werden zu aktiven Erzähler*innen von und mit ihrer Musik

Abschied

Der letzte Satz „Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend“ aus Gustav Mahlers 9. Sinfonie bildet den Ausgangspunkt für das Musiktheater „Abschied“. Der erste Teil der zweijährigen Kooperation stellt die Frage, wie sich nach einem Ende ein neuer Anfang finden lässt. Aus der aktuellen Krisensituation heraus erkunden die finnische Choreografin Milla Koistinen, der Künstler Ladislav Zajac, Musiker*innen des Staatsorchesters Hannover sowie der Regisseur und Komponist Michael Rauter mit dem Solistenensemble Kaleidoskop die Zeitspanne zwischen einem abgeschlossenen Davor, zu dem es keine Rückkehr gibt, und einem noch ungewissen Danach. Das „Adagio“, ein langsamer und erhabener Abgesang des monumentalen Werkes, wird für „Abschied“ in eine neu arrangierte und choreografierte Fassung für elf Streicher* innen und eine Tänzerin überführt. Extrem verlangsamt gespielt, verschwindet der romantische Gestus hinter stehenden Klängen. Immer leiser werdend, bewegt sich die Musik ihrem Verschwinden entgegen. Gleichzeitig entfaltet sich aus unauffälligen, nur selten in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rückenden Routinen und Nebensächlichkeiten eine Choreografie. Der zweite Teil des Stückes ist von Wiederholungen und der Überlagerung heterogenen Klangmaterials bestimmt. Ein Atem-Chor überlagert sich mit stimmlichen, gestischen und musikalischen Fragmenten zu einer fast humoristisch wirkenden Collage. Unter anderem inspiriert von Orlando di Lassos Chorwerken der Renaissance entsteht in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Komponisten Ethan Braun dafür neue Musik. Es entsteht ein Mit- und Nebeneinander einzelner Stimmen und individueller Rhythmen; ein hoffnungsvoller Ausblick auf den Anfang nach dem Ende.

Die Kooperation

Im Rahmen des Programms Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes verbünden sich das Solistenensemble Kaleidoskop und die beiden Institutionen HELLERAU und die Staatsoper Hannover auf verschiedenen Ebenen. Da (neue) Formen des Musiktheaters von allen drei Partnern auf sehr unterschiedliche Weise, mit anderen Mitteln und Arbeitsstrukturen entwickelt werden, will diese Kooperation neue Impulse setzen. Das Festspielhaus Hellerau, in den 1910er Jahren zur gleichen Zeit wie Mahlers letztes Werk entstanden, bereitete mit seinem offenen Bühnenraum und der Idee des rhythmisch ausgebildeten Menschen den Weg für interdisziplinäres Arbeiten in der deutschsprachigen Theater- und Tanzwelt. Die Strukturen dieser Experimentierbühne treffen auf diejenigen der Staatsoper und bringen sich so gegenseitig in Bewegung. Gleichzeitig werden Musiker*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters, die sonst im Opernhaus die großen Werke der Opern- und Konzertliteratur spielen, gemeinsam mit Mitgliedern des Solistenensembles auf der Bühne stehen. Gemeinsam werden so neue Darstellungsformen von Musik und Musiktheater erprobt und mit den Produktionen „Abschied“ und „Beginn“ auf die Bühnen der beiden Häuser gebracht. Im Rahmen des Projektes NEUN in Zusammenarbeit von Solistenensemble Kaleidoskop mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und der Staatsoper Hannover, gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes. „Abschied“ wird gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Fr/Sa 02./03.10.2020 
Abschied – Uraufführung 
Mit Solistenensemble Kaleidoskop und Solist*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover