22.11. – 02.12.2018, Polski Transfer – Festival des aktuellen polnischen Theaters, #1 – 2018
Künstler*innenkollektiv und Produktionshaus Komuna Warszawa
Komuna Warszawa ist eines der wichtigsten freien Avantgarde-Theater Polens, das zwischen den Grenzen der darstellenden Künste, Video- und Medienkünste sowie Musik experimentiert. In seinen auf Originaltexten basierenden Arbeiten erforscht das Theater wichtige Themen der Gegenwart und ist dabei ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und -mitteln. Komuna Warszawa wurde zu einigen der größten Festivals in Polen und weltweit eingeladen und trat unter anderem an Spielorten wie La MaMa in New York City, Hebbel am Ufer in Berlin oder 104 Centquatre in Paris auf. Darüber hinaus ist Komuna Warszawa ein Produktionshaus, in dem sich verschiedene Kunstwelten begegnen: Komuna hat sowohl Projekte von „Mainstream-Theaterkünstler*innen“ produziert (Grzegorz Jarzyna, Monika Strzępka und Paweł Demirski, Michał Borczuch, Markus Öhrn), als auch junge Talente der polnischen Tanz- und Performance-Szene gefördert (Marta Ziółek, Paweł Sakowicz, Iza Szostak, Ania Nowak, Cezary To- maszewski u.a.). Komuna Warszawa kooperiert mit Kurator*innen aus dem Bereich der darstellenden Künste und der Musik. Dabei entstehen außergewöhnliche Projekte, die sich jeweils einem bestimmten Thema widmen, z.B. „We, the Bourgeois“, „The Future“ oder die Fortsetzungsreihe „Pre-war/War/Post-war“ und „Musicals. Musicals.“ Eines der wichtigsten Projekte, das für Kritikerlob und Publikumsinteresse gleichermaßen sorgte, war der pionierhafte Versuch einer „Archäologie“ der darstellenden Künste, bekannt als „RE//MIX“. Über einen Zeitraum von vier Jahren entstanden Inszenierungen, die sich mit vergangenen Meisterstücken der Avantgarde der performativen Künste beschäftigten. Eines der Highlights der Warschauer Theaterszene in der Spielzeit 2016-2017 war ein neues Format, die Reihe „Mikro Teatr“ (Mikro Theater). Im Rahmen von Polski Transfer wird es eine Präsentation einer polnisch-deutschen Variante von Mikro Teatr geben.
Wie Komuna Otwock zur Komuna// Warszawa wurde: Ein Gespräch mit Alina Gałązka (AG), Grzegorz Laszuk (GL) und Tomasz Plata (TP)
Mikro Theater
TP: […] Und unser letztes Projekt, das Mikro Theater. Alle geladenen Künstler*innen spielten auf derselben Bühne: Grzegorz Jarzyna, Radek Rychcik, Weronika Szczawińska, Anna Smolar und Romuald Krężel. Sie arbeiteten unter denselben Bedingungen: Ihre Produktionen sollten höchstens sechzehn Minuten dauern; sie durften nur Requisiten verwenden, die in einen Koffer in Handgepäckgröße passen, sowie zwei Mikrofone, vier Scheinwerfer und einen Projektor. Der gesamte Zyklus bestand aus achtzehn Produktionen sowie weiteren in Lublin und Poznań – auf Franchise-Bühnen [Gelächter]. Bei Mikro Theater ging es um verschiedene Dinge. Erstens ging es darum, die Produktionsbedingungen am Theater sichtbar zu machen. Dadurch bekam das Publikum einen klaren Eindruck davon, wie Theater entsteht. Es erkannte die institutionellen Bedingungen, die bestimmen, was auf der Bühne gezeigt werden kann. Zweitens ging es um ein konkretes Nachdenken über das polnische Theater und in dem Zusammenhang um eine präzise Analyse. Wenn man nur sechzehn Minuten Zeit hat, muss man direkt sein, ohne Verzierungen, da muss man klar definieren, was man zu sagen hat. Ich mag solches Theater sehr: einfach, konzeptuell. Sozusagen Theater mit einer geringen Dosis Theater. Und drittens war Mikro Theater eine besondere Übung für ein Guerillatheater, hier wurde etwas mit begrenzten Mitteln geschaffen und frei von politischem Druck aus verschiedenen Richtungen. Wie wir wissen, muss das polnische Theater der Gegenwart eine Strategie des Widerstands gegen den politischen Druck entwickeln, und zwar schnell. Und das Format Mikro Theater kann uns einiges darüber lehren, wie das geht. Es gab einige Kritik, die meinte, dass unser Projekt die Verwirklichung eines neoliberalen Traums sei: schnell produziert, schnell konsumiert, geringe Kosten, prekäre Arbeitsbedingungen, das System zufrieden, weil es nicht viel investieren musste, und das Publikum zufrieden, weil es gleich drei Vorstellungen an einem Abend zu sehen bekam. Meiner Meinung nach hat das Projekt Mikro Theater diese institutionellen Verstrickungen eher offengelegt, als sie stillschweigend zu akzeptieren.
Wo steht Komuna jetzt?
AG: Wir sind momentan in einer schwierigen Situation. Komuna Warszawa ist eine große Organisation geworden und wir können sie nicht länger unterhalten, ohne Vollzeitbeschäftigte irgendwie zu bezahlen. Fragen im Zusammenhang mit Finanzen sind für nichtstaatliche Organisationen sehr schwierig und ohne institutionelle Unterstützung ist es leicht, Fehler zu machen. Sie müssen wissen, dass der/die Kurator/in bei uns umsonst arbeitet oder zumindest fast, auch die Mitarbeiter*innen in der Verwaltung werden nicht für ihre Arbeit bezahlt. Einige Komuna-Mitglieder arbeiten ebenfalls kostenlos. Für die Künstler*innen, die von außerhalb kommen, zahlen wir normalerweise einen geringen Betrag. Aufgrund dieser Bedingungen brauchen wir jetzt Zeit, unser Vorgehen neu zu überdenken.
GL: Alina hat Recht: Uns fehlt die institutionelle Verankerung. Viele wichtige Theaterleute arbeiten mit uns (…) und viele andere, alte und junge, vertrauen uns und möchten mit uns arbeiten. Wenn wir keine verlässliche Finanzierungs- quelle finden, wird unser Konzept nicht aufgehen. Es ist ein Gebot der Würde, Künstler*innen gute Arbeitsbedingungen zu bieten.
AG: Seit einiger Zeit denken wir über ein neues Modell nach, das ich kurz skizzieren möchte. Eine nicht öffentliche Kultureinrichtung wird durch die Tatsache ihrer Permanenz definiert: Sie verfügt über ein permanentes Repertoire-Team aus Stammmitarbeiter*innen und ein erkennbares Profil. Nicht öffentlich meint hier, dass die Kultureinrichtung keine regelmäßigen Zuschüsse erhält und nicht durch staatliche oder lokale Behörden ver- waltet wird. Sie beantragt Mittel in einem Wettbewerb durch die Vorlage eines Programmkonzepts. Die Stadt oder das Ministerium kann in diesem Wettbewerb mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGO) auswählen, die als „Aushängeschild“ anerkannt sind, stabil und mit einem gesicherten Repertoire. In einer solchen Situation sollten die Wettbewerbe nur auf diese Form von Kultureinrichtungen (NGO) zugeschnitten sein. Und interessanterweise ist dies nach polnischem Recht möglich. Es gibt aber noch eine Alternative: Eine Nichtregierungsorganisation wird durch eine andere geleitet. Das Gesetz über kulturelle Aktivitäten erlaubt dies. Sie eröffnen ein Ausschreibungsverfahren oder gehen eine Direktvereinbarung ein. Auf diese Weise kann es funktionieren. Gemeinsam mit Aldona Machnowska-Góra [einer NGO-Aktivistin] haben wir uns bemüht, bei Politiker*innen ein Interesse für dieses Thema zu wecken, doch leider ohne Erfolg. In solchen unabhängigen Kultureinrichtungen ist es möglich, das Programm als Gruppe, als Team zu erarbeiten. So funktioniert es bei der Komuna: Entscheidungen werden üblicherweise gemeinsam getroffen. Grzegorz hat eine Idee, Tomasz hat eine andere, jemand anderes noch eine andere, dann sprechen wir über alles und am Ende kümmern wir uns um das Geld. Wir wollen unsere Projekte autonom entwickeln und uns nicht um jeden Preis an gewünschte Themen der Geldgeber anpassen.
GL: Wir haben bestimmte Geschmäcker, wir sind ein experimentelles Theater. Trotzdem sind unsere Vorstellungen meist ausverkauft. Es ist gut, dass das mündige Publikum wächst.
TP: Als Kulturorganisation ist Komuna Warszawa in Polen einzigartig. Die Gruppe hat dreißig Jahre lang ihre eigenen Produktionen erarbeitet, unterhält einen permanenten Spielort und ist außerdem noch zur Produktionsstätte geworden. Das ist angesichts der Größe dieser Stadt (Warschau) eine ganz schöne Leistung. Außerdem ist Komuna zu einem Bezugspunkt für andere Institutionen geworden, besonders weil viele Regisseur*innen und Schauspieler*innen wegen der Politik der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ aus dem offiziellen institutionellen Kreislauf aussteigen. Plötzlich müssen sie neue Formen der künstlerischen Arbeit suchen. Da kann die Geschichte von Komuna Warszawa hilfreich sein.
Auszug aus Polnisches Theaterjournal 2017: Arkadiusz Gruszczyński (Hrsg.) Übersetzung aus dem Englischen von Hella Rieß
Verhaftet: WIR
Anlässlich der Warschauer Premiere von „Der Prozess“ (Franz Kafka) im November 2017 führte der Dramaturg des Nowy Teatr Warschau Piotr Gruszczyński ein Gespräch mit dem Regisseur Krystian Lupa. Das Gespräch ist hier gekürzt abgedruckt.
Warum hast Du Dich entschieden, den „Prozess“ von Franz Kafka zu inszenieren und nicht „Amerika“?
„Der Prozess“ kam als Antwort auf die Wirklichkeit, weil unsere Wirklichkeit ständig dieselben Motive erklingen lässt. Diese Art des merkwürdigen, dunklen Angriffs gegen den Menschen mit Hilfe des Gerichts, der Anklage, Beseitigung und Verstoßung mit Hilfe des Gesetzes, wie auch diesem erstaunlichen, demagogischen Diskurs, dessen sich heute die Regierenden – aber nicht nur sie – in den Abrechnungen zwischen der Regierung und dem Einzelnen bedienen, all dies erinnert ständig an das Muster Kafkas, an Irrationalität und an das Gefühl von Panik, wie auch an die Zwecklosigkeit von Verteidigung und den Verlust des Realitätsgefühls, der uns zuteil geworden ist. All dies sind Bestandteile Kafkas, die hier vielleicht in einer anderen Konstellation, in einem anderen Cocktail auftreten, doch im Grunde genommen gleich sind. In dem Moment, wo wir diese Bestandteile gesondert betrachten, können sie für den Theaterzuschauer zu einem Instrument werden, die heutige Realität zu verstehen. Und umgekehrt, vielleicht gibt die heutige Realität einen anderen Schlüssel, um Kafka zu verstehen. Das funktioniert in beide Richtungen.
Interessant ist, dass in Polen erst jetzt ins allgemeine Bewusstsein dringt, wie sehr die Gesetzgebung die Realität kreiiert. In dem Stück „Engel in Amerika“ gibt es den Satz, den Roy Cohn sagt, dass es die Juristen gewesen seien, die Amerika aufgebaut haben. Der Satz war mir früher seltsam vorgekommen, weil er so weit entfernt schien, doch im Moment erfahren wir selbst, wie sich die Gesetzgebung auswirken kann.
