Utopie als Spielplan? Das Festspielhaus Hellerau in den 1990er Jahren
Von Manfred Wiemer
Prolog
Detlev Schneider, Theater- und Kulturwissenschaftler und Initiator des Neubeginns im Festspielhaus, spricht noch heute von der „Utopie einer Werkstattuniverseller künstlerischer Recherche“, wenn er die 1990er Jahre in Hellerau rekapituliert.
Der sicht- und hörbare Start ist Legende: Am 27. September 1992, laut Genehmigung um 12 Uhr, öffnen sich die Tore zum Festspielhausgelände. Mit klingen dem Spiel nehmen Musiker, Theaterleute, Tänzerinnen, bildende Künstlerinnen, interessierte Hellerauer, auch angereiste Gäste den weitläufigen Platz in Beschlag und markieren das Areal nebst noch nicht zugänglichem Festspielhaus als zukünftigen Kunstort.
Die über hundertjährige Geschichte des Hellerauer Hügels ist vielfältig beschrieben. Wer aber besetzte jetzt,1992, dass ebenso legendäre wie militärisch kontaminierte Gelände? Welches „Kapital“ ließ sich ein bringen? Die Kompetenz (vorhandener) Institutionen? Schon in den 1980er Jahren hatte sich jenseits DDR-ideologischer Zensurenvergabe freier künstlerischer „Wildwuchs“ breit gemacht. Ein Dresdner Ausschnitt: Im Schauspielhaus brachte Wolfgang Engel 1982 sein Büchner-Projekt auf die Bühne, einen kristallscharfen Spiegel der Verhältnisse im Land. Untergrundzeitschriften wie die Dresdner UND (ab 1982) begruben für sich die Sprachregelungen des Landes. Künstlerinnen und Künstler deuteten Beuys, die Wiener Aktionisten, auch die polnische Avantgarde in ihren Darstellungen sozialistischer Klaustrophobie. Punkbands demolierten die Fassaden des „Ostrock“ à la Puhdys und Karat. Vieles davon zusammenfassend, gab es im nahen Coswig im Juni 1985 schonmal eine Art „Hellerau-Vorlauf“: Auf der INTERMEDIA I arrangierten Performer, Musikerinnen, Super-8-Filmer und Malerinnen ein Genre sprengen des Großhappening. Fine Kwiatkowski und Lutz Dammbeck waren dabei, die wir später im Festspielhaus wieder erleben durften. Derart experimentell orientierte Akteurinnen und Akteure aus dem offiziellen, „betreuten“ Kunst betrieb und bisher „im Untergrund“ agierende Künstlerinnen und Künstler suchten nun neuen Raum der Artikulation jenseits der etablierten Kunstinstitutionen. Auf den „richtigen Ort“ wurde Detlev Schneider 1987 aufmerksam, als Schweizer Theaterleute von „Hellerau“ zu berichten wussten. Es gab ihn noch, jenen legendären Treffpunkt europäischer Künstler aus dem „Adelskalender der klassischen Moderne“ (D.S.). Den utopischen und bis dato gescheiterten Kunstort. Immerhin, er stand noch, als triste, misshandelte Hülle.
Eine Utopie, entzaubert, diskreditiert, zerstört – neu zu denken, zu leben? Unmöglich, bedenkt man die fragile materielle Existenz der vorhandenen Kulturinstitutionen. Andererseits standen die Chancen in den Neunzigern nicht schlecht: Auf der Unterseite der Umbrüche und Verwerfungen in den „neuen Bundesländern“ boten sich wunderbare Freiräume. Eine Zeit künstlerisch fast grenzenloser Freiheit, unkontrollierter Ideen, kultureller Visionen, gesellschaftlicher Utopien, rücksichtsloser, lustvoller Ausbeutung eigener Ressourcen begann. Die DDR in uns suchten wir möglichst schnell loszuwerden.
Aufbruch – erstmal ein Verein!
