Foto: Nikolaus Brade

Wir brauchen mehr Humus, #1 – 2021

Leonie Reineke und Moritz Lobeck im Gespräch über Krisen, Marktmechanismen und die Vision von bedingungsloser Solidarität im Musikbetrieb. Leonie Reineke (LR): Für April 2021 ist die nächste Ausgabe des Festivals TONLAGEN geplant. Wir befinden uns allerdings in einer Phase, in der massenweise Musikveranstaltungen abgesagt wurden und werden. Ist es in dieser denkwürdigen Zeit eher vertane Arbeit, oder – im Gegenteil – besonders wichtig, über das Konzept „Festival“ per se nachzudenken? 

Moritz Lobeck (ML): Für mich stellen sich gerade jetzt viele Fragen, allen voran: Was kann ein Festival heute überhaupt sein? Festivals gehören ja nicht zum Humus, zur dauerhaften Struktur z.B. des zeitgenössischen Musiklebens in einer Stadt. Sie sind eher eine Art Zwischenstopp; eine Wegmarke, die es uns erlaubt, das aktuelle Geschehen für einen kurzen Zeitraum in komprimierter Form zu beobachten und vielleicht Tendenzen – ob ästhetische oder kulturpolitische – auszumachen. Für mich wären da mehrere Punkte wichtig: Ich würde gerne sichtbar machen, welche Ensembles und Initiativen für zeitgenössische Musik es hier vor Ort gibt, in Dresden, in Sachsen. Bis 2009 hieß die Veranstaltung auch „Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“, diese Bezeichnung habe ich bewusst wieder aufgegriffen und als Untertitel zu „TONLAGEN“ ergänzt. Ausgehend von diesem „regionalen“ Fokus ist ein weiterer Gedanke, weniger auf Kompositionsaufträge und die Fließbandproduktion neuer Stücke zu setzen, als vielmehr Ensembles selbst in den Fokus zu rücken. Dabei interessieren mich vor allem jene Gruppen, die sich– im Sinne einer Community of Practice – aus Komponist:innen, Interpret:innen, Klangregisseur:innen, also verschiedenen Akteur:innen zusammensetzen, die gemeinsam, und trotzdem arbeitsteilig mit der gleichen Sache beschäftigt sind. Da gibt es eine Menge selbstorganisierter, sehr vitaler, neugieriger und vor allem divers aufgestellter junger Gruppen. 

LR: Und gerade in diesen kleinen, oft basisdemokratisch organisierten Ensembles, entsteht ja die wirklich „neue“ Musik. Denn ein Orchester kann die Proben- und Kommunikationsflexibilität gar nicht gewährleisten, die ein Stück verlangt, das etwa spezielle Spieltechniken oder ein langes Experimentieren im Vorfeld einschließt. Kleinere, freie Ensembles dagegen sind schon seit Jahrzehnten die Keimzellen, mit denen Komponist:innen ihre persönlichsten, spannendsten und wildesten Ideen verwirklichen. Orchesterstücke sind meist vorsichtiger und konventioneller; das liegt schlicht am Apparat. Insofern ist es – für die Weiterentwicklung der zeitgenössischen Musik selbst – ungeheuer wichtig, das Überleben dieser freien Ensembles möglich zu machen und ihnen Schutzräume zu bieten, so dass sie nicht vom Markt gefressen werden. Diese Schutzräume gibt es aber nicht, solange man sich nur von einem geförderten Einzelprojekt zumnächsten hangeln kann. 

ML: Diese Thematik würden wir gern im Rahmen eines Symposiums bei den TONLAGEN 2021 diskutieren: Wie lassen sich nachhaltige Strukturen für die freie Musikszene entwickeln? Wie können die jungen Ensembles in eine Überlebensfähigkeit kommen, ohne gleich die großen Institutionen imitieren zu müssen? Wie können die Freien in halbwegs gesicherten Strukturen arbeiten, so dass sie sich langfristig auf ihre Kunst konzentrieren können? Das müssen sehr einfache und konkrete Fragen zu gesicherten Produktionsbedingungen und Einkommen sein. 

