Come Together, #2-2022
Mit „Come Together“ bezieht sich HELLERAU auf einen künstlerischen Forschungsprozess, der neue Wege der künstlerischen Zusammenarbeit, Vernetzung und Begegnung mit dem Publikum erprobt. Im Mittelpunkt steht die gemeinsame Suche nach Werten unseres Zusammenlebens und der Dialog zu Fragen von Gemeinschaft, Fürsorge und Empathie. Wie können Kunst und Kultur zum Wohlbefinden, zu seelischer und körperlicher Gesundheit beitragen? Wie können Fähigkeiten zur Empathie entwickelt und Resilienz gestärkt werden?
Im Rahmen von „Come Together“ waren bereits im Frühjahr 2022 die Choreografinnen Dada Masilo und Lia Rodrigues mit ihren Kompanien in HELLERAU zu Gast. Im September 2022 präsentiert HELLERAU beim Festival „Come Together“ unterschiedliche internationale Positionen von zeitgenössischen Choreografinnen zu den Themen Gemeinschaft und Empathie. Die gefeierte schottische Künstlerin Claire Cunningham lädt gemeinsam mit ihrem US-amerikanischen Kollegen Jess Curtis zu einem bewegenden Tanz-Dialog mit dem Publikum, Yasmeen Godder aus Israel zeigt drei miteinander verwobene Stücke, die Empathie in verschiedenen Ausprägungen ergründen. Die ungarische Choreografin Boglarka Börcsök beschäftigt sich in „Figuring Age“ mit den körperlichen Auswirkungen des Alterns, während Gizem Aksu aus Istanbul ihre Tänzerinnen das gesamte „Archive of Feelings: Instanbul“ durchleben lässt.
Ein Wiedersehen gibt es mit Reut Shemesh, die eine hintergründige Parabel über die Abgründe menschlicher Gemeinschaften zeigt und mit Lotte Mueller aus Leipzig, die ihr fulminantes zirzensisches Stück „Im/Mobility“ präsentiert. In den Kulturgarten und die Räume des Festspielhauses entführen Magdalena Weniger und Agata Siniarska mit ihren performativen Aktionen. Daneben ist eine filmische Arbeit von Gizem Aksu über Rukeli Trollmann und die Roma-Community in Istanbul zu sehen. Außerdem laden wir zu mehreren Gesprächen rund um die Themen Gemeinschaft, Empathie und Fürsorge ein.
Wie könnte eine Choreografie der Fürsorge aussehen?
Von Claire Cunningham
Als behinderter Mensch fällt es mir nicht leicht, mich mit dem Wort Pflege anzufreunden, denn es hat eine Menge Konnotationen, eine Menge sehr problematisches Gepäck. Allerdings habe ich in den vergangenen zehn Jahren als Performancekünstlerin über meinen Wunsch, behinderte, gehörlose, sehbehinderte, chronisch kranke und neurodiverse Menschen in meinen Shows wahrhaft willkommen zu heißen, auch begonnen, der Welt meiner Arbeit genauso viel Aufmerksamkeit zu schenken wie dem Ablegen meiner eigenen Krücke.
Ich teile hier einige der vielen Fragen, an denen ich mit Mitstreiter:innen gearbeitet und über die ich mit Kolleg:innen nachgedacht habe, unter anderem mit dem Künstler und Dramaturgen Luke Pell, dem Choreografen und Regisseur Jess Curtis und der Wissenschaftlerin Julia Watts Belser. Meine Praxis und die Performances, die wir machen, sind aus dieser Befragung entstanden und wurden geprägt von Crip-, Queer- und Ally- Theorien. Wir haben uns die folgenden Eckpunkte gesetzt, die für uns eine Choreografie der Fürsorge ausmachen würden:
Design als Fürsorge
Wie könnte die Wahl des Ortes, an dem eine Performance stattfindet oder ihre Form, ein Akt der Fürsorge sein? Wie könnten gesellschaftspolitische Implikationen und Traumata, die mit Kleidung und Körperbild verbunden sind, in Bezug auf das Kostüm ein Akt der Fürsorge sein? Wie können die Verteilung des Publikums, die Wahl der Sitzplätze und die Möglichkeit des Verlassen seins einer Veranstaltung ein Akt der Fürsorge sein?
Zeit als Fürsorge
Wie kann die Planung eines Kunstprojektes ein Akt der Für-sorge sein, indem die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt werden? Wie kann eine Choreografie ein Akt der Fürsorge sein, indem sie berücksichtigt, wie sich Körper verändern? Wie können wir die Zeit, die unser Publikum investiert, anerkennen und respektieren?
