Slowakische Kulturszene gegen rechtsnationale Politik, #1 – 2025
Von: Michal Hvorecky
Am 21. Oktober 2024 sollte im Slowakischen Nationaltheater in Bratislava ein Gastspiel im Rahmen des Drama Queer Festivals stattfinden. Aus Prag sollte das renommierte Studio Hrdinů (Studio der Helden) anreisen, das in den letzten Jahren von der Kritik mehrmals zum Theater des Jahres gewählt wurde. Hunderte Karten wurden schon verkauft, das Publikum war gespannt auf die preisgekrönte Inszenierung „Měsíční kámen“ (Der Junge, den es nicht gab) nach dem gleichnamigen Roman des isländischen Autors Sjón. Der Lyriker und Schriftsteller schrieb Texte für Björk („Isobel“, „Joga“, „Bachelorette“) und – zusammen mit Lars von Trier – auch die Lyrics für das postmoderne Musical „Dancer in the Dark“. Der Roman spielt im Jahr 1918, als die Spanische Grippe in Island grassierte undendlich die Unabhängigkeit erhielt. Mittendrin ein Junge, ein arbeitsloses Waisenkind und Analphabet. Der Kinojunkie fand Rettung bei den Stummfilmen -– und bei der schönen Sóla. Auf ihrem Motorrad entführte sie ihn aus der Dunkelheit und zeigte ihm, was passiert, wenn man sich bis zum Ende treu bleibt. Ein Buch und Stück handeln von zerbrechlicher Identität und einer großen Freiheit, eine schöne Miniatur über Emanzipation und individuelle Befreiung vor hundert Jahren wie heute.
Doch das Gastspiel durfte nicht stattfinden. Zuzana Ťapáková, die neue Direktorin des Slowakischen Nationaltheaters am Donauufer, hatte kurzfristig beschlossen, den Vertrag für die Aufführung nicht zu unterzeichnen. Seit 2018 arbeitete das internationale Drama Queer Festival mit dem Nationaltheater in Bratislava zusammen und nutzte es regelmäßig als eine seiner Spielstätten. Ťapáková leitet das Nationaltheater erst seit dem 27. August 2024, seit dem heißen „Sommer der Säuberungen“ im ganzen slowakischen Kulturbetrieb. Die Direktor*innen fast aller wichtigen Kulturinstitutionen (Kunsthalle Bratislava, Kinderkulturzentrum Bibiana, Nationalbibliothek, Nationaltheater, Nationalgalerie und Nationalmuseum) wurden bei einem kulturellen Kahlschlag entlassen. Die Absage des Stückes „Der Junge, den es nicht gab“ ereignete sich nur wenige Tage vor dem zweiten Jahrestag des brutalen Terroranschlags in der Zámocká-Straße in Bratislava, bei dem ein rechtsradikaler Abiturient zwei queere Menschen vor einer Bar ermordete und eine junge Frau schwer verletzte. Ein tiefes Trauma für die Community, für die Stadt, für das Land.
Die Direktorin Ťapáková wurde von der Kulturministerin Martina Šimkovičová, die für ihre wiederholten homophoben Äußerungen bekannt ist, ernannt. Im August sagte Šimkovičová, das „Aussterben der weißen Rasse sei durch LGBTQ+-Menschen verursacht“. Zur Kultur im Land sagte sie, sie müsse slowakisch sein, und nichts sonst.
Schon im Frühjahr 2024 hat sie versucht, ein Bild von Andrej Dúbravský, einem der wichtigsten slowakischen Gegenwartskünstler, einem internationalen Star, abzuhängen. Sie sah es bei einer Ausstellung im Rundfunkhaus und es gefiel ihr nicht, weil darauf ein nackter Mann dargestellt war. Sie meinte, das sei pervers und schädlich.
„Ich werde sicherlich keine Verträge zwei bis drei Wochen vor einem Gastspiel oder einer Festivalteilnahme unterschreiben; das ist für ein Theaterhaus, in dem sechs Monate, ein Jahr oder sogar zwei Jahre im Voraus geplant wird, inakzeptabel“, erklärte Ťapákovák ihre Entscheidung in der unabhängigen Tageszeitung N. Die Chefdramaturgin Miriam Kičiňová widersprach ihr – mehr als vier Wochen vor der Aufführung reiche doch völlig, um einen solch einfachen Vertrag zu unterzeichnen. Theatermacher Róbert Pakan, langjähriger Leiter des Drama Queer Festivals, sprach von Zensur, Diskriminierung und einem internationalen Skandal.
Auch die Initiative Otvorená kultúra (Offene Kultur), die seit einem Jahr gegen die neue staatliche Kulturpolitik protestiert, glaubt, die Absage bestätige den Plan der Regierung, alle queeren Kunstformen zu boykottieren. „Der wahre Grund für die Nichtunterzeichnung des Vertrages ist die Tatsache, dass die Produktion Teil des Drama Queer Festivals ist und homoerotische Szenen enthält“, so Offene Kultur.
Der Fall ist typisch für die aktuelle angespannte Lage in der slowakischen Kultur. Die Entscheidung der Direktorin des Nationaltheaters ist zwar legal, aber nicht transparent, nicht fair, schädlich für die Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern, und sie entspricht der Ideologie der neuen Rechten, die versuchen, Minderheiten in der Slowakei zu diskriminieren, kritische Stimmen einzuschüchtern und die Gesellschaft noch tiefer zu spalten. Statt transparente Bewerbungsgespräche durchzuführen, werden jetzt skurrile Leute aus dem engsten Kreis der Kulturministerin in die Spitzenpositionen der Kultureinrichtungen berufen. Der neue Chef des Nationalmuseums Anton Bittner etwa, ein Junior Finanzmanager mit Begeisterung für Esoterik, hat nie in einem Museum oder einer Kultureinrichtung gearbeitet. Die neue Leiterin des Kinderkulturzentrums Bibiana hat den Job als direkte Nachbarin der umstrittenen Kulturministerin bekommen.
Martina Šimkovičová vertritt radikal-nationalistische Einstellungen und verbreitet fast nur Verschwörungsmythen. Sie ist eine bekannte rechte Influencerin und betrieb jahrelang einen eigenen Internet-Desinformationskanal namens TV Slovan (Slawe). Sie propagiert eine Rückkehr zu vermeintlichen, idealisierten slawischen Ur-Zuständen, die es in Wirklichkeit nie gab. Die Putin-freundliche Populistin gilt schon lange als das Einfallstor kremltreuer Propaganda in Europa. Aber in Wahrheit hat Šimkovičová gar keine Vision, gar keine Strategie für die Kultur in der Slowakei. Eigentlich leitet der Personalchef Lukáš Machala, ein antisemitischer Hetzer, Rassist und Verschwörungstheoretiker, das Ministerium. Er ist es auch, der die öffentlich-rechtlichen Medien kontrollieren will. Die Regierung hat schon am 01.07.2024 auf Initiative des Kulturministeriums den öffentlich-rechtlichen Sender RTVS aufgelöst und in den Staatssender STVR umgewandelt. Bei einem Fernsehauftritt im April bezweifelte Machala, dass die Erde rund sei. Und weiter wird verbreitet: Die Illuminaten möchten die EU durch Migrant*innen erobern und eine „jüdische Mafia“ möchte durch die Kriege in Israel und in der Ukraine die Weltherrschaft übernehmen. Das ist ein extremistisches, völkisches Weltbild und in einem demokratischen europäischen Land inakzeptabel.
Die Kultur wurde aufgrund dieser Vorfälle zu einem großen gesellschaftlichen Thema in der Slowakei. Es ist neu, dass sich die Öffentlichkeit massenweise für das, was in der Kultur passiert, interessiert und dass sie laut protestiert. Es gab große Demonstrationen in 30 Städten und Gemeinden, einen Warnstreik und zwei Petitionen mit rund 190.000 Unterschriften. Aber Šimkovičová bleibt im Amt. Die kritische Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert muss neue innovative Formen des Protests suchen. Gerade im Zeitalter multipler Krisen sollten wir deutlich mehr in Kultur und Bildung investieren, sie als prioritär für die Gesellschaft betrachten. Wir tun in Europa offensichtlich viel zu wenig, um Tendenzen zum Autoritären zu stoppen. Ich bin in der Diktatur groß geworden. Ich war 13, als die demokratische Wende und die Öffnung kamen. Ich möchte, dass meine Kinder auch demokratisch leben dürfen. Die Kultur ist eine Option, die Demokratie in Dresden, in Bratislava, in Deutschland, in der Slowakei, endlich zu stärken.
Michal Hvorecky (*1976) ist ein slowakischer Schriftsteller, Übersetzer. Er lebt in Bratislava. Zuletzt auf Deutsch erschienen: Roman Tahiti Utopia und Kinderbuch Donau – ein magischer Fluss. Hvorecky setzt sich in seiner Heimat für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen ein.