Das Lachen zerstört die Angst | Interview mit Victoria Lomasko (RU)

Die Künstlerin Victoria Lomasko war vor einem Jahr als Artist in Residence Gast des Festivals „Karussell – zeitgenössische Perspektiven russischer Kunst“ in HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste. Im Januar 2020 ahnte kaum jemand, dass das folgende Jahr so bewegt werden würde: die Pandemie, die Proteste gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus, der Giftanschlag auf Alexej Navalny, seine Genesung in Deutschland und die sofortige Verhaftung nach seiner Rückkehr nach Russland. Johannes Kirsten, Kurator von Karussell, sprach mit Victoria Lomasko, anlässlich ihres bis zum Sommer regelmäßig erscheinenden gezeichneten Tagebuchs, über das vergangene Jahr und die aktuellen Ereignisse. Das Gespräch fand kurz nach der Gerichtsverhandlung gegen Navalny und die zahlreichen Proteste infolge seiner Verhaftung statt. Die Eindrücke der hart gegen mehrheitlich jungen Demonstrant:innen vorgehenden Staatsmacht sind noch frisch.

Ich habe mir auf Doschd-TV die Berichterstattung zu den Protesten gegen die Gerichtsverhandlung Navalnys angesehen. Warst Du an diesem Tag auch unterwegs und hast gezeichnet?

Viele Journalist:innen wollten eine Akkreditierung für die Verhandlung, aber nur wenige wurden zugelassen. Ich sah ein, dass ich keine Chance hatte und die Verhandlung nicht zeichnen konnte – so wie ich es schon bei anderen politischen Prozessen gemacht habe.

Die U-Bahnstation neben dem Gerichtsgebäude wurde geschlossen. Ich wohne nicht weit von dieser U-Bahnstation und hatte die Idee, dass ich einfach zu Fuß in Richtung des Gerichts laufe, solange ich nicht aufgehalten werde. Vor dem Gebäude wurden dann ziemlich viele Menschen festgenommen. Neben meinem Haus stand eine Reihe von diesen Autosaks (Gefängnistransporter). Man hatte das Gefühl, ein Krieg bricht aus.

Die Siloviki (von russ. Sila-Kraft, die Vertreter der Sicherheitsorgane) trugen nicht nur kugelsichere Westen, sondern eine Art Schutzkleidung in voller Montur. Durch die Helme kann man die Gesichter dahinter nicht sehen.

Ich machte halt an einer Bushaltestelle, weil es nicht weiterging und dann habe ich angefangen zu malen und statt eines Busses kommen nur diese Autosaks. Ich habe dann zugehört, was die Menschen an der Bushaltestelle so gesprochen haben. Ich dachte, ich müsste jetzt Angst haben, weil Menschen einfach so verhaftet werden und die Realität eher wie der Anfang einer Militärdiktatur aussieht, aber ich war gut gelaunt. Ich hatte das Gefühl, dass noch etwas Unvorhersehbares passieren wird, und das wird etwas Gutes sein. Ich hatte auch das Gefühl, dass Kräfte, die über den Menschen stehen, in Bewegung geraten sind. Alle haben so ein Gefühl, dass wir in diesem jetzigen Zustand nicht bis in den Tod hinein leben werden. Die Situation wird sich verschärfen, und zwar sehr schnell verschärfen, und dann wird alles explodieren oder implodieren, so ein Gefühl haben wir.

Warst Du auch schon bei den Protesten am 23. und 31. Januar dabei?

Ich war nur am 23. dabei. Ich hatte eine Idee, wie ich diese Geschichte zeichnen kann. Ich will natürlich überall zeichnen, aber ich kann es nicht so gestalten wie in meinen übrigen Reportagen. Man kann nicht zeichnen, wenn immer das Gefühl da ist, gleich einen Schlag abzubekommen. Man hat Angst, steht unter Stress. Wie soll ich in diesem Zustand meine Geschichte erzählen? Am 23. war nicht klar, wie sich alles entwickelt und man konnte spontan dazu stoßen. Aber auf den 31. Januar hat sich die Polizei vorbereitet, als ob uns eine feindliche Armee überfallen würde. Es wurde alles abgeriegelt. In sozialen Netzwerken gab es viele Posts von jungen Leuten, die trotzdem sagten, wir nehmen den Kampf auf, werden gegen den Staat vorgehen und uns durch nichts stoppen lassen. Aber ich als Künstlerin und als Frau glaube nicht, dass ich so etwas tun würde.