Kommunikation als Fürsorge
Wie können wir unterschiedliche Arten der Kommunikation für unterschiedliche Menschen als einen Akt der Fürsorge anwenden (im Probenprozess und in der Performance)? Wie können wir respektieren, dass der Austausch von Informationen ein Akt der Fürsorge ist, und wie können wir seine Beziehung zur Selbstermächtigung anerkennen? Wie können wir einen Raum für den Austausch von Bedürfnissen und Anliegen auf eine Art und Weise schaffen, der kreative Prozesse fördert, aber die Erfahrungen der Menschen nicht vereinnahmt?
Leistung als Pflege
Inwiefern ist der Akt des Aufführens selbst ein Akt der Fürsorge? Wie können wir echte Verantwortung für die Sicherheit unseres Publikums übernehmen, bevor, während und nachdem sie unsere Arbeit erleben? Wie können wir die potenziell traumatische Geschichte des Publikums vorsichtig(er) wahrnehmen, Machtdynamiken erkennen und dennoch gemeinsam Risiken eingehen?
Die Komplexität der Fürsorge
Was geschieht, wenn die Bedürfnisse und Wünsche der/des einen die Bedürfnisse der/des anderen beeinträchtigen? Wenn ein Bedürfnis nicht erfüllt werden kann, wie können wir diesen Mangel und unser Bedürfnis, ihn zu beseitigen, thematisieren, statt ihn einfach zu verschweigen? Können wir uns auch zu sehr sorgen? Übersetzung: André Schallenberg, die englischsprachige Originalfassung erschien 2022 in der Veröffentlichung „Gegenwart choreografieren“, herausgegeben von tanzhaus nrw und Alexander Verlag Berlin.
Claire Cunningham ist Performerin und Choreografin multidisziplinärer Performances und lebt in Glasgow, Schottland. 2017 bis 2019 war sie Factory Artist am tanzhaus nrw Düsseldorf. Außerdem ist sie Affiliate Artist bei The Place, London. Sie gilt als eine der international renommiertesten behinderten Künstlerinnen. Ihre Arbeiten basieren oft auf dem Studium und dem Gebrauch/Missbrauch ihrer Krücken und der Erkundung des Potenzials ihrer eigenen spezifischen Körperlichkeit. Daraus entwickelt sie eine eigene Tanztechnik, die traditionelle Tanzformen überwindet (die für nicht behinderte Körper entwickelt wurden). 2018 war sie zusammen mit Jess Curtis zur Tanzplattform Deutschland eingeladen. 2019 erhielt sie für das Ensemblestück „Thank You Very Much“ den CATS-Preis. Im Jahr 2021 wurde Claire Cunningham für ihre herausragende künstlerische Entwicklung im Bereich Tanz mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet.
Practicing Empathy
Von Yasmeen Godder
[…] In vielerlei Hinsicht ist Tanz per se empathisch: Das Publikum kann sich in den Körpern der Performer:innen wiederfinden, sich mit ihnen identifizieren, Bezug zu ihnen aufnehmen und sich emotional mit ihnen verbinden. Untersuchungen zu Spiegelneuronen und ihrer Rolle beim Betrachten stützen diesen Blick auf Tanz. Auch sie operieren mit dem Begriff der Empathie. Daher habe ich in „Practicing Empathy“ versucht, das, was bereits in verschiedenen Tanzpraktiken, in Proben, in der Performance und in experimentelleren Formaten vorhanden war, zu nutzen und herauszuarbeiten. Ich wollte herausfinden, wie Empathie auch außerhalb des Theaters Resonanz finden kann.
Zu Beginn meiner Recherche habe ich den Blick nach innen gerichtet: Wie können wir uns als Tanzcompany bei unseren täglichen Proben darauf fokussieren, empathisch zu agieren? Und wie kann das die Entstehung eines Stückes beeinflussen? Wir haben Rituale entwickelt, mit denen sich die Performer:innen körperlich und emotional nah kommen, und mit denen sie sich gegenseitig ihre Bedürfnisse und Verletzlichkeit offenbaren. Das hat zum ersten Stück geführt, „Practicing Empathy #1“, das im November 2019 Premiere am Susanne Dellal Center in Tel Aviv hatte. Es setzt sich aus repetitiven, körperlichen und stimmlichen Ritualen zusammen, durch die die Gefühlswelt der Tänzer:innen und ihre Fähigkeit, diese komplexen Emotionen gemeinsam zu tragen, freigelegt werden. Das Publikum konnte Zeuge dieses sehr intimen Vorgangs innerhalb der Gruppe werden: Über die Partitur der Stimmen, der Töne und Rhythmen, die sich ständig veränderten, vermittelte sich eine körperliche Erfahrung.
