Home Away From Home, #1 – 2021
Seit Jahrhunderten sind viele Menschen in andere Länder ausgewandert, um zu arbeiten und Geld zu verdienen. Diese globale Arbeitsmigration ist heute eines der komplexesten und gleichzeitig unsichtbarsten Phänomene unserer Gesellschaft. In einigen Staaten oder Städten, beispielsweise in Singapur oder Dubai, machen inzwischen Gastarbeiter:innen die große Mehrheit der Bevölkerung aus, jedoch mit sehr eingeschränkten Rechten und zum Teil prekären Lebensbedingungen. Die migrantischen Arbeiter:innen füllen auch in Deutschland wichtige Lücken – sie arbeiten in der häuslichen Pflege, in der Industrie, im Bausektor. Die in Dresden lebende taiwanische Choreografin Fang Yun Lo und ihre Kolleg:innen – die in Ho-Chi-Minh-City lebende Choreografin Ngo Thanh Phuong und die in Berlin lebende taiwanische Bühnenbildnerin Cheng Ting Chen – haben zu diesem Thema seit 2018 mehr als 100 betroffene Personen in Deutschland und Taiwan interviewt, meist über die spontane Begegnung am Arbeitsplatz, in Läden, Imbissen und Geschäften. Sie haben sich dabei auf die Geschichten vietnamesischer Einwander:innen konzentriert – auch, weil deren Geschichte die deutsche Geschichte mit der Teilung und Wiedervereinigung auf ganz besondere Weise spiegelt. Welche Versprechen und Wünsche führen junge Menschen aus Vietnam und anderen Ländern des „globalen Südens“ in diese Abhängigkeiten? Worin unterscheiden sich diese von den Gast- und Vertragsarbeiter:innen der 1980er Jahre? Wie manifestieren sich diese Verhältnisse für die jeweils Betroffenen und was erzählt das über unsere Gesellschaften? „Home Away From Home“ webt aus all diesen Erinnerungen eine berührende, vielstimmige Reise durch das Theater und die Welt. Sechs Darsteller:innen aus Deutschland und Taiwan, denen das Publikum an verschiedenen Stationen begegnet, erzählen ihre Schicksale von globaler Migration und interkultureller Realität, berichten gleichzeitig aber auch on der komplexen Geschichte eines gespaltenen deutschen Staates und der bis heute wenig reflektierten Fremdenfeindlichkeit in ostasiatischen Industriestaaten, wie Taiwan.
Fang Yun Lo (Dresden/Essen/Taichung), Künstlerische Leitung
Theaterprojekte habe ich oft mit meinen eigenen Erfahrungen begonnen – so auch dieses Mal. Der Unterschied ist, dass es bei diesem Projekt nicht um mich, sondern um „uns“ geht. Vietnamesische Einwanderer:innen in Deutschland und Taiwan stehen im Mittelpunkt des Projekts, sie stehen als Symbol für die Ein- und Auswander:innen dieser Welt. Es ist eine große Aufgabe für mich, in eine andere Kultur einzutreten und mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Jedes der über 100 Gespräche, die ich geführt habe, war nicht nur ein „normales“ Interview, um Material zu sammeln – es war immer eine bewegende und schöne Erfahrung, gemeinsam in eine private Erinnerung einzutauchen. Dieser besondere, empathische Moment ist es auch, den wir auf der Bühne mit den Zuschauer:innen teilen möchten. Es geht uns letztlich nicht um Vietnames:innen oder Migrant:innen, sondern um Menschen.
Cheng Ting Chen (Taipeh/Berlin), Bühnenbild
Im Jahr 2020 habe ich 15 Jahre am Theater gearbeitet und seit 10 Jahren in Deutschland gelebt. Im Verlauf dieses Inszenierungsprozesses habe ich meine Identität in der Welt und mich selbst immer wieder neu entdeckt. Ich konnte aber auch viel über die Geschichte und die Unvermeidbarkeit von Migration, über Flucht, Anfänge und das Zurückkehren verschiedener Menschen lernen. Die Bühneninstallation, die ich für das Stück entwerfe, macht sich diese Erfahrungen zunutze: Wie können die Sinne und das Denken im Theater durch Räume und Objekte geöffnet werden, damit wir die Anderen und uns selbst besser verstehen?
Ngô Thanh Phương (Ho-Chi-Minh-Stadt), Co-Regie
Als vietnamesische Künstlerin geht es mir in diesem Theaterprojekt um die Denkweise alter wie junger vietnamesischer Menschen, unter verschiedenen Umständen, an verschiedenen Orten. Ich erhoffe mir von dieser Inszenierung, dass sie uns Vietnames:innen die Kraft von zeitgenössischer Kunst vermittelt, indem wir selbstbewusst unsere Realität durch unseren Körper und unsere Stimme einem breiten Publikum nahebringen. Es ist aber auch eine Reise aus der Vergangenheit in die Gegenwart, von Vietnam nach Taiwan und von Vietnam nach Deutschland. Die Arbeit an diesem Projekt war und ist für mich wirklich eine große, bewegende Reise.