Vor einem Jahr trafen wir uns auf dem Festival „Karussell“ in HELLERAU. Die Künstler:innen kamen aus den verschiedensten Teilen Russlands. Man kam zusammen, redete, tanzte ohne Masken und niemand konnte sich vorstellen, wie sich die Situation weiter entwickeln würde.

Als ich die ersten Bilder aus China gesehen habe, die Leute in diesen Schutzanzügen, da dachte ich sofort, diese Welle wird auch uns erreichen. Jetzt bricht eine andere Epoche an. Ich habe dann immer die Nachrichten verfolgt und es war für mich nur eine Frage der Zeit, bis es bei uns genauso aussieht. Deswegen war es für mich so wichtig, in HELLERAU und danach auch noch in Wien zu sein und das Leben dort komplett zu genießen. Ich fühlte, dass bald alles anders laufen würde. Als ich aus Wien nach Moskau zurückkam, begann die Quarantäne.

War das für dich eine produktive Zeit oder eher eine der Apathie?

Es war tatsächlich eine produktive Zeit für mich. Ich gehöre zu den Menschen, die es hassen, zuhause zu sitzen. Ich war früher nicht in der Lage, nur einen Tag zuhause zu verbringen. Das war für mich äußerst kompliziert. Und dann wollte ich schon seit langem nicht mehr in Russland sein, aus unterschiedlichen Gründen. Ich möchte nicht die ganze Zeit dort sein, wo es gefährlich ist. Das ist zerstörerisch für meine Psyche. Ich möchte mich professionell weiterentwickeln und habe dazu in Russland überhaupt keine Möglichkeiten. Und dann kommt die Pandemie und alle müssen in Quarantäne und ich muss zuhause sitzen und in Russland bleiben, eingesperrt sozusagen. Ich habe mich mit verschiedenen Dingen beschäftigt, die meine Kunst weiterbringen können. Ich habe angefangen, meine Zeichnungen durchzusehen und jede Zeichnung präzisiert, bestimmte Striche hinzugefügt. Und dann habe ich herausgefunden, dass die Technik mittlerweile so weit ist, dass es Leuchtpads gibt mit allen Anwendungen, die ich für meine Arbeit brauche. Ich konnte mir das leisten und habe weitere Gegenstände, die für meine Arbeit wichtig sind, gekauft. Ich habe zum Beispiel eine ganz neue Papiermarke entdeckt, mit der sich dann auch der Prozess des Zeichnens verwandelte.

Wie hast Du die Präsidentschaftswahlen in Belarus und die sich anschließenden Proteste wahrgenommen?

Für mich ist das Teil eines großen Themas. Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, Material für ein Buch über den postsowjetischen Raum zu sammeln. Während der Pandemie, als die Revolution in Minsk begann, änderte ich meine Einstellung zu diesem Buch. Vor der Pandemie war das Buch eher von Nostalgie gegenüber der Sowjetunion getragen. Ich habe hier und dort erhalten gebliebene Fragmente des sowjetischen Imperiums gesammelt. Aber während der Pandemie hatte ich es auf einmal satt, in diesem Land mit seinem Regime zu sein und ich habe so gut verstanden, was in Belarus passierte. Auf einmal wusste ich, welche Geschichte ich erzählen möchte, die Geschichte von einer kompletten Befreiung von der Sowjetunion, eine endgültige Verabschiedung der Sowjetunion! Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie dieser Generationenwechsel stattfindet, dieser Wechsel von Ideen und ich bin zur belarussischen Botschaft in Moskau gefahren. Dort waren vorwiegend sehr junge Menschen auf einer Solidaritätsaktion für die belarussischen Proteste unterwegs. Bei der ganzen Geschichte mit Belarus und auch mit Navalny geht es nicht darum, dass Putin ein Dieb ist und er einen Palast hat und Ljoscha Navalny ein Prachtkerl ist, nein – es geht darum, dass ein Generationswechsel stattfindet.

Es gibt die sowjetische Generation, es gibt die postsowjetische Generation und es gibt eine neue Generation, die überhaupt nichts mehr von der Sowjetunion weiß und davon auch überhaupt nichts mehr wissen will. Sie möchten ein anderes Leben leben und mit dem sowjetischen Erbe überhaupt nichts mehr zu tun haben. Diejenigen, die noch aus der Sowjetunion kommen, wehren sich mit allen Kräften dagegen. Als ich am Tag der Verhandlung gegen Navalny an dieser Bushaltestelle zeichnete, gab es dort ein paar ältere Damen, Omas, die nicht von dort wegkamen, weil keine Busse fuhren. Eine dieser Omas fing plötzlich an zu schimpfen: „Einen Bekloppten führt man dem Gericht zu und wir müssen leiden.“ Ich habe sie dann weiter gefragt, wer Schuld daran sei, dass keine Busse fahren, diejenigen, die Navalny unterstützen oder diese Kosmonauten (so werden von den Demonstranten die behelmten und mit Schutzpolstern bekleideten Sicherheitskräfte genannt), die hier die Stadt einrennen. Worauf sie antwortete, dass diese Jugend versuche, alles zu zerstören. „Sie wollen nicht zurück in die Sowjetunion“, sage ich. „Warum gefällt euch die Sowjetunion nicht? Ja wir haben schwer gearbeitet, ja wir hatten ein schweres Leben, aber wir haben im zweiten Weltkrieg gesiegt.“ Weiter wird nicht argumentiert. So wie diese Oma gesprochen hat, so spricht jede zweite Oma, jeder zweite Opa. Ja unser Leben war unglaublich schwer. Ja, wir haben nicht gelebt, wir haben gelitten, wir haben überlebt, aber wir haben doch gesiegt im 2. Weltkrieg, deswegen müsst ihr genauso leiden wie wir es unser Leben lang gemacht haben.

Du bist nicht nur zur belarussischen Botschaft in Moskau gegangen, sondern bist dann auch nach Minsk gefahren, um mit eigenen Augen zu sehen, was passiert. Kannst Du noch von dieser Reise berichten?

Ich wollte unbedingt nach Minsk fahren. Als ich Menschen gefunden hatte, die mir ein Zimmer in Minsk zur Verfügung gestellt haben, bin ich sofort aufgebrochen. Als ich mich in den Minibus setzte, sah ich, dass ich der einzige Fahrgast war. Der Fahrer sagte, dass niemand mehr kommen würde, denn die Grenzen seien wegen der Pandemie geschlossen. Niemand werde reingelassen und weil er unsicher sei, ob meine Arbeitseinladung wirklich ausreiche, solle ich mich an der Grenze lieber in eine große Reisetasche setzen. Ich war Tag und Nacht unterwegs, um in Minsk anzukommen. Dort wurde die Künstlerin Nadja Sayapin verhaftet, eine andere Aktivistin verurteilt und ich war bei der Gerichtsverhandlung dabei. Am nächsten Tag bin ich zur Kundgebung aufgebrochen, wo ich zum ersten Mal gesehen habe, wie Frauen zusammengeschlagen wurden. Das war in der Mascherowastraße, wenn ich mich nicht irre. Das war brutal. Das sah genauso aus wie dann später hier in Moskau am 31. Januar. Menschen wurden einfach auf den Boden geschmissen. Sie wurden über den Boden geschliffen. Einen Teil meiner Zeit habe ich damit zugebracht, mir die Stadt anzuschauen. Ich wollte sehen, wie sich die Stadt verändert hat und welche Zeichen der Partisan:innen (gemeint sind die zahlreichen Graffities und weiß-rot-weißen Fahnen und Bänder, die Zeichen der Opposition) noch erhalten geblieben sind. Ich wollte sehen, wie das gewöhnliche Leben zu einem ungewöhnlichen geworden ist und wartete auf diese Großdemonstration, die immer sonntags stattfand. Eigentlich passiert alles spontan. Wo sich die Menschen treffen, wohin sie aufbrechen – alles passiert spontan. Die Aktivistin, die mich beherbergt hat, musste an diesem Tag woanders hin. Ihre Schwester, die nichts mit den Protesten und Kundgebungen zu tun hatte und die sehr vorsichtig und ängstlich war, wollte mich dennoch begleiten. Stell dir vor, so eine ängstliche Person, die tatsächlich beim Anblick eines Bullen ohnmächtig wird, ist bereit, dich zu begleiten. Das war unglaublich. Sie wollte sofort wegrennen. Sie hatte Angst, aber trotzdem begleitete sie mich. Sie hat sozusagen ihre Pflicht getan. Wir hatten Angst. Nichts war klar. Wenn ich festgenommen werde, werde ich dann zurückgeschickt, mit einem Einreiseverbot belegt, oder werde ich einem Gerichtsverfahren zugeführt.

Wann war das genau?

Das war im September 2020.

Ich habe bei Instagram gesehen, dass Du auch am „Platz des Wandels“ warst (ein von den Demonstranten so genannter Platz, ein Hof zwischen Wohnhäusern, wo auf ein Trafohäuschen ein Graffiti gesprüht wurde, dass zu einem Symbolbild des Protests geworden ist).

Ja, da bin ich gewesen. Ich war auch bei einer Gerichtsverhandlung gegen die Organisator:innen der Streiks. Ich habe viele Zeichnungen gemacht und eine lokale Zeitung hat Nachrichten publiziert und sie mit meinen Zeichnungen versehen. Im September hatten wir eine ganz andere Welt. Große Demonstrationen. Jetzt wissen wir überhaupt nicht,welche Zeit anbrechen wird.

Was denkst Du über die aktuelle Situation in Russland? Welche Zukunft siehst du für das Land?

Wir sind alle keine Hellseher:innen. Wir können lediglich unsere Gefühle und unsere Wahrnehmungen artikulieren. Ich glaube aber, dass doch bestimmte Veränderungen vonstatten gehen werden – nicht nur von unten, nicht nur, dass Menschen auf die Straße gehen. Es wird auch Veränderungen von oben geben. Wenn dort oben wirklich alles zum Besten und ruhig wäre, dann hätten sie nicht so reagiert, wie sie reagiert haben, dann bräuchten sie diese Gewalt und Aggression bei weitem nicht. Aber alles sieht so aus, dass es einen Tyrannen gibt und um ihn herum den engeren Kreis und alle anderen sind Feind:innen. Ich denke, dass dort oben auch ein Spiel gespielt wird. Viele wollen sich nicht an diese zentrale Figur halten. Wieso? Für viele ist es nicht von Vorteil. Alles läuft darauf hinaus, dass das Land isoliert wird und wer braucht das? Ich denke, dass es schwierig ist, alle in Schach zu halten, wenn sie es gar nicht wollen. Das funktioniert vielleicht eine gewisse Zeit, aber das kann man nicht dauerhaft machen. Jetzt ist Putin lächerlich geworden. Man lacht über ihn. Vor einem Jahr war er noch keine Lachfigur, ein furchterregender Politiker, ein neuer Hitler, ein neuer Stalin, aber jetzt wird er mit Iwan dem Großen verglichen, so ein wahnsinniger alter Kerl mit seinem verschimmelten Palast, der nicht einmal einen Giftanschlag verüben kann. Ich bin mir sicher, dass dieses Lachen über ihn die Angst zerstört, die in den Menschen sitzt.

Weitere Eindrücke von Victoria Lomasko finden Sie in Form von Zeichnungen und Geschichten auf Facebook und Instagram.