Foto: Alicja Szulc

Nordost Südwest, #2-2022

Nordost Südwest 

„Nordost Südwest“ ist ein transnationales Projekt zeitgenössischer Kunst mit Ausstellungen, Performances und Kunstprojekten, das vom 23. September bis zum 6. November 2022 als Kooperation zwischen dem Kunsthaus Dresden und HELLERAU in der robotron-Kantine, in und um das Festspielhaus Hellerau und im Stadtraum zu sehen sein wird.

„Nordost Südwest“ ist dem ältesten und zugleich immer noch aktuellen, über Existenzen und Lebensperspektiven entscheidenden Orientierungsverfahren der Menschheit gewidmet, in dem es das eine nicht ohne das andere gibt: Während der „alte Osten“ und der „neue Westen“ sich je nach Perspektive und Abstand zu den Ereignissen mythisch oder diabolisch verklären, werden mit den Begriffen des „globalen Südens“ und des „globalen Nordens“ Beziehungs- und Konfliktlinien angesprochen, in denen ein globales koloniales Erbe fortlebt. „Nordost Südwest“ greift aktuelle Auseinandersetzungen mit diesem globalen, politischen und kulturel-len Koordinatensystem auf und fragt, wie Akteur:innen und Gruppen innerhalb und jenseits etablierter Koordinaten und nationalen Strukturen agieren können?

Vom 23. September bis zum 6. November 2022 nimmt sich „Nordost Südwest“ mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen aus Bildender wie Darstellender Kunst dieser Fragestellung an. Das Projekt entsteht in einer kuratorischen Zusammenarbeit von Kunsthaus Dresden – Städtische Galerie für Gegenwartskunst, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, dem Beirut Art Center, dem KRAK Center for Contemporary Culture in Bihać, dem Performing Arts Institute in Warschau sowie weiteren Partner:innen in Beirut und der freien Szene in Dresden. Was Beirut, Bihać, Warschau und Dresden dabei verbindet, ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart von Krieg und Gewalt, mit sozialen und politischen Spannungen und Migration als prägende Erfahrung.

In HELLERAU, in der robotron-Kantine und im öffentlichen städtischen Raum sind Arbeiten von internationalen Künstler:innen zu sehen, die von den kuratorischen Partner:innen aus Beirut, Bihać und Warschau ausgewählt wurden. Darüber hinaus zeigen vier weitere Ausstellungsorte der freien Kunstszene in Dresden ausgewählte Werke aus der Schenkung Sammlung Hoffmann. So entspinnt sich durch die kuratorischen Ansätze und künstlerischen Zugänge ein sichtbares Netz(-werk) des Austausches und des gemein-samen Handelns zwischen den unterschiedlichen Orten, Institutionen und Künsten.

Im Rahmen von „Nordost Südwest“ widmet sich HELLERAU vom 30.09. bis 01.10.2022 den performativen Aspekten dieses Ausstellungsprojekts. Das Motiv des (Zu-)Hörens wie auch der Machtverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie bildet den Ausgangspunkt von vier künstlerischen Positionen, die von dem polnischen Kurator:innen-Duo Marta Keil und Grzegorz Reske vorgeschlagen wurden. 

Politics of Listening

Marta Keil and Grzegorz Reske, Kurator:innen (aus dem Englischen übersetzt)

Welche Form hat der Klang, der aus der Peripherie heraus unsere Aufmerksamkeit erlangt? Das Zentrum ist in der Regel gut hörbar, da es sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Zuhörer:innen stellt, egal ob sie es mögen oder nicht. Es spricht laut und verflacht dabei oft den Klang mit seinem eigenen, dominierenden Ton. Die Landschaft dessen, was wir hören, ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit verteilen. Und dies ist eine politische Entscheidung. Die Bedingungen für diese Entscheidung werden durch den Kontext geprägt, in dem wir lernen zuzuhören. Die Melodie der Stimme der Nachbar:in, das Geräusch der Straßen, das Fließen der Flüsse, die Art und Weise, wie ein:e Freund:in die Tür schließt, der Zeitpunkt im Jahr, an dem die Vögel und ihre morgendlichen Gespräche wiederkehren, die Reihenfolge, in der die Stimmen beim Familienessen erhoben werden.

Zuhören kann eine anspruchsvolle Aufgabe sein. Es erfordert eine echte Neugier für das, was wir noch nicht wissen und womit wir vielleicht nicht sicher umgehen können. Sich auf den Rhythmus desjenigen einzustellen, dem wir zuhören, bedeutet, diesem so viel Raum zu geben, wie er/sie braucht – und manchmal auch, unseren eigenen aufzugeben. Es ist also eine Übung zur Umverteilung unserer eigenen Ressourcen: Aufmerksamkeit, Zeit, Geduld, Neugier. Was braucht es, um sich im Zuhören zu üben? Wie viel Zeit braucht es, um sich auf neue Klänge und Stimmen einzustellen? Und wie ist mit dem Unbehagen umzugehen, das diese mit sich bringen könnten?

