Foto: Thomas Poravas

HYBRID Biennale 2022,#2-2022

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde HELLERAU als gemeinsames Projekt von Industrie, Forschung und Kunst und als Antwort auf die Industrialisierung und den Wandel der Arbeits- und Lebensbedingungen gegründet. Heute, in außergewöhnlich kritischen Phasen der globalen Transformation, beeinflussen insbesondere Prozesse der Digitalisierung die Künste und ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Mit immersiven Technologien oder künstlichen Intelligenzen entstehen nicht nur neue Ästhetiken, sondern auch neue Formate, Machtstrukturen, Zugänglichkeit und Präsenz von Kunst. In HELLERAU, das als eines der wichtigsten internationalen Zentren für zeitgenössischen Tanz, Musik und Performance fungiert, wird HYBRID daher als Plattform, Labor, Experimentier- und Diskursraum für die Künste im (post)digitalen Zeitalter etabliert. Der Begriff des Hybriden soll hier nicht nur in seiner technologischen, sondern auch in seiner politischen und sozialen Dimension, im Prinzip der Verwandtschaft (Donna Haraway), der Begegnung und Differenz sowie in seinen Potentialen der Vielfalt diskutiert und in künstlerischen Projekten reflektiert werden.

Das ursprünglich für März 2020 geplante HYBRID-Auftaktfestival konnte aufgrund der Pandemie erst 2021 und ausschließlich online stattfinden; die HYBRID Box, eine neue modulare Galerie und Kooperation mit PYLON, wurde ebenfalls erst 2021 eröffnet.  Vom 20. bis 30. Oktober 2022 wird die erste HYBRID Biennale künstlerische Positionen an den Schnittstellen zwischen analoger und digitaler sowie darstellender und bildender Kunst in verschiedenen performativen, installativen und musikalischen Projekten präsentieren. Im Festspielhaus Hellerau, an weiteren Spielorten in Dresden und online sind Kooperationen u.a. mit PYLON, Artificial Museum, MUTEK und objekt klein a sowie mit Künstlern wie Sophia Al-Maria, Ryan Trecartin und Tai Shani geplant. Für Tessenows Festspielhaus in Hellerau hat die Kuratorin Yasemin Keskintepe ein Konzept mit dem Titel „Beyond these fractured presents“ mit Künstlern wie Cécile B. Evans, Choy Kaai und Tai Shani entworfen. Evans, Choy Ka Fai, Ryoichi Kurokawa, Maria Hassabi und Lamin Fofana, die sich Choreografien zur kollektiven Erschaffung der Welt widmen. „Zwischen den Bühnen, Sälen und Salons des Festspielhauses verflechten sich Installationen und Performances mit dem Publikum – nicht als lineare Ereignisse, sondern als Vorschläge für Vielfältigkeit. Die vielen Handlungsorte verweigern sich der Idee der Zentralisierung und verweisen damit auf eine Befragung der Vielfalt von Erzählungen. Die Passagen stellen Verbindungen her, die nicht nur in eine Richtung weisen, sondern Raum lassen für vielfältige Experimente des Miteinanders in gegenseitiger Interaktion. Es ist ein Versuch, Gemeinsamkeit durch relationale Abhängigkeit zu denken“, so beschreibt Yasemin Keskintepe das Konzept.

Future Adaptations

Cécile B. Evans‘ Arbeit „Future Adaptations“ inszeniert das Ballett „Giselle“, das ursprünglich 1841 in Paris von Adolphe Adam geschaffen wurde, im Zeitalter der Industrialisierung als ökofeministischen Thriller in einer mehrkanaligen Videoinstallation und Performance. Sie projiziert die Geschichte von Giselle in die nahe Zukunft, in der die Protagonistin und ihre Freunde auf der Flucht vor der sich verschärfenden Klima- und Energiekrise versuchen, die Gesellschaft neu zu gestalten. Kuratorin Yasemin Keskintepe sprach mit Cécile B. Evans über ihre Edition für die HYBRID Biennale.

Was hat Sie dazu bewogen, Giselle zu adaptieren, nachdem Sie die Originalversion gesehen hatten?

