DIE SOZIALE FIKTION: Europaallee, Foto: Kristina Dreit

DIE SOZIALE FIKTION | Europaallee

Ecksalon West | Videoinstallation

Während die Brutalität an seinen Außenmauern zunimmt, wird im Inneren des Kontinents eifrig gebaut. In den Machtzentren wachsen neue Paläste aus Glas und Beton, die den Kontinent repräsentativ im Namen tragen: In Berlin entsteht auf dem ehemaligen Mauerstreifen im Herzen der Stadt die Europacity; in Zürich wächst direkt am Hauptbahnhof die Europaallee, in Frankfurt das Europaviertel.
Noch sind die tatsächlichen Stadtviertel nicht vollends zum Leben erwacht und befinden sich wie Geisterstädte in einem unwirklichen Übergangsmoment zwischen Entwurf und Realität. Lediglich die kleinen Mini-Menschen aus den Architekturmodellen zeugen davon, wie das Leben hier wohl einmal aussehen könnte: Sie überqueren saubere Plätze, sie winken sich zu, sie sitzen auf Parkbänken und warten darauf, dass echte Menschen sie irgendwann ersetzen. Sie sind geschäftig, fröhlich, intakt. Niemand ist betrunken, niemand hat zu viele Kinder, niemand muss mal wieder zum Friseur. Ein paar von ihnen fahren auf dem Fahrrad zur Arbeit, einer schiebt einen Kinderwagen und hat einen Kaffeebecher in der Hand. Hat er Angst vor Niedrigrente? Hat er einen gesicherten Aufenthaltsstatus?

Es sind neue Stadtquartiere in bester Lage, die den Kontinent mit großer Emphase und architektonischem Pomp als Zukunft präsentieren – eine Zukunft, die gleichsam symbolische Stadterneuerung, hochpreisigen Wohnraum und soziale Segregation verspricht. Wofür steht „Europa“ bei diesen Bauprojekten Pate? Spiegelt sich in ihnen ein trügerisches Idealbild des Kontinents? Wer wird hier wohnen und arbeiten; wer bleibt unsichtbar?

Die Video-Installation „Europaallee“ stellt die Modellwelten der zukünftigen Europa-Quartiere ihrer gegenwärtigen Realität entgegen, in der die Zukunft wie als Geist durch die noch unbehausten Architekturen spukt. Die Installation ist ein Arbeitsstand des Theater-Projekts„Render Ghosts“, das im Sommer 2019 zur Premiere kommen wird.

DIE SOZIALE FIKTION (Leipzig/Hildesheim/Zürich) ist ein Zusammenschluss von Theatermacher*innen, die sich während des Studiums der angewandten Kulturwissenschaften in Hildesheim kennenlernten. Die gemeinsame Arbeit der Gruppe findet oft auf Theaterbühnen statt; zunehmend findet ihre Arbeit aber auch im öffentlichen Raum, den angrenzenden Künsten und den Untiefen gesellschaftlicher Debatten statt.
Immer wieder sind es Gesten und Bilder mit weniger als 300dpi, zufällig alltäglich oder groß und unpersönlich, die den Grundstein einer neuen Arbeit bilden. Zuletzt waren es die Modelle aktueller Architektur-Großprojekte, die die Gruppe gleichermaßen faszinierten und abstießen: Überall werden neue Stadtviertel gebaut, in denen zukünftiges Leben zwischen Glas und Beton entworfen wird. In ihrem aktuellen Projekt „Render Ghosts“ widmet sich die Gruppe diesen architektonischen Zukunftsimaginationen und fragt nach den Konflikten und Ausschlüssen, die hinter den glatten Oberflächen der spiegelnden Fassaden darauf warten, erzählt zu werden.