Auf Detlev Schneiders Initiative wird 1990 in der Hochschule für Bildende Künste Dresden (HfBK) – das Festspielhaus ist noch in sowjetischer Hand, ein Abzug der Truppen im Gefolge von Gorbatschows Entspannungspolitik seit wenigen Jahren bereits vorstellbar –der „Förderverein für die Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau e.V.“ gegründet. Der Gründungsvorstand: als Vorsitzender Detlev Schneider, die Dresdner Tänzerin und Choreografin Arila Siegert, der Hellerauer Lehrer und Autor Michael Faßhauer und Johannes Heisig, Maler und damaliger Rektor der HfBK als Stellvertreter, sowie als Schatzmeister der Politiker und damalige Präsident der HdK Berlin, Ulrich Roloff-Momin.
Allerdings ist „Hellerau“ nicht allein unterwegs in dieser Vereins-Gründerzeit in der Noch-DDR, wie sie selbst im vereinsseligen Deutschland bis dato einmalig ist. Allein in Dresden werden rund achtzig Vereine gegründet, die sich für die Förderung von Kultur und/oder Kunst einsetzen, darunter Neugründungen älterer, zu NS- und DDR-Zeiten verbotener Vereine. Miteinander konkurrierend in einem quasi vermögenslosen Umfeld. Ein spezielles Betätigungsfeld ist deshalb die Einwerbung finanzieller Mittel. Die anfängliche Zurückhaltung der öffentlichen Hand zwingt den Verein zur Akquisition privater Quellen. Besonders die Wüstenrot-Stiftung, die Werkbund-Stiftung und die Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank (verdienstvoll: Bernhard Freiherr von Loeffelholz) stellen sowohl für die Sanierung des Festspielhauses, letztere auch für den beginnenden Kunstbetrieb, Finanzmittel zur Verfügung. Für die Getty Foundation ist das Miteinander behutsamer Sanierung und praktizierter Kunst perfekter Anlass, sich 1995 mit 250.000 US-Dollar zu engagieren. Auch für Fachleute (Architekten, Anwälte) ist Hellerau bald ein interessantes Projekt (legitimer!) eigener Reputation. So profitiert der Verein von höchst gefragten Kompetenzen.
Der Müll, das Haus und die Kunst
Als „die Russen“ im Sommer 1992 abziehen, haben Detlev Schneider und ein Kreis interessierter Architekten längst – auch divergierende – Vorstellungen entwickelt, wie das Festspielhaus zu entwickeln sei. Zunächst gilt es, das Gelände als Ort der Künste zu sichern, d.h. kommerzieller Verwertung vorzuenthalten, vor allem aber vor weiterem Verfall zu bewahren. Zwei Strategien sind Gegenstand fachlicher und politischer Diskussion: behutsame, nutzungsorientierte Sanierung bei gleichzeitiger Belebung des Festspielhauses durch Kunst oder eine möglichst zügige Komplettsanierung. Für beide Varianten steht außerdem der Zielkonflikt: „reine Lehre“ Denkmalpflege – „Ein Baudenkmal ist kein Verfügungsobjekt für den Zeitgeist“(Katalog Hellerau 1990-2006)–oder Denkmal mit zeitgemäßer Funktionalität. Den Kunstaktivistinnen und -aktivisten ist die Wiederherstellung des Originalzustandes von 1912suspekt. Auf den Punkt gebracht, steht die „philosophische“ Frage: Rekonstruktion oder Dekonstruktion? Oder eine Antwort, wie sie Joseph Beuys 1976 mit dem Titel seiner Installation „Zeige deine Wunde“ formuliert hat. Drei Zeitschichten waren dem Festspielhaus eingeschrieben. Die der Gründer, mit „Kunst“ und „Lebensreform“ (verkürzend) benannt. Folgend die braune Schicht der NS-Zeit und zuletzt die sowjetische Besetzung mit dem roten Stern im Giebel. All das ist zu zeigen in Zeiten des ausgerufenen „End of history“ (Francis Fukuyama).