Nachdem wir uns dieser nach innen gerichteten Recherche unterzogen hatten, war klar, dass diese Praxis nun mit Menschen von außerhalb der Company hinterfragt und weiterentwickelt werden musste. Mit Menschen aus verschiedenen Kulturen und Kontexten, deren Empathie-Empfinden wir hören und fühlen wollten. Wir waren daran interessiert, die Bestandteile von „Practicing Empathy #1“ mit dem Publikum zu teilen, allerdings ohne sie wirklich zu erklären. Auf der Grundlage dieser Begegnungen entwickelten wir eine zweite, partizipative Praxis, die als interaktive Aufwärmübung und vertrauensbildende Maßnahme eingesetzt werden konnte.
Als erstes hat die Company von Januar bis März 2020 einen langen Workshop abgehalten, zusammen mit Müttern aus der arabischen Community in Jaffa. Dadurch, dass wir unsere Erkenntnisse mit diesen wunderbaren Frauen geteilt haben, die ich durch die Schule meiner Tochter kannte, war es möglich, persönliche Geschichten auf eine sich gegenseitig bestärkende Weise auszutauschen und so gemeinsame Tänze der Empathie zu entwickeln.
Danach haben Monika Gillette, die Dramaturgin Anais Rödel und ich damit begonnen, eine Residenzwoche am tanzhaus nrw zu konzipieren, in der Absicht, verschiedene, mit dem Haus verbundene Gemeinschaften einzubeziehen und sie zur Teilnahme an einem Workshop mit der Company einzuladen. Jeden Tag haben wir uns mit einer anderen Gruppe getroffen: mit Migrant:innen, mit Menschen, die mit Parkinson leben, mit einer Jugendgruppe, mit Senior:innen, und auch mit professionellen Tänzer:innen. Jedes dieser Treffen haben wir speziell auf die jeweilige Gruppe zugeschnitten und die Gelegenheit genutzt, unsere partizipative Praxis vorzustellen, die sich mit jedem Tag weiterentwickelt und verändert hat. Bei all diesen Treffen haben wir Erfahrungen von großer Offenheit, von Freude, Gesang, Tanz und auch Tränen geteilt, und dementsprechend stark waren die zwischenmenschlichen Bindungen, die sich daraus entwickelt haben.
Die Treffen boten außerdem die Möglichkeit, sich über Themen wie die deutsch-jüdischen Beziehungen, Krankheiten, Vertrauen, Altern sowie über die Auswirkungen und Existenz unterschiedlicher kultureller Tanzhintergründe auszutauschen. „Practicing Empathie #2“ kam nie zur Premiere. Viele Impulse des Stückes hätten Berührung, Atmen und physische Nähe zwischen Fremden in einer Weise erfordert, die durch die Verbreitung von COVID-19 untragbar wurde. Nach dem Ende des ersten Lockdowns in Israel im Frühjahr 2020, als der Company endlich wieder Treffen erlaubt waren, beschlossen wir, aus dem angesammelten Recherchematerial eine andere Fassung des Werkes für das Festival Hatira Le‘Maga (Streben nach Berufung) am Habeit Theater in Jaffa zu entwickeln. Dieses Festival gab Werke für je zwei bis fünf Zuschauer:innen in Auftrag.
„Practicing Empathy #2by2“ hat auf den geforderten Abstand von zwei Metern im Sinne des Social Distancing so reagiert, dass eine Einladung an ein Publikum von zwei Personen erging, gemeinsam mit zwei Performer:innen in einer nonverbalen Reise gegenseitiger Bewegung, Interaktion und Vertrauen aufzubauen. Das zwei mal zwei Meter große Quadrat, in dem die Choreografie stattfand, war auf dem Boden markiert. So haben wir ein Gefühl der Sicherheit geschaffen, das es ermöglicht, Nähe und Empathie zu praktizieren, insbesondere nach dem Trauma der Pandemie, die so stark in unser aller Leben eingegriffen hat. Obwohl sich diese Arbeit stark von dem ursprünglichen Entwurf von „Practicing Empathy #2“ unterschied, fußten Erkenntnis und Herangehensweise sehr wohl auf dem Wis-sen und der Erfahrung, die wir während der Residenzwoche am tanzhaus nrw gesammelt hatten.