Das Originalballett wurde auf dem Höhepunkt des Industriezeitalters uraufgeführt und war das erste, in dem eine weibliche Protagonistin mit Klassenproblemen zu kämpfen hatte. Ich fühlte mich von der surrealen Handlung angezogen, in der Giselle im ersten Akt stirbt und der zweite Akt ihrem Übergang ins Jenseits gewidmet ist, als sie sich im Wald einer Gruppe von untoten Frauen, den Wilis, anschließt.  Als ich die klassische Version zum ersten Mal sah, habe ich das Geschehen völlig missverstanden und dachte: Giselle geht ins Jenseits und kämpft darum, eine gemeinsame Basis mit den Wilis zu finden.  Sie beharren auf ihren Unterschieden, führen sich gegenseitig verschiedene Symbole vor und ermorden Männer, die diese komplexen Verhandlungen unterbrechen.  Das Ende, bei dem Giselle und die Wilis das Leben von Albrecht (dem Adligen, der sie verraten hat) verschonen, hat mich völlig verwirrt und verunsichert. Danach fand ich einen Programmzettel auf dem Boden und las die beabsichtigte Handlung: eine Geschichte über „weibliche Moral“, in der eine Gruppe von verachteten Frauen durch Giselle befreit wird, indem sie ihnen Mitgefühl und Vergebung gegenüber diesem einen Mann beibringt. Mein erster Gedanke war: „Was für eine Verschwendung eines zweiten Aktes“. Ich wurde an den Ursprung des Wortes „Apokalypse“ erinnert und dass es in der Literatur eine „Enthüllung“ oder eine unwiderrufliche Offenbarung bedeutet, die zu neuen Zusammenhängen führt.

Ich dachte, dass das Scheitern des Originals (und mein völliges Missverstehen desselben) ein Ausgangspunkt sein könnte, um das komplexe Netzwerk von Realitäten darzustellen, das in einer Zeit des Übergangs verhandelt wird.  Ich wollte mich mit dem Chaos und der Unlesbarkeit auseinandersetzen, die viele Menschen in solchen Momenten erleben, und transparent machen, wie schwierig Veränderungen sein können.

Wandlungsfähigkeit, das Potenzial für Veränderungen jenseits von Dualismen, ist ein zentrales Anliegen in Ihrer Arbeit. Wie trägt die Wandlungsfähigkeit durch Erzählungen dazu bei, die Gesellschaft neu zu gestalten und ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen?

Die Idee der Wandlungsfähigkeit als Überlebensstrategie ist schon sehr früh als Begleiter der Themen Wandel und Übergang entstanden. Ursprünglich war es eine Möglichkeit, den zeitgenössischen Essentialismus und die „Gewissheit“ als Hindernis für den Fortschritt zu betrachten. Ich habe den ersten Film, A Screen Test for an Adaptation of Giselle, dazu benutzt, mit dieser These zu experimentieren – in diesem Sinne funktioniert er fast wie ein umgekehrter Trailer. Mit „Notations for an Adaptation of Giselle (welcome to whatever forever)“ wollte ich eine Performance für Bildschirme machen, damit das Werk beginnt, über die Medien hinauszugehen.  Die Wandelbarkeit wurde Teil der Körperlichkeit des Projekts – die Darsteller begannen sich zu verändern, die Welten öffneten sich, die Anzahl der Bildschirme änderte sich.

Die Zeitlichkeit ist ein weiteres wichtiges Element der Arbeit. Die Erzählung von Future Adaptations entfaltet sich auf nicht-lineare Weise: in der digitalen und der physischen Welt, während die Figuren auch in verschiedenen Zeiträumen leben. Können Sie die Vorstellung von der Gewalt der linearen Zeit näher erläutern?

„Keine Bullen, kein Knast, keine lineare Zeit. Die Art und Weise, wie die meisten Menschen Dinge erleben, ist anachronistisch gegenüber der Art und Weise, wie diese Dinge gemessen und aufrechterhalten werden.

Diese Messungen können alle gewalttätig sein, und die lineare Zeit ist ein leichtes Ziel, weil sie ein imperiales Projekt ist, das auf so viele Facetten des Lebens angewendet wird. Beispiel: Wenn sich der Charakter eines Menschen ändert – sein Geschlecht oder sein Verhalten gegenüber anderen -, wenn er nicht leicht lesbar oder linear ist, kann er die Kraft vieler Systeme spüren, die versuchen, ihn wieder auf Linie zu bringen.  Die Tatsache, dass unsere Welt zusammenbrechen würde, wenn wir uns nicht an die lineare Zeit halten würden, ist Grund genug, um zu hinterfragen, wie sie eingehalten wird.

In den späteren Videos fügen Sie der Erzählung mit den Figuren der Familie (eine Pflanze, eine Kamera und ein Baby) eine zusätzliche Ebene hinzu. Wie sind Sie auf diese Figuren gekommen? Und welche Rolle spielen sie bei Giselles Anpassungsversuchen?

Kurz nachdem wir mit der Arbeit an Notations begonnen hatten, begann die Pandemie. Ich fühlte mich selbst eine Zeit lang sehr unwohl und wurde Zeuge des Versagens verschiedener Systeme bei der Anpassung an den Wandel – um mich herum veränderte sich so viel, dass es unmöglich schien, irgendetwas auf „direkte“ Weise zu tun. Ich war auch gezwungen, mich mit der Art und Weise auseinanderzusetzen, in der mein eigener Arbeitsprozess bis zu einem gewissen Grad die kapitalistischen Strukturen reproduzierte, die das Werk aufzubrechen versuchte. Die Figuren der Pflanze/Regisseurin, der Kamera/ihrer Partnerin und des Babys waren im einfachsten Fall ein Weg, diese Korruption transparenter zu machen. „For a Future Adaptation of Giselle (the Wilis‘ battle of whatever forever)“ zeigt diese Familie, die darum kämpft, die Adaption von Giselle zu vollenden, während die Welt um sie herum zerbricht. Die Inszenierung war bereits in „Notations“ mit dem Gespräch zwischen dem Regisseur und dem Drehbuchautor angelegt worden, aber mit der Einführung der Familie/ihrer Welt vervielfacht sich der Effekt: Es gibt die Welt von Giselle, die Welt der Entstehung von Giselle und so weiter. Das hat sich für mich sehr real angefühlt.

Wenn sich die Dinge ändern, ob freiwillig oder durch die Umstände bedingt, werden die Realitäten zerklüftet.  Sie brechen ab und werden zu ihrem eigenen wilden Din-Gen.  In den letzten Jahren hat Future Adaptations sehr unterschiedliche Formate, Erzählungen und Realitäten durchlaufen – als Werk ist es ein direktes Ergebnis der Zeit, in der es entstanden ist.

Würden Sie uns einige erste Ideen für die Adaption mitteilen, die das Publikum bei HELLERAU sehen wird? Was ist die erweiterte Erzählung, die Sie erforschen werden?

Das letzte Video der Reihe, Future Adaptations (eine Zweitbesetzung für Giselle), nutzt die Notwendigkeit einer Zweitbesetzung für die Adaption, um eine breitere Diskussion darüber zu führen, was passiert, wenn der ursprüngliche Plan nicht aufgeht und ersetzt werden muss. Wie können wir uns darauf vorbereiten? In der Aufführung, die wir für HELLERAU konzipieren, werden wir in für das Publikum sichtbaren Sitzungen „Vorsprechen“ für die verschiedenen Rollen des Projekts abhalten.  Ich bin neugierig, ob wir die traditionelle Machtstruktur des „Vorsprechens“ aufbrechen können, um zu erkunden, wie verschiedene Rollen und Ideen ausprobiert, verändert und getestet werden können. Ich würde gerne mit einer kleinen Gruppe von Tänzern arbeiten, um die idealen Bedingungen für neue Richtungen zu finden und die bisherigen Videos und Installationen als Hintergrund für die Entwicklung einer völlig neuen Arbeit zu nutzen.

Cécile B. Evans ist eine amerikanisch-belgische Künstlerin, die in London lebt und arbeitet. Für ihr Projekt der Adaption des Balletts Giselle hat sie bisher u. a. mit dem Centre Pompidou Paris (FR), dem Ulsan Art Muse-um (KOR), dem Kistefos Museum (NO) und dem Nationalballett von Marseille zusammengearbeitet. Ihre Werke werden u. a. in der Tate Liverpool (UK), im mumok Wien (AT), in der Whitechapel Gallery (UK), im Haus der Kunst München (DE) und im Museum of Modern Art, New York (US) gezeigt.

 

                                                                                                                                                                                        20. – 30.10.2022

HYBRID Biennale

Festival

u.a. mit Cécile B. Evans, Ryoichi Kurokawa, Sophia Al-Maria, Johanna Bruckner, Choy Ka Fai, Maria Hassabi und Lamin Fofana.

Die HYBRID Biennale wird von der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen unterstützt. Diese Maßnahme wird auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts aus Steuermitteln kofinanziert.