Am 27. September 1992 erfolgt als oder Sturm auf das ruinöse, eine große Zukunft verheißende Kunstpalais. Deklariert als „Großes Fest“, das seinen Anfang schon am 24. September im Kleinen Haus des Staatstheaters nimmt. (Dies ist nicht der einzige Support der freistaatlichen Institution unter Intendant Dieter Görne, auch Büros, Logistik, Bühnentechnik gehören dazu.) Das „Große Fest“ mündet schnell im Alltag des Beräumens sowjetischen Restinventars, abgefallener Putzschollen, Auskratzen von Taubendreck, also der Freilegung von Räumen für einfachsten Aufenthalt und künstlerische Aktion, erste bauliche Sicherungsarbeiten laufen parallel. Heute kaum vorstellbar das Engagement der Hellerau-Pioniere bei der Bewohn- und Bespielbarmachung des Festspielhauses und des Westflügels. Mehr als eine Randnotiz sind die meist gagenlosen Auftritte der Beteiligten.
1993 überträgt das Bundesvermögensamt die „Liegenschaft Festspielhaus Hellerau“ dem Freistaat Sachsen. Für diesen wird das Objekt schnell zur „heißen Kartoffel“. Verkaufsgerüchte machen die Runde: Zwischen Wellness-Hotel und Teppichlager ist allesdabei. Allerdings, die vielgestaltigen Aktivitäten des Vereins, die längst die lokale und internationale Öffentlichkeit mobilisiert haben, vor allem aber die historische Dimension des Ortes, befördern das Objekt zum Politikum: „too big to fail“. Verscherbeln fällt damit als Option aus. Behalten auch. An den riesigen, schwer abschätzbaren Investitionen wird man sich zwar beteiligen müssen. Aber eine Betreibung durch den Freistaat kommt in Anbetracht der Belastungen aus dem 1993 verabschiedeten Kulturraumgesetz nicht infrage, zudem das Land in Dresden die größten Kulturinstitutionen unterhält. Auch die Stadt hebt die Hände. Immerhin: Anfang 1993 werden dem Förderverein ABM-Stellen nebst Sachmitteln zugeteilt. Im Februar 1994 erhält der Förderverein für die Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau e.V. eine vorläufige Besitzeinweisung für die Immobilie.
Dem Einzug im September 1992 folgen am 23. Mai 1993 mit dem Symposium „Zeitschichten – Spuren in Hellerau“ und der nachfolgenden Inszenierung „Der Obelisk“ die nächsten eindrückliche Signale aus Hellerau. Mit der Genfer Theaterwissenschaftlerin Misolette Bablet, dem ehemaligen Dramaturgen Pina Bauschs, Raimund Hoghe, Johannes Odenthal, Performing-Arts-Experte u.a. wird die Zukunft des Festspielhauses als Kunstort diskutiert. Carsten Ludwig zeigt am Abend eindrucksvoll, wohin die neue „künstlerische Reise“ gehen kann. Einundsechzig Jahre nach Glucks „Iphigenie“ ist Vladimir Sorokins „Obelisk“ die erste szenische Produktion im Haus und in Verantwortung des Hellerau-Vereins.
Verschiedenste Spielarten des Szenischen zeigt das als „Großes Fest II “überschriebene Internationale Performance Art Festival im September1993. Kuratiert von Thomas Kumlehn und Matthias Jackisch, Dresdner Bild-hauer und Performance-Künstler, gastieren Artists aus achtzehn Ländern in Hellerau (Black Market, Jo Fabians „Whisky & Flags“ u.a.).
Nachhaltigste in Erinnerung geblieben ist das „Fest III“ im September/Oktober 1994. Gewagt zwischen faschistisch geprägter Ästhetik und proletarischer Ironie, geht das „Fest“ an die Nervenbahnen jüngerer deutscher Geschichte. Riefenstahl und Bolsche wistische Kurkapelle, eingeführt von der slowenischen Retroavantgarde-Band Laibach! Tabori, Syberberg, Bazon Brock, Helma Sanders-Brahms und Lutz Dammbeck stellen in fesselndem Diskurs Gewalt und Ästhetik in Korrelation. Dem Ort adäquat. Am Tag darauf Carsten Ludwigs zweite Arbeit für Hellerau – „Ein Monat in Dachau“, wiederum nach Sorokin, hier als szenische Uraufführung. Eine Feldbahn durchfährt den Großen Saal. Ambivalente Überwältigung, Partystimmung maskiert nur vordergründig die ausgeübte und die erlittene Gewalt. Hellerau ist nicht Dachau, aber „gemütlicher“ ist es nicht bei Ludwig und nicht an diesem Ort. Daneben die Ausstellung „EINSCHRITT“, kuratiert von Claudia Reichardt. Die „eingefrorene Gemütlichkeit“ des (außer)militärischen Alltags im Ostflügelverbinden Künstlerinnen und Künstlermit präzisen Interventionen. Minimal bis zur Unerkennbarkeit sehen sie von artifiziellen Gesten, gar politischer Belehrung, ab. Diente der („fehlkonstruierte“) Handlauf Veit Stratmanns nicht doch der Orientierung der Soldaten im dunklen Gang? Sind die sich auftürmenden Parkettstäbe Nässeschäden oder eine brutal-filigrane Installation?
Die am 24./25. Februar 1995 von der Wüstenrot-Stiftung, der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und dem Förderverein veranstaltete Konferenz „Konzeptionelle Rahmenbedingungen für die Revitalisierung des Festspielhauses Hellerau“ befasst sich mit Bau- und Gestaltungsfragen sowie künftigen Nutzungsformen. Eine „Gleichzeitigkeit von Reparatur und (künstlerischem) Betrieb“ fordert das Memorandum „Perspektiven für Hellerau“. Die bauliche Sanierung leitet ab 1995 der Architekt Fabian Zimmermann, 30 ABM-Kräfte sind am Werk. Im Herbst funktioniert eine Heizung. 1996 beginnt die Sanierung des Portikus und der Freitreppe. Dem inhaltlich überzeugenden Konzept des Vereins folgt 1995 auch das städtische Kulturamt mit institutioneller Förderung. Die Kulturstiftung des Freistaates ging dem bereits zwei Jahre voraus. Aus der Stadt ziehen die „Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“ für einzelne Aufführungen ab 1994 und die „Internationale Tanzwoche“ 1995 auf den „Grünen Hügel der Moderne“ (Udo Zimmermann).
Noch mehr Kunst
Natürlich gehört „The boat of my life“ von Ilya Kabakov dazu. Diese Arche des Banalen, im Juli 1995 im Festspielhaus gestrandet, etwas verloren in der monumentalen Halle, lässt bei genauer Betrachtung der Fundstücke und Texte ihren Tiefgang ausloten. Oder im Januar 1996 Stefan Schröders grandioses „Feld“, ein abstraktes, sommerlich gelbes „Blumenmeer“ im winterkalten großen Saal. Schönheit ist möglich in diesem Raum. Noch im Winter 1996folgt die Hellerau gewidmete Arbeit von DEREVO, dem in St. Petersburger und Dresden ansässigen Tanztheater. „Grauzone“ ist ein typisches DEREVO-Spektakel, das den eisigen Vorplatz mit drastischen Traumbildern erobert. Im Juni 1996 landet das renommierte Festival „Theater der Welt“ in Dresden. Hellerau ist mit drei Inszenierungen und einer Installation prominent vertreten und erfreut sich großer internationaler Aufmerksamkeit. Christian Boltanski und Jean Kalman treiben ihr „Alltage“ genanntes „Gedächtnistheater“ bis in die letzten Winkel des Festspielhauses. Carsten Ludwig inszeniert im September „Mal hören, was noch kommt“ nach Hans Joachim Schädlich. Der holländische Schauspieler Chaim Levano „spielt“, über dem Publik umschwebend, einen Sterbenden, dessen
Reflexionen auch als Gleichnis für einen vor kurzem untergegangenen Staat oder die Welt schlechthin verstanden werden kann. Für Aufsehen sorgen im Herbst1996 auch Kokoschkas „Mörder, Hoffnung der Frauen“ mit dem Kunst-Berserker Alfred Hrdlicka als „Illustrator“ und die Volksbühnen-Produktion „Ernst Jünger“ von Johann Kresnik. Mit „Genetik Woyzeck“ zeigen Harriet und Peter Meining 1997 ihre erste Arbeit im Festspielhaus. Büchners Soldat wird den „modernen Zeiten“ ausgesetzt, von Prominenz und neuen Medien attackiert. Am Ende steht–wir wissendes– „ein schöner Mord“. Nachdem die Meinings zu Beginn der 1990er Jahre diverse illegale Clubs in Dresden gegründet hatten, etablieren sie am Ende des Jahrtausends „Clubkulturals Kunstform“ (P.M.) im Festspielhaus(z.B. „AKA Elektrik – mehr Freizeit für die Frau“).