Für uns als Kurator:innen ist das Projekt „Nordost Süd-west“ ein vielschichtiges Gespräch mit Stimmen aus den Regionen, die an der Peripherie oder Halbperipherie der westlichen, zentralistischen Perspektive liegen. Das für HELLERAU entwickelte performative Programm versammelt Künstler:innen aus Polen und Argentinien, die in verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Niederlande, Polen) ansässig sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Machtverhältnisse zwischen den Zentren und den Peripherien problematisieren – und dies nicht unweigerlich nur in geopolitischer Hinsicht, sondern ebenso auf der Ebene der sozialen und nicht-menschlichen Beziehungen. So thematisiert Wojtek Ziemilski den Diskurs des Theaters, seine Struktur und Instrumente und fragt danach, wem diese eigentlich gehören. Zorka Wollny schafft eine kraftvolle Klanglandschaft feministischer Stimmen, die den öffentlichen Raum erobern, Iwona Nowacka und Janek Turkowski hören der Nachbarschaft von HELLERAU aufmerksam zu und schaffen damit die Voraussetzungen für faszinierende Gespräche, die sonst kaum zustande kämen, und Nahuel Cano lädt uns auf eine Reise ein, auf der wir lernen, den Erzählungen nichtmenschlicher Wesen zuzuhören.

Projekte in HELLERAU

Wojtek Ziemilski

Ausgehend von einer persönlichen Familiengeschichte, widmet sich der polnische Regisseur und bildenden Künstler Wojtek Ziemilski in seinem jüngsten Bühnenstück dem Thema Vermächtnis und Erbe. Mit Anna Dzieduszycka, einer entfernten Cousine, renommierten Schauspielerin und Protagonistin des Stücks, sucht Ziemilski das Gespräch über die gemeinsame Vergangenheit und den Umstand des Erbens, von materiellen Gegenständen, körperlichen Merkmalen und kulturellen Werten. „Ode to Joy“, das im April 2022 im STUDIO teatrgaleria in Warschau Premiere feierte, ist ein Stück darüber, was uns familiär und menschlich verbindet, was wir erben, wovon wir uns befreien und was stets Teil von uns bleibt. Damit hinterfragt Ziemilski ebenso den Diskurs des Theaters, seine Strukturen und die Werkzeuge des Theaters und wem diese eigentlich gehören.

Iwona Nowacka & Janek Turkowski

Die polnische Übersetzerin, Autorin und Kuratorin Iwona Nowacka und der polnische Regisseur Janek Turkowski verbindet seit 2013 eine kontinuierliche Zusammenarbeit, die sich insbesondere durch Langzeit-Filmprojekte kennzeichnet. Sie entstehen zumeist ortsgebunden und ihre Erarbeitung beruht auf Begegnungen mit Bewohner:innen, Archivdokumenten und ausdauernden filmischen Erkundungen. Dabei ergeben sich die zu erzählenden Geschichten durch das gefundene Material, dessen unterschiedliche Fragmente sich im Ergebnis zu einer Video-Storytelling-Performance zusammenfügt. Als Ausgangspunkt für ihre Arbeit in HELLERAU werden sich die beiden Künstler:innen mit den landwirtschaftlichen Aspekten der unmittelbaren Umgebung des Festspielhauses beschäftigen und untersuchen, welche postsowjetischen Spuren sich im Boden finden lassen.

 Nahuel Cano

In „Ways to Listen to a River: Movement 1“ erkundet der argentinische Schauspieler und Performer Nahuel Cano die Umgebung von HELLERAU. Als Teil seiner ausgedehnten Forschung zur Kartierung von Klanglandschaften folgt er dabei den Stimmen des Wassers. Die entstehende klangliche Landkarte, die weit über die unmittelbaren Ufer der Flüsse hinausragen kann, versucht dabei nicht nur die historischen, politischen und ökologischen, sondern ebenso die inneren, persönlichen Stimmen der Bewohner:innen – Menschen und nichtmenschliche Leben – einzufangen. Jene Geschichten verdichten sich schließlich zusammen mit den filmischen Beiträgen des argentinischen Regisseurs Juan Fernández Gebauer zu einer spektralen Erzählung, einem experimentellen Konzert, das dazu einlädt, jenen geisterhaften Stimmen des Wassers zu lauschen und gleichzeitig Wege zu finden, mit dem umzugehen, was diese Gewässer über ihre Vergangenheit und Gegenwart und die Zukunft zu erzählen haben.

Zorka Wollny

Die Arbeiten der polnischen Künstlerin Zorka Wollny bewegen sich an der Grenze von Theater und bildender Kunst und sind eng mit der Geschichte und der Architektur der jeweiligen Orte verbunden. Durch den Einsatz von klassischen Instrumenten, Alltagsgegenständen und Gesang schafft die Künstlerin immersive Soundlandschaften aus harmonischem Klang und ortsspezifischen Geräuschen. Mit „Imperfect Choir” wird Wollny in HELLERAU gemeinsam mit Protagonist:innen eine chorische Arbeit auf Dresden entwickeln.

30.09. – 01.10.2022

Nordost Südwest

Festival

Ein Projekt in kuratorischer Zusammenarbeit des Kunsthauses Dresden mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, Beirut Art Center, KRAK Center for Contemporary Culture in Bihać und Performing Arts Institute in Warschau.

Mit Rana Haddad & Pascal Hachem (200 Grs.), Frenzy Höh-ne, Adela Jušić, Irma Markulin, Svea Duwe & Bettina Lehmann & Roswitha Maul, Omar Mismar, Šejla Kamerić, Darija Radaković, Artist Collective SCHAUM, Antje Seeger, Aida Šehović, Petra  Serhal,  Caroline  Tabet, Janek Turkowski und Iwona  Nowacka, Nahuel Cano, Zorka Wollny, Wojtek Ziemilski sowie Arbeiten der Schenkung Sammlung Hoffmann von Félix González-Torres, Tony Oursler und A K Dolven.

Gefördert von Kulturstiftung des Bundes, Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Institut für Auslandsbeziehungen, Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Ostsächsischen Sparkasse Dresden