Ursprünglich war vorgesehen, dass „Practicing Empathy #3“ als gemeinsame Arbeit meiner Company mit verschiedenen Communities entsteht und aufgeführt wird, während wir mit den anderen beiden Arbeiten auf Tour gehen. Nach so vielen Jahren des Reisens wollte ich gern den Austausch, den wir als Company mit Menschen vor Ort hatten, über die Aufführungen hinaus ausweiten und noch mehr über Empathie lernen.
Im Kern sollte das Projekt „Practicing Empathy“ den Ansatz des gegenseitigen Austauschs verfolgen, und zwar in unterschiedlichen Formen. Die ursprüngliche Idee von „Practicing Empathy #3“ war ein einwöchiger Workshop und Proben mit Leuten vor Ort, einschließlich einer informellen Aufführung als Reihe mit den beiden anderen Arbeiten. Jedoch wurde mir klar schnell klar, dass eine Tour unter Pandemie-Bedingungen nicht umsetzbar ist, also begann ich, allein im Studio zu arbeiten.
Bis heute inspiriert mich die Komplexität des Themas Empathie und die Tatsache, dass sie nicht nur auf eine Weise gezeigt werden kann, sondern sich künstlerisch, zwischen-menschlich oder gesellschaftlich äußern kann. In dem Moment, in dem ich mich dem Tanz als Kunstform verschreibe, verpflichte ich mich auch dazu, mit anderen Menschen zusammenzutreffen und mich auf sie einzulassen. Ich möchte die kostbare gemeinsame Zeit einer Performance dafür nutzen, Menschen behutsam in Richtung Offenheit, Neugierde und Sensibilität zu bewegen, auch wenn dies manchmal Verwirrung hervorruft und Herausforderungen mit sich bringt. Dies kann sich auf persönlicher Ebene auswirken, aber auch in Fragen von Hierarchien, Konflikten und Vorurteilen. Ich hoffe, auch weiterhin Verbindungen zwischen diesen unter-schiedlichen Formen der Empathie zu finden und sie als eine Art Sensor nutzen zu können, der mich auf meinem eigenen Weg navigiert.
Gekürzte Version, die vollständige Textversion erschien 2022 in der Veröffentlichung „Gegenwart choreografieren“, herausgegeben von tanzhaus nrw und Alexander Verlag Berlin.
Yasmeen Godder wurde in Jerusalem geboren und wuchs in New York City auf, wo sie auch Tanz studierte. Seit 1999 lebt und arbeitet sie wieder in Israel. Als Choreografin tourt sie mit ihrer Company weltweit. In ihrem Studio in Jaffa, das Recherche- und Produktionsort ist, unterrichtet sie und veranstaltet zahlreiche Projekte, u.a. mit der arabisch-jüdischen Community. In den letzten Jahren entwickelte sie zudem mit der Dramaturgin und Tänzerin Monica Gilette eine intensive Arbeit gemeinsam mit Menschen mit Parkinson-Krankheit, die einen großen Einfluss auf ihre künstlerische Praxis hatte. 2001 gewann Godder den renommierten Bessie Award, gefolgt von einer Vielzahl anderer internationaler Auszeichnungen. 2018 erhielt sie die Valeska-Geert-Gastprofessur am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin.
16. – 24.09.2022
Come Together
Festival
16./17.09.2022
The Way You Look (at me) Tonight
Claire Cunningham & Jess Curtis
16./17./18.09.2022
Figuring Age
Boglárka Börcsök
17./18.09.2022
GOLA 4th Movement
Reut Shemesh
20./21.09.2022
Practicing Empathy #1/#2by2/#3
Yasmeen Godder
22./24.09.2022
Ein kollektiver Zauberspruch für die Erde
Agata Siniarska
22.–24.09.2022
Compost Composing
KOMA&Ko/Magdalena Weniger
23./24.09.2022
Im/Mobility
Lotte Mueller
23./24.09.2022
Archive of Feelings: Instanbul
Gizem Aksu
+ Workshops, Gespräche, Filmscreenings
Außerdem sind drei weitere Choreograf:innen als Residenzkünstler:innen zu Gast in HELLERAU: Wen Hui, Pawel Sakowicz sowie Katia Manjate und Amilton Neves.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grund-lage des vom Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.