Auf Initiative von Susanne Altmann, unterstützt von Claudia Reichardt, befasst sich 1998 das amerikanische Künstlerpaar Nancy Spero und Leon Golub mit Hellerau. Nancy Spero bearbeitet das Festspielhaus als (historisches) „Material“, dem sie nach fast sechzig Jahren männlich-bellizistischer Dominanz feministische Botschaften einschreibt: Stempeldrucke mit Darstellungen mythologischer und historischer weiblicher Figuren. „The Rebirth Of Venus“ bleibt im westlichen Oberlichtsaal konserviert, ein Markstein in Hellerau.
Künstlerisch und kommunikativ wegweisend widmet sich die von Martina Leeker und Detlev Schneider konzipierte Sommerakademie „Theater und Medien. Interaktion und Wirklichkeit “im Juni/Juli 1999 der Verknüpfung von „analogem“ Theater und digitaler Interaktion.
Politik und Gegenwind
Seit seiner Gründung sieht sich der Förderverein als Initiator, Betreiber, Veranstalter und Bauherr organisatorisch, personell und finanziell herausgefordert. So ist die von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (25%), dem Förderverein für die Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau e.V. (50%) und der Heinrich-Tessenow-Stiftung (25%) 1997 veranlasste Gründung der Festspielhaus Hellerau GmbH als sinnvoller Schritt zu sehen. Die Beteiligung der Kulturstiftung (Direktor: Jürgen Uwe Ohlau) signalisiert die Verantwortung des Freistaates und führt letztlich zur Übertragung des Objekts nebst einer erheblichen Sanierungsmitgift, 2004 im „Hauptstadtkulturvertrag“ mit der Stadt Dresden vereinbart. 1999 gewinnen Meier-Scupin & Petzet Architekten den Realisie-rungswettbewerb und erhalten den Auftrag für Sanierung und Umbau des Festspielhauses.
Zur Jahrtausendwende sind die eigentlich guten Voraussetzungen für die Entwicklung Helleraus. Im „politischen Raum“ aber rumort es. Der Baufortschritt ermöglicht ab 1999 einen ganzjährigen Spielbetrieb. Womit der „Bespielungsdruck“ zunimmt. Angesichts der Haushaltkonsolidierungen – die Jahre um 2000 sind davon geprägt – hinterfragt der Stadtrat die Besucherzahlen aller Kulturbetriebe. Man vergleicht den Zuschuss pro verkaufte Eintrittskarte. Politik und Kultur stehen sich als Kontrahenten gegenüber. Unterstellungen begegnen Argumenten „aus einer anderen Welt“. Ganz offen wird gemutmaßt, Hellerau profiliere sich gezielt gegen die spießige Stadt da unten. Man verweigert das Verständnis für die jeweils andere Seite, die „Blasen“ scheitern in der Kommunikation. Der Stadtrat kürzt die Institutionelle Förderung erheblich. Der politische Druck auf Hellerau wächst, mit gekürzten Mitteln soll die „Publikumswirksamkeit“ erhöht werden.
Strategisch weitgehend einig, gehen die Meinungen zur programmatischen Praxis im Verein zunehmend auseinander. Zugespitzt: Experiment vs. Besucherzahlen. Der Konflikt korreliert mit dem Vorwurf, zu wenige einheimische Künstler kämen in Hellerau zu Wort resp. In den Genuss von Fördermitteln. 2001eskalieren die Differenzen–auch geschuldet der Fragilität der Vereinsstruktur–mit der Abwahl des Spiritus Rector Detlev Schneider als Vorsitzendem.
