#WOD Requiem für die Zukunft – Lesung in HELLERAU

Am 07.02.2020 – ein Wochenende vor dem 75. Jahrestag der Kriegszerstörung Dresdens im Februar 1945 – wurden im Rahmen der Bus-Tour von „Requiem für die Zukunft“ des Bündnisses für ein Weltoffenes Dresden Besucher*innen von HELLERAU mit auf eine fiktive Zeitreise genommen. Eine Lesung über die Gartenstadt der 1930er Jahre und die Geschichte des Festspielhauses im Nationalsozialismus, ein historisches Diorama, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. Hier finden Sie den vollständigen Text der Lesung zum Nachlesen:

„Und würde auch gerne neben ihm laufen“

Mein Name ist Hans, ich wohne in Hellerau, der Gartenstadt von Dresden. Deutschland hat den Krieg begonnen, wovon hier noch nicht viel zu merken ist. Ich schreibe Tagebuch und habe vor kurzem meine Erinnerungen aus dem Jahr 1934 wiederentdeckt. Damals war ich 11 Jahre alt und ich berichtete von den Erlebnissen, die sich ereigneten und mich bewegt haben: Es ist der 25. Mai 1934 und das größte Ereignis des Jahres steht bevor, der Führer Adolf Hitler wird Dresden besuchen, weil hier die Reichstheaterfestwoche stattfinden wird. Meine Eltern sind schon sehr gespannt darauf, und ich freue mich auch ein bisschen den Führer zu sehen, auch wenn ich noch gar nicht so genau weiß, was ein Führer ist und was ein Führer macht. Bei uns im Klassenzimmer hängt seit dem letzten Jahr ein Bild von ihm; er schaut darauf immer sehr streng. Unser Lehrer sagt immer, dass wir für ihn lernen und arbeiten sollen, damit Deutschland wachsen kann. Seit diesem Jahr bin ich ein Jungvolkjunge. Mein Vater erzählte immer von seinen Erlebnissen beim Wandervogel, was ich spannend fand und deshalb wollte ich auch mit meinen Freunden Abenteuer erleben. Mein großer Bruder ist schon in der Hitlerjugend, er erzählt häufig von seinen Fahrten ins Zeltlager, bei denen er viel Sport macht, boxt und sogar schießen darf. Ich hoffe, ich lerne auch bald zu schießen. Meine ältere Schwester will Tänzerin werden, sie geht jeden Tag in die Tanzschule von Frau Marsmann, aber meine Mutter möchte lieber, dass sie Kindergärtnerin oder Lehrerin wird. Meine Mutter ist nämlich auch Lehrerin, aber sie kann jetzt nicht mehr arbeiten, da ein neuer Lehrer ihre Klassen übernommen hat. Es war irgendwann vor Weihnachten, als sie ganz aufgelöst nach Hause kam und erzählt hat, dass es ein neues Gesetz gibt und es dadurch sein kann, dass sie nicht mehr arbeiten darf. Vater hatte sich noch darüber lustig gemacht, dass sie nicht so ängstlich sein soll. „Das wird schon nicht passieren“, hatte er gesagt und zur Not bekommen wir etwas mehr Geld vom Staat. Wenn Mutter zu Hause bleiben muss, würde sie auch unterstützt werden. Aber ihr geht es nicht um das Geld, sie ist gern Lehrerin. Und jetzt ist es doch passiert und darüber ist meine Mutter sehr traurig. Mein Vater tröstet sie immer und sagt, er werde mehr arbeiten, er ist Tischler bei den Deutschen Werkstätten. Unsere Nachbarn schmücken ihre Vorgärten schon für die Festwoche, sie haben extra kleine schwarz-rote Fähnchen geholt und stecken sie in die Hecken und an die Gartenzäune. Klaus, unser Nachbar, wird das Fest nicht mehr mitfeiern. Er will aus Hellerau wegziehen, mein Vater sagt, das macht er, weil er Marxist ist. Ich habe Klaus gefragt, warum er wegziehen muss, nur weil er Marxist ist und er sagte mir, dass er hier nicht bleiben kann, weil er keine Arbeit mehr hat und seine Frau hier nicht glücklich ist. Ich mochte Klaus und seine Frau, sie hatten einen Teich im Garten und im Sommer habe ich öfter, wenn Vater nicht da war, mit Klaus zusammen Libellen beobachtet und seine Frau hat uns Limonade gemacht. Klaus und mein Vater waren früher beide bei den Naturfreunden. Bestimmt weiß Klaus deshalb soviel über Tiere und Pflanzen. Ich finde es komisch, dass der Lehrer in der Schule immer das Gesicht verzieht, wenn ich von den Tieren erzähle und Klaus erwähne, von dem ich etwas über sie gelernt habe. Das kam ganz plötzlich so, vorher hat er nicht abschätzig geschaut. Der Vater von Klaus war der Schiedsrichter bei uns im Fußballverein. Ich fand den alten Erich oft sehr ernst, aber zu uns war er trotzdem freundlich und es gab auch immer eine Limonade nach dem Spiel. Seit dem letzten Jahr ist er nicht mehr Schiedsrichter und den Verein haben sie verboten. Sie sagen: auch das sind Marxisten und sie seien gegen unseren Führer. Dem alten Mann kamen immer die Tränen, sagt Klaus, wenn er davon erzählt hat. Wie sie eines Nachts kamen und alles mitgenommen hätten, die Kasse, die Turngeräte, und dann waren alle Türen zu gesperrt … und auch die Naturfreunde gibt es seitdem nicht mehr. Die Turngeräte stehen jetzt in der Schule. Schiedsrichter ist jetzt so ein junger, mit kurzen rasierten Haaren und dicken Armen, er ist mir immer ein bisschen unangenehm. Ich finde es sehr schade, dass Klaus gehen wird, wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen. Meine Schwester sagt, auch die Frau Menzler, die sie manchmal beim Tanzen beobachten durfte, zieht weg. Und noch ein anderer Freund von mir muss aus der Gartenstadt gehen, er heißt Jakob, seinem Vater gehört der Laden, wo wir immer Gemüse kaufen. Jakob ist Jude und deshalb wollen er und seine Familie nicht mehr hier bleiben, vielleicht gehen sie auch ganz weg aus Deutschland. Erst letzte Woche haben Leute wieder was am Geschäft gemacht. Manchmal kommen sie nachts und schmieren was an die Wand und am nächsten Tag steht dann zum Beispiel: „Verzieht euch!“ Aber sie schreiben auch tagsüber an das Geschäft, einmal habe ich sogar jemanden gesehen, als ich nachmittags vorbei gelaufen bin und ich habe mich hinter einem Strauch versteckt. Der hat sich die ganze Zeit umgeschaut, damit ihn niemand beobachtet. So als ob er sich vielleicht irgendwie dafür schämt. Und dann ist er ganz schnell weggelaufen, als ob er nichts gemacht hätte. Ich hab‘ meiner Mutter aber nichts davon erzählt. Und Jakob zu fragen, habe ich mich nicht getraut. Er ist sowieso ganz still geworden in letzter Zeit. Manchmal erzählt er, dass sein Vater die ganze Nacht in der Küche herumläuft und nicht schlafen kann und immer das Gleiche vor sich hinspricht und seine Eltern sich oft streiten. Jakob mag dann manchmal nicht mehr essen. aber darüber spricht er nur selten. Zu den Treffen vom Jungvolk, wo die meisten von den anderen Jungs sind, kommt er nicht mit. Ich glaube, er will auch nicht. Ich lerne in der Schule und beim Jungvolk, dass Juden schlecht sind, aber mein Freund Jakob und seine Eltern sind nicht schlecht, das sagt auch meine Mutter. Jetzt ist es ein Tag vor dem Beginn der Theaterfestwoche und am morgigen 29. Mai soll ein großes Fest hier in Hellerau stattfinden, wir haben für diesen Tag extra schulfrei bekommen, damit alle Kinder teilnehmen können. Der Jungvolkchor wird auch an diesem Fest singen, ich singe mit und war bei jeder Probe. Von unserem Chorleiter haben wir gesagt bekommen, dass wir in kurzer Hose und Hemd kommen sollen, wenn unser Chor zur Theaterwoche singt. Die Gemeinde und die Schule haben aber kein Geld, um uns die neuen Sachen zu kaufen und deshalb müssen unsere Eltern das bezahlen. Er sagt: „das ist eine ehrenvolle Pflicht und eure Eltern machen das bestimmt gern“. Ich möchte auf jeden Fall eine kurze Hose tragen. Nur einen Hut möchte ich nicht tragen, ich mag nämlich keine Hüte. Wenn ich Glück habe, darf ich die Fahne mit unserem Abzeichen tragen und ganz vorn in der ersten Reihe marschieren. Doch heute ist noch Wochenende und wir unternehmen alle zusammen etwas, so wie wir das meistens am Wochenende machen. Ich wollte gern in den Zoo, aber Vater meinte, er müsse noch etwas für das Fest vorbereiten und deshalb kann es nur ein kleiner Ausflug werden. Deshalb haben wir einen Spaziergang gemacht, von Hellerau aus Richtung Prießnitz und den Fluss entlang. Auf dem Nachhauseweg hat Vater uns die neuen Häuser der Deutschen Werkstätten gezeigt, sie sind fast fertig. Nur an einem wird noch gestrichen. Und die kleinen Gärtchen drumherum sind auch schon schön gepflanzt. Sie stehen am Sonnenhang, nicht weit weg von unserm Haus. Vor einem Jahr hat da noch nichts gestanden, aber jetzt ist da eine ganz neue Straße entstanden. Sie sehen ganz anders aus als viele andere Häuser hier in der Gegend. Es sind Holzhäuser in verschiedenen Größen und für unterschiedlich große Familien. Vater sagt, wir könnten uns gerade mal das kleinste Haus leisten, aber das würde nicht für uns alle reichen. Er sagt, dass sie auch schon fast alle verkauft sind, an Leute, die aus der Stadt an den Stadtrand ziehen wollen, Professoren und Beamte. Meine Geschwister und ich schauen durch das Fenster eines der Holzhäuser, es ist alles möbliert und sieht aus, als ob schon Menschen drin wohnen würden. Manche Holzmöbel erkenne ich wieder, die habe ich schon in Vaters Arbeitsräumen gesehen. Mutter sagt, wir können uns die Häuser noch mal ansehen, wenn sie als Ausstellung eröffnet werden. Vater sagt, sie hätten seit diesem Jahr richtig viel zu tun auf Arbeit, gerade bauen sie eine neue Halle für neue Maschinen, um das Holz zu trocknen und damit noch mehr Holz verleimt werden kann. „Der Herr Direktor hat Großes vor“, erzählt er immer. „Er ist jetzt viel unterwegs, um neue Flächen für neue Fabrikhallen zu finden, sogar im Erzgebirge. Denn es wird viel Platz gebraucht. Und oft kommen jetzt wichtige Herren in die Werkstätten, auch welche von der Partei.“ Vaters neuer Vorarbeiter ist auch einer von der Partei, den alten hatten sie entlassen. Vater meint, er hätte seine Arbeit sehr gut gemacht und alle hätten ihn ernst genommen, aber er hat den Neuen nicht gepasst. Und den neuen Vorarbeiter nennt er immer einen „Armleuchter“, aber er will sich nicht mit ihm anlegen und macht lieber seine Arbeit. Er muss jetzt auch mehr arbeiten als früher und bekommt zur Zeit auch keinen Urlaub. Meine Mutter schaut ihn auch immer ein bisschen komisch von der Seite an, wenn er abends beim Essen erzählt, was sie heute alles auf Arbeit gemacht hätten und dass sie jetzt die Gefolgschaft sind. Denn so würden jetzt die Arbeiter genannt, ich weiß, dass ihm dass nicht so passt, auch wenn er es nicht erzählt. Vater erzählt, dass die Werkstätten jetzt für den Gauleiter arbeiten und sogar Möbel für Schiffe bauen: Ich möchte auch mal auf so einem Schiff mitfahren. Wir waren noch nie am Meer, auch nicht an der Ostsee. Nur mein Bruder durfte letztens mal weiter wegfahren: in die Berge mit den anderen Hitlerjungen, ins Lager, so mit Feuer und Zelten und Räuber-und-Gendarm-Spielen. Auf dem Marktplatz werden sogar heute noch Vorbereitungen für das Fest getroffen, es werden Fähnchen an die Häuser und Geschäfte gehängt. Der Laden, der Jakobs Vater gehört hatte, ist schon komplett leer und ein neues Schild, auf dem steht „Gemüse von deutschen Äckern“, hängt über der Tür. Am Abend habe ich noch mal Chorprobe. Am Sonntag nun ist es endlich soweit, die Reichstheaterfestwoche wird eröffnet, meine Eltern, meine Schwester und ich fahren alle mit der Straßenbahn in die Stadt zum Adolf-Hitler-Platz vor der Semperoper. Sonst fahren wir selten Straßenbahn, und laufen das ganze Stück, aber heute möchten wir schnell sein. Das ganze Fest beginnt mit einem Umzug verschiedener Organisationen; ich sehe Mädchen vom „Bund deutscher Mädel“, ich sehe die Hitlerjungen und da, da ist mein Bruder. Ich winke ihm zu und rufe, aber er ist mit Laufen, gerade-nach-vorn-Blicken und Armheben beschäftigt. Ich freue mich für meinen Bruder und würde auch gerne neben ihm laufen. Ich bewundere ihn, wie er da ganz stramm läuft; ganz erwachsen sieht er aus und ich frage mich, ob ich auch mal so toll aussehen werde wie mein Bruder? Mutter hat Tränen in den Augen, wenn sie ihm zusieht. Mitten im Umzug, von Fahnenträgern umgeben, fährt ein schwarzes offenes Auto, Vater ruft: „da kommt der Führer!“ Alle Menschen fangen an zu rufen und ihren Arm zu heben. Es wird unglaublich laut, der Führer steht in seinem Auto und winkt den Massen zu. Ich sehe zum ersten Mal den Führer Adolf Hitler, dennoch weiß ich immer noch nicht so genau, was er macht und warum ihm alle so zujubeln. Er ist immer noch so ernst, wie auf dem Bild in der Schule und ich dachte, er würde auch mal lachen, aber vielleicht kann er das gar nicht, wenn er so wichtig ist und so viel zu tun hat. Das Auto fährt weiter und hält vor der Semperoper, es werden verschiedene Reden gehalten, von denen ich aber nicht so viel verstehen kann, da der Platz so voll ist; dann verschwindet der Führer mit anderen Leuten in der Oper. Mutter sagt: „die schauen sich jetzt eine Oper an, so wie es auch bei dem Fest in Hellerau in zwei Tagen sein wird.“ Wir fahren nach Hause zurück, ich habe den ganzen Abend noch die Bilder der Eröffnung in meinem Kopf, ich sitze in meinem Zimmer, schaue aus dem Fenster und denke mir, ob es in zwei Tagen auch so sein wird? So viele Menschen, alle jubeln, und der Führer, kommt er auch? Ich höre meinen Bruder aus der Küche erzählen, er ist ganz aufgeregt und berichtet meinen Eltern von seinen Eindrücken, wie er marschiert ist, wie er sich positionieren musste und dass der Führer an ihm vorbeigelaufen ist und allen zugenickt hat. Jetzt ist es nur noch ein Tag bis zu dem großen Fest in Hellerau, ich habe das Gefühl, dass alle Anwohner in Hektik sind und die letzten Vorbereitungen treffen. Ich finde, in unserer Straße wollen sich die Nachbarn besonders viel Mühe geben beim Schmücken und Dekorieren. Alle haben ihre Fensterbretter bepflanzt. Mutter hat auch noch neue Geranien für die Blumenkästen gekauft, sie sagt, sie hätte die letzten roten bekommen. Sie findet, es müssten unbedingt rote sein. Als ich von der Schule komme, sehe ich die Proben für die Festveranstaltung. Auch mein Chor hat noch eine letzte Generalprobe. Ich hoffe, ich kann mir die Texte merken. Vor dem Abendessen muss ich meiner Mutter noch schnell helfen, die Fahne zu befestigen, bevor es dunkel wird. Sie hat heute Abend noch viel vor: zwei Kuchen backen, die Hemden für uns bügeln und alles zurecht legen für morgen. Vater kam dann auch erst spät nach Hause und Mutter hatte ganz vergessen, ihm das Essen in der Kiste warm zu halten; da hat er sich ein bisschen aufgeregt. Er musste heute länger in den Werkstätten arbeiten, wie an den letzten Wochenenden auch schon, um eine Holzkrone fertig zu bauen. Sie soll mit Blumen und roten und weißen Bändern geschmückt auf dem Marktplatz aufgestellt werden. Und morgen früh, ganz zeitig, muss Vater sie mit aufstellen helfen, bevor alles losgeht. Ich finde es schade, dass Vater jetzt immer so lange in den Werkstätten arbeiten muss und erst in der Nacht nach Hause kommt. Am nächsten Tag ist er auch oft müde und hat kaum Zeit für uns, aber sonntags unternehmen wir trotzdem immer etwas, auch wenn es für ihn anstrengend ist. Dann ist es soweit, ich werde sehr früh wach, sehe einen strahlend blauen Himmel und Sonnenschein und denke mir, dass kann nur ein guter Tag werden. Ich laufe zu den Hellerauer Werkstätten, denn da soll die Zeremonie beginnen. Es sind schon die Kapelle der Werkstätten, die HJ, die Schuljugend der Bund deutscher Mädel, die Gartenstadt-Verwaltung, die Gemeindeverwaltung und der Chor des Jungvolks versammelt. Wir werden alle positioniert und dann setzt sich die marschierende Menge in Bewegung. Zuerst die Gartenstadt- und Gemeindeverwaltung, dann die Kapelle, die auf dem Weg zum Festspielhaus fröhliche Lieder spielt, dahinter unser Chor des Jungvolks und anschließend die Hitlerjugend und BdM. Wir laufen vorbei am Marktplatz mit der geschmückten Krone, am Sonnenhang und am Gondler – wo ich im Winter immer rodeln gehe – und gefühlt nach jeder Straße, die wir passieren, folgen uns immer mehr Menschen und schließen sich dem freudigen Marsch an. Dann endlich sind wir am Ende des Heidewegs angekommen und man sieht schon das festlich geschmückte Festspielhaus und den geschmückten Adolf-Hitler-Platz, auf dem nun alle zusammenkommen. Der Chor steht auf der Bühne neben der Kapelle der Werkstätten, ich habe das Gefühl, dass das Festspielhaus und der Vorplatz noch nie größer und schöner ausgesehen haben. Dann passiert etwas mit der Menge, alle drehen sich zur Straße um und beginnen zu jubeln; sofort beginnt die Kapelle das „Deutschland-Lied“ zu spielen. Ein schwarzer Wagen fährt langsam den Adolf-Hitler-Platz hinauf. Es steigt ein Mann aus, der nicht aussieht wie der Führer, den ich vor zwei Tagen gesehen habe. Die Jungen neben mir fangen an zu tuscheln „das ist Herr Goebbels“. Ich frage, wer das ist und einer antwortet mir: „das ist der zweite Führer“. Der Chor fängt an zu singen, danach werden Reden gehalten, erst vom Bürgermeister, dann vom Ortsgruppenleiter der NSDAP, dann kommt der Herr Direktor von den Werkstätten, und er redet von der neuen Zeit, die jetzt anbricht und wie sehr er die Menschen wieder zu Menschen machen will durch deutsches Bauen und deutsches Wohnen. Er sagt, alles wird durch Arbeit und Erziehung ab jetzt wieder seine Ordnung haben; und mir fällt ein, dass unser Lehrer das auch immer sagt. Und dann kommen auch noch der Herr Schöne, von der Spritzenfabrik und der alte Strobel, und sie reden und ich langweile mich beim Zuhören. Und schließlich spricht der zweite Führer. Er sagt, dass er sich sehr freut, hier zu sein und wie schön unsere Gartenstadt aussieht, und dass der Direktor Schmidt viel für das Deutsche Volk getan hätte. Für die Volksgesundheit, weil er Hellerau, eine Gartenstadt gegründet hat. Er sagt: „Hellerau ist von deutschester Art und ein Vorbild für das Reich und ganz Deutschland kann sich ein Beispiel an der Gartenstadt nehmen, und wie sie dem Führer gefallen würde;“ auch sagt er, dass er sich vorstellen kann, aus dem Festspielhaus eine Akademie der Oper und der Schauspielkunst zu machen und dass morgen vielleicht der Führer nach Hellerau kommen wird. Daraufhin jubelt die Menge und die Kapelle spielt ein Ständchen. Noch einmal singt der Chor, es ist das Horst-Wessel-Lied und währenddessen laufen Herr Goebbels, der Bürgermeister und die anderen wichtigen Personen in das Festspielhaus. Allerhand Leute drängen sich zu Herrn Goebbels und überreichen ihm Blumen. Ich laufe zu meinen Eltern und meiner Schwester, die ich schon von der Bühne aus gesehen habe. Meine Mutter lobt mich und ich frage: „wird jetzt wieder eine Oper angeschaut?“ Meine Mutter nickt mir lachend zu und ein Mann neben uns ruft: „Ja, endlich werden hier wieder Opern aufgeführt und nicht dieser komische Tanz, den keiner versteht und dieser Schweizer kann auch bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ Wieso sagt der Mann das? Wieso komischer Tanz? Meine Schwester liebt es zu tanzen und sie schwärmt immer davon, wie schön es wäre auf der Bühne des Festspielhauses oder auf anderen Bühnen zu tanzen. Meine Schwester schaut meine Mutter traurig an und mein Vater sagt: „kommt wir gehen.“ Sie sagt zu meiner Schwester, dass sie das ganz toll findet, mit dem Tanz, und vielleicht klappt es ja in der Schule von Frau Marsmann, dass sie dort eine berühmte Tänzerin wird. „Und außerdem“, sagt sie, „habe ich vorhin gesehen, wie die Frau Marsmann mit einem Strauß Blumen zu Herrn Goebbels geganngen ist. Der findet Tanz und Gymnastik bestimmt auch ganz toll.“ Wir laufen einen längeren Weg nach Hause, vorbei an der Feuerwehr auf dem Schulweg. Dort sitzt die Kapelle im Schatten – die haben ja auch mächtig Krach gemacht. So viel, dass der Kopf von einem schon ganz rot angelaufen ist und er herumschwankt, dass er bestimmt gleich hinfällt. Ob der Führer wohl morgen kommt und sie dann auch wieder Musik machen? Es war komisch diese Zeilen zu lesen und sich daran zu erinnern. Jetzt sind fünf Jahre vergangen, ich bin 16 und wie schon erwähnt ist Deutschland im Krieg. So etwas wie die Reichstheaterfestwoche hat nicht noch einmal in Dresden stattgefunden. Ich bin mittlerweile bei der HJ, so wie es mein Bruder war; der ist jetzt bei der Wehrmacht. Zurzeit sind sie an der Ostsee stationiert. Meine Mutter arbeitet immer noch nicht wieder als Lehrerin, aber sie hat eine ehrenamtliche Tätigkeit bei der Gemeinde. Mein Vater ist noch bei den Hellerauer Werkstätten beschäftigt. Meine Schwester ist nun doch Kindergärtnerin geworden und hat das Tanzen aufgegeben, weil ihr Frau Marsmann gesagt hat, sie hätte zwar Talent, aber das Volk brauche jetzt Kinder und Erzieherinnen, und ob das nicht das Bessere für sie wäre. Darüber hat sich meine Schwester sehr geärgert, aber sie hat sich dann doch umentschieden. Ihr großer Traum im Festspielhaus zu tanzen, wäre eh nicht in Erfüllung gegangen, weil da seit zwei Jahren die Wehrmacht stationiert ist, es wurden sogar zusätzliche Gebäude für die Unterbringung der Soldaten gebaut. Generell ist in Hellerau sehr viel Militär stationiert, der Heller ist gesperrt und von den frühen Morgenstunden bis in die Nacht finden Schieß- und Flugübungen statt. Einige unserer Nachbarn sind schon weggezogen, weil sie den Lärm hier nicht mehr aushalten. Ich finde es eigentlich immer noch schön hier zu wohnen, ich habe meine Freunde, die Organisation, es gibt viele Feste. Wir fahren jetzt auch immer mit den anderen Hitlerjungen in die Berge, ins Lager, so wie mein Bruder das auch durfte, und wir turnen dort sehr viel und ich fühle mich dann schon ganz wie ein Mann. Waffen durften wir auch schon tragen. Eine der schönsten Veranstaltungen, die in diesem Jahr stattfand, war das Hellerauer Marktfest. Ich durfte dieses Mal sogar die Fahne tragen, ganz vorn…

Text: Claudia Dietze und Robert Badura 

#WOD setzt als offener Zusammenschluss der Dresdner Kulturinstitutionen ein Zeichen für Freiheit, Demokratie und eine offene, solidarische Gesellschaft. Mit einer fahrenden Ausstellung, thematischen Stadtrundfahrten und einem vielfältigen Programm von Sonderveranstaltungen begaben sich die Dresdner Kulturinstitutionen vom 1. bis 15. Februar 2020 auf die Straße. Der Gedenkbus „Requiem für die Zukunft“ ist ein mobiles Projekt zu aktuellen Perspektiven des Gedenkens und der Trauer in Europa anlässlich des 75. Jahrestages der Kriegszerstörung Dresdens im Februar 1945.