Last but not last, Foto: Rolf Arnold

Rekonstruktion und Konstruktion von Geschichte, #2 – 2020

Carena Schlewitt im Gespräch mit Lina Majdalanie, Rabih Mroué, Marta Keil und Grzegorz Reske über den Rechercheprozess für „Last but not last“

Marta und Grzegorz, ihr habt dieses langfristige Forschungsprojekt zu Geschichte und Transformationsprozessen mit Bezug auf Polen initiiert. Und ihr habt dazu Lina Majdalanie und Rabih Mroué, zwei bekannte, in Berlin lebende Künstler*innen aus Beirut eingeladen. Was war euer Impuls, euer Interesse an diesem Thema und dieser Konstellation?

Für uns kam die radikale populistische Wende, die sich 2015 in Polen vollzog, überraschend. Wir beobachten und reflektieren bereits seit einiger Zeit signifikante soziale Veränderungen in Polen und sehen, wie die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zunehmen, aber eine so schnelle und radikale politische Wende haben wir nicht erwartet. Teilweise auch, weil wir selber mittendrin waren und an dem anstrengenden Kulturkampf teilgenommen haben. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, Künstler*innen einzuladen, die die komplexe politische und soziale Situation Polens aus ihrer eigenen, externen Perspektive betrachten können und die höchstwahrscheinlich Mechanismen und Interdependenzen sehen, die für uns unsichtbar bleiben. Die Wahl von Lina und Rabih lag für uns auf der Hand: Wir haben schon früher mit ihnen gearbeitet und bewundern ihre langjährige künstlerische Forschung über Erinnerung und Repräsentation sowie ihre einzigartige Verflechtung von Persönlichem und Politischem. Entscheidend war für uns vor allem die Methode von Lina und Rabih, Fiktion als politisches Mittel einzusetzen, um die Realität zu verstehen.

Lina und Rabih, im Rahmen des Arbeitsprozesses habt ihr Warschau und Dresden viele Male besucht – wie habt ihr aus eurer sozialen und künstlerischen Perspektive die Gesellschaften, die Städte, die historischen Aspekte, die Menschen wahrgenommen?

Wir wollten bei unseren Aufenthalten in Dresden, Warschau und auch Leipzig versuchen, die Besonderheit jeder Stadt heute im Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit zu verstehen. Diese drei Städte haben eine lange kommunistische Regimevergangenheit. Natürlich ist die moderne Geschichte jeder Stadt vielschichtig und komplex, besonders für zwei Künstler*innen, die aus einem anderen Kontext kommen. Aber wir haben uns dabei ertappt, wie wir neben unseren persönlichen Erfahrungen auch Assoziationen zwischen den drei Städten und unserer Stadt Beirut gebildet haben. Sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den vier Städten haben uns in unserem Arbeitsprozess geholfen. Populismus, Nationalismus, die Einmischung der Religion in die Politik, historische Mythen und Nationalhelden usw. nehmen heute leider überall auf der Welt wieder zu. Aber in jedem Land oder in jeder Gesellschaft manifestiert sich diese Entwicklung unterschiedlich, gibt es andere Wurzeln, eine andere Bildsprache, eine andere Imagination … Wir wollten verstehen, wie sich diese Entwicklung im Verhältnis zur eigenen, besonderen Erfahrung und Geschichte in jeder Stadt artikuliert. Und auch hier war es sehr hilfreich, sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zu untersuchen und bereit zu sein, alles als überraschend oder auch seltsam zu betrachten. Wir wollten unwissend und ohne Herablassung an das Thema herangehen und wie ein Kind ganz naiv fragen, warum und wie etwas geschieht.

Was wurde für euch schließlich zum gemeinsamen Arbeitsansatz, aus dem der Theaterabend entstanden ist?

Ein wichtiger Punkt war Linas und Rabihs Beobachtung dessen, was in letzter Zeit zu einer polnischen Obsession geworden ist: historische (und fiktionale!) Rekonstruktionen. Eine Welle von Nachstellungen vergangener oder phantasievoller Ereignisse, die in letzter Zeit im ganzen Land zu sehen sind. Als ob wir unsere Geschichte ständig neu erzählen mussten, als ob ihre gegenwärtige Version nicht heroisch oder attraktiv genug wäre. Wir haben daraufhin ein sehr „banales und unbedeutendes“ Ereignis aus dem Jahr 2016 ausgewählt, es durchforstet und analysiert, bis sich vor unseren Augen überraschenderweise eine ganze Welt offenbarte, die mit dem Diskurs der heutigen herrschenden Klasse in Polen zusammenhängt, ein Diskurs, der auf Fiktion und Realität aufbaut und sich von der alten Geschichte Polens bis heute erstaunlich ausbreitet.

Rechercheprozess und Produktion: HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und Performing Arts Institut Warschau, Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung. Koproduktion: Residenz, Schauspiel Leipzig.

Fr/Sa 09./10.10.2020 
Last but not last 
Lina Majdalanie & Rabih Mroué (LB/DE)