Resümee und Ausblick
Dresden, 1989, 1990: Auf den „Wendepodien“ blähen sich die Sachsenfahnen, die ersten Blaublütler schwärmen von goldenen Zeiten. (Bald darauf „erwerben“ und erklagen sie mit ihren Landvermessern und Winkeladvokaten Villen, Wald und Weinberge.) Zur gleichen Zeit begeben sich Künstlerinnen, Architekten, Theaterwissenschaftler usw. nach Hellerau, um an historischem Ort die „Verbindung von visionärem Denken und neusten Kunstmitteln“ (D.S.) zu erproben. Von Anbeginn sehen Schneider und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter die internationale Dimension des Vorhabens, das die Wiedergewinnung des Ortes selbstverständlich einschließt. Über die 1990er Jahre realisieren sie eine eindrucksvolle Abfolge teils spektakulärer Kunstaktionen lokaler und internationaler Akteure, die sich mit den Verwundungen und Sedimenten des20. Jahrhunderts (nicht nur) an diesem Ort auseinandersetzen: Recherche, Diskurs, Aktion. Begleitet von permanenter Reflexion. Zwischen schamanischer Geste und digitalem Experiment loten Künstlerinnen und Künstlerin immer neuen Konstellationen die Möglichkeiten genreübergreifender Interaktion aus. Künstlerisch erfolgreich, politisch mit Skepsis beobachtet, entzieht man sich weitgehend mainstreamiger Vorführungspraxis. Die von Harriet und Peter Meining verabreichten popkulturellen Injektionen tragen zur Verbreit(er)ung des Hellerauer Auftritts bei.
Dennoch sehen damals wie heute einige der Initiatoren die Entwicklung skeptisch. Zunehmend sei in Vergessenheit geraten, wo man bei den „Hellerau-Gründern“ anknüpfen wollte: das Festspielhaus, das „Steinerne Zelt“(Hellerau-Idiom) als „Zentrum universeller theatraler Recherche“, als „Laboratorium für Künste und Medien“ (D.S.). Was die Spielpläne belegen. Was aber im politischen Kontext–Finanzen, „Publikumserwartungen“, Prioritätenset-zungen, mentale Spezifika etc.–kaum zu erwarten war. Das Festspielhaus lässt sich nicht als „Reinstraum“ künstlerischer Forschung betreiben. Dafür war/ist der Ort ebenso too big wie auch das Interessentableau tatsächlicher und vermeintlicher „Stakeholder“.
Seit 2015 ist HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Mitglied im Bündnis internationaler Produktionshäuser und damit Teil eines wichtigen Instrumentes, um Kooperation, Reflexion des Spannungsfeldes von zeitgenössischen Künsten und Gesellschaft, Recherche- und Experimentalpraxis mit Spielplanrelevanz zu verbinden. Inzwischen legt das Europäische Zentrum der Künste HELLERAU ein international und interdisziplinär ausgerichtetes Residenzprogramm auf, in dem pro Jahr rund einhundert Künstlerinnen und Künstlerin HELLERAU arbeiten können. Die Eröffnung des neu konzipierten Ostflügels soll ab Ende 2023 völlig neue Arbeitsmöglichkeiten bieten. Man wird dabei an die initiierenden, kuratierenden und inszenierenden Pioniere Detlev Schneider, Claudia Reichardt und Carsten Ludwig erinnern müssen, denen die zweite Etablierung HELLERAUs als Kunstortmaßgeblich zu verdanken ist.
Manfred Wiemer war seit 1991 als Mitarbeiter im Kulturamt Dresden angestellt und zeitweise mit HELLERAU befasst. Der Autor weiß, dass er zahlreiche wichtige Persönlichkeiten nicht (genügend)gewürdigt, durchaus bedeutsame Ereignisse nicht vermerkt hat. Es sei auf eine große Zahl vorliegender Publikationen verwiesen. Der Autor dankt besonders Gabriele Gorgas, die HELLERAU von Anbeginn journalistisch eng begleitet hat, für wichtige Erinnerungen und Archivmaterial. Dank an Detlev Schneider, Carsten Ludwig, Jörg Stüdemann und Peter Meining für ausführliche Gespräche. In Memoriam Dank an Wanda (Claudia Reichardt).
Obwohl im Text teilweise die männliche Schreibweise gewählt wurde, beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.