Ja, und das ist sehr gefährlich, weil es viele Fallen enthält, beinahe ägyptische Fallen, in die wir geraten. Man kann auch sagen, dass die Juristen die Demokratie betrügen. Die Demokratie erweist sich als eine juristisch zu schwach begründete Konstruktion, die man beliebig verformen kann. Und dann entsteht ein hybrides Gebilde, ein Monstrum, das an ein demokratisches Gebilde erinnert, wo es angeblich weiterhin um Gerechtigkeit, die Entwicklung des Menschen und all diese positiven Dinge geht, die als menschliche Menge den Staat bilden, um eine gemeinsame Kultur, die voranschreitet und neuen Generationen neue Ziele setzt. All diese Dinge können auf irgendeine Weise überlistet und im Namen des Gesetzes forciert werden, und der Mensch wird betrogen. Kafka taucht auf der Suche nach einem kompetenten Menschen in den Gerichtsweg ein, wo er schließlich dem Advokaten Masala begegnet. Es ist eine Odyssee auf der Suche nach Rettung, in der der Mensch immer weiter versinkt und bis zur Zerstörung, im Grunde genommen Selbstzerstörung durch diese ganzen Rettungsbewegungen kommt. In seiner Suche nach kompetenten Menschen, die ihm helfen könnten, gerät er an die Perversion und Absurdität der Rechtssysteme und –strukturen. Schließlich kommt er bei den Eingeweihten an, die sich als Wahnsinnige erweisen und bei diesen Machenschaften das Prinzipium des Menschseins vergessen haben, all das Positive, das es in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gibt, in den gesellschaftlichen Beziehungen. Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter Kafkas Prozess ein rätselhaftes Gebilde steht: es ist kein offizieller Staat. Kafka sagt, dass es kein offizielles Gericht ist. Im Staat entsteht ein unsichtbares Gebilde, das sich Dinge anmaßt, Strukturen aufbaut, die sich parasitenhaft in das Vorgefundene einschleichen…
Bis es schließlich den ganzen Organismus durchwächst…
Wie eine Wucherung, wie ein von der Mafia beherrschter Staat.
Ein Organismus, der vom Pilz aufgefressen wird.
Ja. Dieser Weg auf der Suche nach kompetenten Menschen ist symptomatisch und sagt sehr viel aus. Wir könnten diesen Weg des Josef K. durch dieses heutige, rätselhafte Gebilde gehen. Wir wissen, wer uns regiert, wer unsere Regierung ist, aber de facto wissen wir immer weniger. Das, was wir von außen sehen, mit unserer Regierung mit Kaczynski an der Spitze, beginnt, eine immer geringere Bedeutung zu haben. Es scheint, dass wir zusammen mit ihnen allen in eine seltsame Falle getappt sind. Sie werden versuchen, ihre Existenz zu retten, denn es geht für sie um ein Entweder – Oder. In dem Moment weiß man nicht, in welchen Raum des Minotauros unser Schiff hineingeworfen wird.
Im kommunistischen Polen wurde „Der Prozess“ oft inszeniert, weil er ideal zur totalitären Vision des Staates passte. Welche Bedeutung hat das für dich? Heißt das, dass wir zu irgendetwas zurückgekehrt sind? Oder vielleicht war jene Betrachtung Kafkas vereinfachend?
Damals versuchte man, Anspielungen aufzubauen. Ich habe auch die Befürchtung, dass dieses Werk so gut auf unsere Intuitionen wirkt, dass es sofort zu bestimmten Assoziationen anspornt und darin sehr ansteckend ist. Das verleitet zu oberflächlichen Anspielungen. Aus diesem Grund haben wir versucht, dem Werk erst einmal seinen österreichisch-ungarischen Beigeschmack zu nehmen. Vor einem Jahr, als wir mit den Proben in Breslau angefangen hatten, interessierten wir uns auch für die jüdische Spur; im Moment steht sie nicht im Vordergrund, weil sie uns zu sehr fasziniert hätte und wir darin hätten ertrinken können. Wir versuchen vor allem die Geschichte eines Menschen zu erzählen, so als ob „Der Prozess“ heute geschrieben worden wäre. Es ging nicht darum, riskante Aktualisierungen vorzunehmen, sondern eher, die gröbsten Anachronismen herauszustreichen. Plötzlich stellte sich heraus, dass es genügt hat, diesen typischen Beigeschmack des 19. Jahrhunderts zu entfernen. Diese Erzählung über den Angriff, die Verteidigung und das Schuldgefühl ist absolut zeitgemäß, ohne jegliche Anspielungen. Sie selbst enthält genügend Gedanken, die im Moment von enormer Bedeutung sind und sehr stark ertönen. Wir haben versucht, noch eine weitere Spur zu verfolgen und haben uns dafür interessiert, dass Kafka den Roman nicht vollendet hat.
Wir sprechen von Schuld, es gibt einen Prozess, ein Gericht, vom angeklagten oder festgenommenen Josef K. Worin besteht für dich seine Schuld?
Kafka scheint mir ein genauso faszinierender wie suspekter Mensch zu sein, unwahrscheinlich verschlossen, er war zu verletzt und von der Welt abgeschoben, zu einsam, um ein normaler Mensch zu sein. Das sagen alle: so verhält sich kein Unschuldiger. Kafka selbst hat ein seltsam sadistisches und gehässiges Verhältnis zu seinem Protagonisten, wir können sogar sagen, dass Kafka seinen Helden auf eine rachsüchtige Weise tötet. Es ist eine Art demonstrativer Selbstmordakt, der sehr komplex ist, deshalb reiten Psychiater so gern auf Kafka als einen kranken Menschen herum. Das Krankhafte von Kafkas Persönlichkeit ist nicht zu überschätzen. Kafka ist ein Exemplar unserer gesellschaftlichen Kulturkrankheit. Er ist kein Weiser, der über der Gesellschaft steht, oder jemand, der sich anmaßt, ein Weiser zu sein. Kafka sagt etwas anderes: jeder ist schuldig, es gibt keine unschuldigen Menschen, unschuldige Menschen wurden vom Gesetz erfunden, alle sind verdorben und angesichts des Gesetzes zur Lüge verurteilt, Unschuld ist reine Einbildung.
Schau doch, wie sich das verändert hat, man hatte doch diesen Roman lange Zeit so gelesen, dass Josef K. unschuldig gewesen ist, ein Opfer des Systems, der Maschinerie.
Das Buch wurde nicht als die Geschichte eines unschuldigen Menschen geschrieben, das ist die Geschichte eines Menschen, der eine verborgene Schuld hat. Wir nehmen an diesem Roman wie an einem Traum teil, in dem wir verfolgt werden, aber dieser Protagonist ist weder sympathisch noch verständlich. Er ist krankhaft egozentrisch, nimmt keine Gewissensabrechnung vor, er ist ein merkwürdig verlogener Mensch, der nur die Spur seiner Rettung verfolgt, er wird in eine Lügenmaschinerie hineingezogen. Der Prozess selbst strebt auch nicht nach Wahrheit, sondern nach der Auslöschung und Zerstörung des Individuums.
Ich verstehe das so, dass Josef K. für dich kein empathischer Held ist? Er ist überhaupt kein Vorbild. Josef K. verteidigt nur sein Leben, man kann aus ihm keinen Helden machen. Aber wenn er schon solch ein Mensch bleibt, verkrüppelt und asozial, dessen Ambitionen ausschließlich egoistischer Natur sind, der keine mit der Welt verbundenen Träume hat und keine Mission, der Welt irgendetwas zu geben – es gibt keine Spuren davon – dann lässt er in dem Moment, in dem er angegriffen wird, doch viele Beobachtungen los, nicht zu Ende gesprochener Sätze im Moment der Reflexion, einen verzweifelten Kampf, völlige Benommenheit durch diesen zu lange dauernden Prozess – diese Worte sind für uns treffend. Wir brauchen uns nicht mit dem Protagonisten zu identifizieren, wir brauchen ihn nicht als Vorbild zu zeigen, er soll ein unvollendeter Mensch bleiben. Wegen dieser Unvollendung und seinem fehlenden Mut, seiner fehlenden Konsequenz wird er getötet. Kafka tötet den erbärmlichen Menschen in sich. Ich dachte, es würde mir schwerfallen, mich mit diesem Helden zu identifizieren; doch leider oder zum Glück ist das unumgänglich. Wenn wir Kafka anfangen zu inszenieren, so tauche ich in diesen Menschen mit seinen ganzen Gebrechen ein, und finde mich in ihm wieder. Das ist genauso erschreckend wie faszinierend, wir erleben das alle, wenn wir versuchen, tiefer zu gehen, eine Art Selbsterniedrigung. Dieser vampirhafte Autor verlangt sehr seltsame Erlebnisse und Erfahrungen vom Schauspieler, der versucht, ihn mutig, nicht oberflächlich, bis zum Letzten zu verstehen.
Übersetzung aus dem Polnischen von Agnieszka Grzybkowska
Polski Transfer – Festival des aktuellen polnischen Theaters