LR: … zumal das ständige projektbasierte Arbeiten im schlimmsten Fall auch zu einer ästhetischen Verarmung führt – nämlich dann, wenn es nur noch darum geht, den nächsten Projektantrag möglichst attraktiv zu gestalten und die Förderer mit schicken Buzzwords zu überzeugen. Damit ginge also gleich doppelt etwas verloren: einzelne Existenzen und künstlerische Impulse generell. In diesem Kontext schaffen auch die Corona-Kurzzeithilfen keine Nachhaltigkeit. Es ist ja zu beobachten, wie die momentane Lage junge Menschen abschreckt. Viele überlegen sich einmal mehr, ob sie überhaupt Musik studieren sollen. Denn sie sehen, welchen Stellenwert der Kulturbetrieb für die Politik haben kann. Und zugrunde gehen daran natürlich am ehesten die kleinen, freien Gruppen – diejenigen, die nicht den Mainstream, sondern das Besondere, das Abseitige bilden, das es in einem reichen Kunst- und Kulturleben unbedingt braucht. 

ML: In dieser Hinsicht ist doch diese Corona-Krise eigentlich interessant. Denn sie legt auch eine andere Krise offen, die längst da war: Die öffentliche Förderung für freie Gruppen ist besonders im Bereich zeitgenössischer Musik schlichtweg unterfinanziert. Wie aber löst man dieses Problem? Eine Petition zu starten oder wieder einen offenen Brief an die Politiker:innen zu richten, wird vermutlich wenig bringen. Denn die haben keine langfristigen Lösungen parat. Wäre es deshalb nicht eine Idee, direkt auf die großen Institutionen zuzugehen? Mir schwebt da eine Art solidarisches Modell vor, das sich innerhalb unseres bestehenden, hoch entwickelten und subventionierten Orchestersystems installieren könnte. Zum Beispiel könnten Konzert- und Opernhäuser ihre Räumlichkeiten und Werkstätten für die Freien zur Verfügung stellen und sie mit bezahlten Konzerten in ihr Aboprogramm aufnehmen. 

LR: Für dieses Modell scheint es mir allerdings wichtig zu sein, flache Hierarchien einzufordern bzw. darauf zu achten, dass nicht plötzlich die Freien in der Schuld der Institutionen stehen und etliche Bedingungen erfüllen müssen. Ich denke, eine wirklich bedingungslose Solidarität zu schaffen, ist in unserem durch das kapitalistische System geprägten Denken und Handeln gar nicht leicht zu realisieren. Denn wir leben  längst in einem Bewusstsein, nach dem Künstler:innen auch Unternehmer:innen (und ihre Arbeit Waren) sind. Das macht natürlich Ideen, wie du sie gerade äußerst, zu einer großen Herausforderung. 

ML: Gerade deshalb wäre es wichtig klarzumachen, dass es hier nicht um ein Return-on-Investment-Denken geht, in der Richtung: „Wir unterstützen euch dabei, eure Projekte zu realisieren und erfolgreiche Unternehmer:innen zu werden, wenn ihr unsere Bedingungen erfüllt“. Die Freiheit der Kunst und der Kreativität muss gewährleistet sein. Einige vielversprechende Initiativen für freie Musikensembles an festen Häusern gibt es ja schon – etwa in der Elbphilharmonie in Hamburg, HELLERAU hat ein Doppelpass-Projekt mit dem Solistenensemble Kaleidoskop und der Staatsoper Hannover, das Konzerthaus Berlin möchte sich 2021 dezidiert der freien Szene öffnen. Das müsste aber mehr werden. Und wir sollten genauer darüber nachdenken, systematisch an Strukturen zu arbeiten, die solche Kooperationen möglich machen. In den 2000er Jahren gab es etwas ähnliches in Form des „Netzwerk Neue Musik“, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. Da haben regionale und städtische Netzwerke zusammen über mehrere Jahre an der strukturellen Stärkung der Neue-Musik-Szene gearbeitet. Für so etwas wieder Kräfte und Gelder zu mobilisieren, wäre gerade zum jetzigen Zeitpunkt eine sehr gute Maßnahme. 

TONLAGEN – 30. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik 15.04.–02.05.2021

Leonie Reineke ist Redakteurin für Neue Musik beim Südwestrundfunk und arbeitet als freie Autorin für Deutschlandradio und ARD, Moritz Lobeck leitet seit 2019 das Festival TONLAGEN – Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik.