Foto: Daniel Domolky

Point of No Return – Es gibt kein Zurück, #1 – 2024

Ein Essay von Theaterkritiker Tamás Jászay über die Situation der freien ungarischen Theaterszene

Wie konnte es so weit kommen? Diese Frage stellen sich Zuschauer:innen, Theaterschaffende und Kritiker:innen täglich angesichts des Dahinschwindens der freien ungarischen Theaterszene, das fast anderthalb Jahrzehnte andauert, nun jedoch in eine finale Phase übergeht. Ein Blick auf die Apokalypse oder die vom Aussterben bedrohten freien Theater.

Beginnen wir außerhalb des Theaters. Im Oktober 2023 kam der dritte Spielfilm von Gábor Reisz „Explanation for Everything” heraus und zog innerhalb eines Monats über 55.000 Zuschauer:innen in die ungarischen Kinos. Dieser Film, der nicht durch den ungarischen Staat gefördert wurde, gewann Preise in Venedig, Chicago und Rom und wird 2024 auch auf internationalen Filmfestivals zu sehen sein. Der Film verhandelt, wie sich ein kleines Missverständnis zu einem landesweiten politischen Skandal ausweitet. Der Film steuert auf einen großartigen, wenngleich entmutigenden Höhepunkt zu, bei dem ein politisch rechts orientierter Vater und ein liberaler Geschichtslehrer versuchen, gegenseitig ihre Standpunkte zu verstehen – ohne Erfolg. Ihr zweckloses Wortgefecht weckt beim ungarischen Publikum viele Erinnerungen an persönliche Erfahrungen: Wie oft haben wir seit Antritt der rechten Regierung 2010 versucht, unsere Freund:innen und Verwandten davon zu überzeugen, dass sich das Land in eine sehr schlechte oder umgekehrt in eine sehr gute Richtung entwickelt … Gábor Reisz bringt etwas Neues in das Narrativ des gespaltenen Landes Ungarn, das Millionen täglich erleben. Er nennt den Regierungschef Viktor Orbán und den früheren Oppositionsführer Ferenc Gyurcsány, der durch die Rechte dämonisiert wird, beim Namen und spricht über den Finanzfachmann, Mäzen und Stifter George Soros, über Migrant:innen, manipulative und voreingenommene Medien, die Angst davor, Stellung zu beziehen, Selbstzensur – kurz gesagt, über alles, was wir erleben und wie wir leben: Willkommen in Ungarn! 

Diese Art der Ehrlichkeit und Offenheit ist in der gegenwärtigen ungarischen Kunst praktisch präzedenzlos. Während der Jahrzehnte des Kommunismus war es üblich, eine versteckte Botschaft zwischen den Zeilen zu übermitteln, und nun scheint es, als wären wir wieder an demselben Punkt. Anfangs dachte ich, es sei eine Übervorsicht seitens der Künstler:innen oder vielleicht die Wiedereinführung und Aufrechterhaltung der höchstgefährlichen Selbstzensur. Inzwischen spüre ich jedoch eher Apathie, Desillusionierung und Resignation unter den Kunstschaffenden: Wie wir im Folgenden sehen werden, wird die Privatsphäre aufgewertet, das öffentliche Leben und die Politik sind zu einem dunklen Feld geworden. Damit will ich nicht sagen, dass diese Entwicklung in die richtige Richtung geht, aber diese Wendung ist angesichts der Geschichte keinesfalls überraschend.

Wenngleich mich die heutige Kriegsrhetorik anwidert, die den ungarischen öffentlichen Diskurs durchdringt – der Premierminister und seine Kamerad:innen „kämpfen” gegen Brüssel, „schützen” Ungarn vor George Soros usw. – enthüllt doch ein skizzenhafter Überblick über die Geschichte der freien Theaterszene in Ungarn das Bild eines jahrzehntelangen Krieges, interpunktiert durch Feuerpausen, kleine Siege und große Niederlagen. 

Um die Vorfahren aufzuspüren, müssen wir weit zurückgehen: Amateurtheaterensembles, die in den 1960er Jahren an Universitäten in der Hauptstadt und in der Provinz ins Leben gerufen wurden, sind die Vorgänger der heutigen freien Theater. Bei ihren Aufführungen bearbeiteten sie Autor:innen, Themen und ästhetische Formen, die weit über die offizielle Linie des sozialistischen Realismus hinausgingen. Die Randexistenz ist das typischste Merkmal des Amateurbereichs und die Sprache, die zu seiner Beschreibung genutzt wird, ist aufschlussreich. Der Begriff „Amateur” beziehungsweise nicht-professionell ist nach wie vor negativ besetzt, doch die Mitte der 1970er Jahre ablösende Bezeichnung „Alternativ” ist ebenso stigmatisierend. Auch die Wortwahl des 2008 verabschiedeten und mehrmals geänderten ungarischen Theatergesetzes spricht Bände, hier werden Institutionen und Gruppen in drei Kategorien unterteilt: „nationale”, „prioritäre” und „andere”. Freie Theater sind unter „andere” aufgeführt: Sie werden also niemals nationale oder prioritäre Bedeutung haben …

Obwohl sich der Begriff „anderes Theater” („másszínház”), der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre aufkam, nicht wirklich durchgesetzt hat, zeigt die präzise Definition von László Bérczes die Essenz der unabhängigen Existenz dieser Theaterform. „Egal, welchen Namen wir dem anderen Theater geben (marginal, radikal, alternativ, avantgardistisch, oppositionell usw.), er wird immer ein Theater bezeichnen, das im Widerspruch zur vorherrschenden Autorität steht oder sich selbst positioniert, unabhängig davon, ob dieses Theater innerhalb der Institution oder außerhalb davon verortet ist” (Hervorhebung des Autors). In Sachen freies oder unabhängiges Theater gilt es vor allen Dingen zu verstehen, dass sein Name eigentlich ein Euphemismus ist: Wir sprechen über den gegenüber der aktuellen Kulturpolitik verletzlichsten Bereich, den Bereich extremer Abhängigkeit.

Das Theaterfinanzierungssystem in Ungarn ist derart komplex, dass es selbst für diejenigen, die damit zu tun haben, schwer zu verstehen ist. Daher gehe ich nur knapp darauf ein: Die freien Theater hatten seit Mitte der 1980er Jahre Dank George Soros und der Open Society Foundation über Ausschreibungen Zugang zu bescheidenen finanziellen Mitteln. Nach dem Regimewechsel rief das Kultusministerium ab Mitte der 1990er einen jährlichen Betriebskostenzuschuss ins Leben: Dieses Finanzierungssystem, das ab 2024 radikal reformiert werden soll, fördert genau genommen nicht die Entstehung neuer Produktionen. Letztere sind möglich durch die 1993 ins Leben gerufenen Projektförderungen im Rahmen des Nationalen Kulturfonds, wobei lächerlich kleine Beträge für neue Produktionen vergeben werden. Wenngleich weithin bekannt, muss es noch einmal ausdrücklich betont werden: Kultur kann in Ostmitteleuropa nicht ohne staatliche Förderung bestehen. Daher ist es beunruhigend, wenn der neue Kultusminister davon spricht, dass es in Zukunft ausschließlich Projektförderung geben solle – also keine kontinuierliche Unterstützung freier Theaterarbeit.

Jeder Mensch, der heute in Ungarn lebt, kennt das Gefühl des “Point of No Return”, wenn die Politik eine bestimmte Linie überschritten hat. 2023 wird vermutlich einen Wendepunkt in der Geschichte der freien Theater darstellen: Ihre ohnehin schon niedrigen jährlichen Betriebskostenzuschüsse wurden ohne Rücksprache oder Erklärung durch das Kultusministerium um vierzig Prozent (!) gesenkt. Diese unerwartete Entscheidung ist für freie Theatergruppen, die bereits kurz vor einem Burnout und der Schließung stehen, das Todesurteil. Als Réka Szabó – Regisseurin, Choreografin und Leiterin der 2003 gegründeten Gruppe „The Symptoms” (Tünet Együttes) – im Februar 2023 bekannt gab, dass sie ihr Ensemble schließen würde, war klar, dass dieser radikale, aber notwendige Schritt tatsächlich nur der Anfang war. Der offene Brief der Regisseurin ist sowohl selbstkritische Vision als auch Prophezeiung: „Viele entscheidende Momente und wichtige Menschen sind in jüngster Zeit durch die zynischen Manipulationen von Politik und unsere kollektive Gleichgültigkeit, die sich aus vielen Quellen speist, der Bedeutungslosigkeit anheimgefallen.”

Tatsächlich haben 2023 mehrere Gruppen ihr Ende bekanntgegeben und die folgende Auflistung ist keinesfalls vollständig. Nach zehnjährigem Bestehen verabschiedete sich das FAQ Theatre, eine hauptsächlich aus jungen Menschen bestehende Company, die mit neuen Formen der Dramaturgie experimentierte, mit einer Beerdigungszeremonie von seinem Publikum. Das vor wenigen Jahren gegründete Narrative Kollektiv (Narratíva Kollektíva) startete mit ambitionierten Plänen einer jungen Generation von Regisseur:innen und steht nun vor der Auflösung. Beim zeitgenössischen Tanz ist die permanente Company eine Regel, die die Ausnahme bestätigt: Das Ziggurat Project, welches mit Technologie, öffentlichen Räumen und interdisziplinären Mitteln experimentierte, hat seine Tätigkeit eingestellt.

Im Bereich Theaterpädagogik besteht seit längerer Zeit eine Notlage: Die Arbeit dieser Berufsgruppe, die junge Menschen zu kritischem Denken, Demokratie und Streitkultur befähigen möchte, wird von der Regierung vermutlich für gefährlich gehalten und deshalb nicht gefördert. Ihre Arbeit wird durch ständig sinkende Finanzierungsmöglichkeiten verhindert. Das international renommierte Proton Theatre unter der Leitung von Kornél Mundruczó, das seine Performances mit Hilfe des Trafó Theaters in Budapest und mit internationalen Koproduktionspartnern erarbeitet hat, kann seine Arbeit nicht fortsetzen. Der Regisseur hat inzwischen das Theatermachen in seinem Herkunftsland praktisch aufgegeben. Im Sommer 2023 kündigte das Proton Theatre eine Aktion unter dem Titel „The Olympics of Surviving” an, eine traurige Ironie mit Bezug zu den Theatre Olympics, ein internationales Festival, das über mehrere Monate in Ungarn stattfand und durch die Regierung großzügig in Millionenhöhe unterstützt wurde. Mundruczó und sein virtuelles Team sind nun in einem Teufelskreis gefangen: Um (möglicherweise) 2024 einen Betriebskostenzuschuss vom Ministerium zu erhalten, müssen sie eine neue Produktion auf die Bühne bringen und ihr Repertoire spielen, doch die radikal gekürzten Subventionen erlauben nicht einmal mehr den Basisbetrieb.

Außenstehende mögen denken, dass das Verschwinden der freien Theater nur wenige schmerzen würde, doch Kulturstatistiken belegen anderes. Laut Daten aus dem Jahr 2021 haben siebzig registrierte Companies im freien Bereich 5.350 Vorstellungen vor über 710.000 (!) Zuschauer:innen gezeigt. Wir können sagen, dass die freien Theater beliebt und ihre Vorstellungen gefragt sind und die durchschnittliche staatliche Förderung von etwa 9,4 Millionen Forint (das entspricht bei heutiger Umtauschrate circa 25.000 Euro) pro Gruppe im selben Jahr damit umfänglich wieder eingespielt wurde. Allerdings haben die meisten freien Theaterinitiativen keine eigene Spielstätte und müssen daher nicht für Infrastruktur- und Logistikkosten eigener Stätten aufkommen. Während in den 1980er und 1990er Jahren wenige Theaterhäuser mit festen Ensembles und Repertoires (z.B. das Katona József Theater in Budapest), außerhalb des Landes die ungarische Theaterkultur repräsentierten, änderte sich dies mit Beginn der 2000er Jahre grundlegend. Vor allem dank des Kreidekreis-Theaters (Krétakör Színház) unter der Leitung von Árpád Schilling wurden Europa und die Welt auf die Arbeit der freien ungarischen Szene aufmerksam, darunter Viktor Bodó, Kornél Mundruczó, Béla Pintér, Zoltán Balázs, ebenfalls in den 1970ern geboren.

Die 2010er brachten neue Veränderungen mit sich: 2018 verließ Schilling Ungarn und sowohl Bodó als auch Mundruczó verlagerten ihr Theaterschaffen ins Ausland. Viktor Bodós international anerkannte Company, die Sputnik Shipping Company (Szputnyik Hajózási Társaság), wurde 2015 aufgelöst. Wenn wir gerade von Erfolgen sprechen: Der Fall von Béla Pintér ist ein einzigartiges Beispiel für die bereits erwähnte Bewegung zwischen Peripherie und Zentrum. Sein Ensemble Béla Pintér and Company, das seit 1998 ohne Unterbrechung aktiv ist, stand viele Jahre lang im Mittelpunkt des Interesses von Publikum und Theaterschaffenden. Seine jährliche Premiere wurde zu einem echten gesellschaftlichen Ereignis, für einige seiner Vorstellungen gab es monatelange Wartelisten und seine Laufbahn ist durch eine Reihe an Preisen und Einladungen zu Festivals gekennzeichnet. Pintérs Performances sind sein Hauptmittel, um den mentalen Zustand des heutigen Ungarns zu kommunizieren: Bei seinen seltenen öffentlichen Auftritten fällt er durch prägnante offene Reden auf, in denen er die Verantwortung der Politiker:innen nicht verschweigt. Doch wie sieht die Situation heute aus? Die vergangenen vier Jahre waren außergewöhnlich ereignisreich. Seit 2020 taumeln das Land, die Region und die ganze Welt mit wenig Hoffnung von einer Krise in die nächste. Dennoch ist eine neue Generation junger Theaterschaffender der Zwanzig- bis Dreißigjährigen entstanden, die Theater aus einer anderen Perspektive als ihre älteren Kolleg:innen denkt und formuliert. Ihre nahe Zukunft wird von Low-Budgetoder No-Budget-Produktionen mit kleinen Teams und einfachem Reisen gekennzeichnet sein. Internationale Koproduktionen können ebenso ein Ausweg aus dieser hoffnungslosen Situation sein wie auch Produktionen, bei denen Struktur und Dramaturgie durch die Akteur:innen selbst festgelegt werden, und lokale Versionen der Projekte überall realisiert werden können. Mit wenigen Ausnahmen ist das Zeitalter fester Ensembles, Gruppen und Kollektive wahrscheinlich endgültig vorbei: Heutzutage entstehen Stücke hauptsächlich projektbasiert und in flexibler Zusammenarbeit.

Wie ich bereits angedeutet habe, befasst sich diese Generation nicht mit (aktueller) Politik. Ihr primärer Fokus liegt im Privaten, was nicht heißt, dass sie vor dem aktuellen Ungarn die Augen verschließen. Oft berichten sie über den Zustand öffentlicher Belange, indem sie persönliche Geschichten erzählen und dokumentarische Theaterformen anwenden. Auch Familien- und historische Traumata, verzerrte Erinnerungspolitik, Geschlechterstereotype oder die Situation von Minderheiten werden in einigen Produktionen thematisiert. Gleichzeitig sind auch Stücke, die auf klassischen Theatertexten basieren und auf indirekte Weise die Gegenwart reflektieren, nicht von der Bildfläche verschwunden. Am anderen Ende der Skala der neuen Formate einer jüngeren Generation stehen auch Produktionen, die die traditionelle Rolle der Zuschauer:innen verschieben und mitunter deren aktive Beteiligung einfordern. Aktuell ist Freeszfe wichtig für eine junge Theatergeneration. Sie ist eine in Budapest ansässige Partisaneninstitution für Studierende und Lehrkräfte, welche die Universität für Theater und Filmkunst (SZFE) freiwillig verlassen haben und/oder von ihr verwiesen wurden, nachdem sie gegen die Umgestaltung des Hochschulwesens in Ungarn, gegen die Fundierung der staatlichen Universitäten, die im Regierungsdiskurs als Modellwechsel bezeichnet wird, protestierten. So kam es, dass die kleinste Universität Ungarns die bisher größte Protestserie mit starker nationaler und internationaler Resonanz veranstaltete, die auch performative Elemente enthielt: Das Hauptgebäude der Universität wurde monatelang von Studierenden besetzt und verteidigt, und ihr Protest wurde schließlich durch die Pandemieverordnung beendet. Die neu gegründete Freeszfe arbeitet professionell mit einem minimalen Budget und versucht neue Wege in der Theaterausbildung zu gehen.

Als mich vor wenigen Monaten ein ausländischer Journalist bat, das goldene Zeitalter des freien Theaters in Ungarn zu benennen, nannte ich nach kurzem Zögern die zweite Hälfte der 2000er Jahre als die besten Jahre von Krétakör, Szputnyik, Maladype, Béla Pintér. Die rechte Regierung seit 2010 hat zu einer klaren Zäsur bei den freien Theatern geführt, die bereits sehr vielversprechend und anerkannt waren. Und obwohl heute, da ich Ende des kalten Novembers 2023 diesen Artikel schreibe, an der Oberfläche fast alles noch gut ist im Hinblick auf freie Ensembles, Aufführungen und Zuschauer:innen, bin ich sehr viel pessimistischer, ob ein neues goldenes Zeitalter kommen wird. Ich hoffe, dass ich mich irre.

Tamás Jászay, geboren 1978 in Szeged, ist ungarischer Theaterkritiker, Publizist und Universitätsdozent. Er arbeitet für zahlreiche Fachzeitschriften und Zeitungen, unter anderem als Redakteur des online Kulturportals Revizor. Er war Co-Kurator der 6. dunaPart Edition 2023, einer Plattform für zeitgenössische ungarische Performing Arts.

Übersetzung aus dem Englischen: Hella Rieß