27.07.2022

HYBRID Biennale 2022, #2 – 2022

27.07.2022

Abschied und Beginn, #2 – 2022

27.07.2022

Nordost Südwest, #2 – 2022

Nordost Südwest

„Nordost Südwest“ ist ein transnationales Projekt zeitgenössischer Kunst mit Ausstellungen, Performances und Kunstprojekten, das vom 23. September bis zum 6. November 2022 als Kooperation zwischen dem Kunsthaus Dresden und HELLERAU in der robotron-Kantine, in und um das Festspielhaus Hellerau und im Stadtraum zu sehen sein wird.

„Nordost Südwest“ ist dem ältesten und zugleich immer noch aktuellen, über Existenzen und Lebensperspektiven entscheidenden Orientierungsverfahren der Menschheit gewidmet, in dem es das eine nicht ohne das andere gibt: Während der „alte Osten“ und der „neue Westen“ sich je nach Perspektive und Abstand zu den Ereignissen mythisch oder diabolisch verklären, werden mit den Begriffen des „globalen Südens“ und des „globalen Nordens“ Beziehungs- und Konfliktlinien angesprochen, in denen ein globales koloniales Erbe fortlebt. „Nordost Südwest“ greift aktuelle Auseinandersetzungen mit diesem globalen, politischen und kulturellen Koordinatensystem auf und fragt, wie Akteur:innen und Gruppen innerhalb und jenseits etablierter Koordinaten und nationalen Strukturen agieren können?

Vom 23. September bis zum 6. November 2022 nimmt sich „Nordost Südwest“ mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen  aus  Bildender  wie  Darstellender  Kunst  dieser  Fragestellung an. Das Projekt entsteht in einer kuratorischen Zusammenarbeit von Kunsthaus Dresden –   Städtische Galerie für Gegenwartskunst, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, dem Beirut Art Center, dem KRAK Center for  Contemporary  Culture  in  Bihać,  dem  Performing  Arts  Institute in Warschau sowie weiteren Partner:innen in Beirut und  der  freien  Szene  in  Dresden.  Was  Beirut,  Bihać,  War-schau  und  Dresden  dabei  verbindet,  ist  die  Auseinandersetzung  mit  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  von  Krieg  und  Gewalt,  mit  sozialen  und  politischen  Spannungen  und  Migration als prägende Erfahrung.

In HELLERAU, in der robotron-Kantine und im öffentlichen städtischen Raum sind Arbeiten von internationalen Künstler:innen zu sehen, die von den kuratorischen Partner:innen  aus  Beirut,  Bihać  und  Warschau  ausgewählt  wurden.  Darüber  hinaus  zeigen  vier  weitere  Ausstellungsorte  der  freien Kunstszene in Dresden ausgewählte Werke aus der Schenkung  Sammlung  Hoffmann. So  entspinnt  sich  durch  die kuratorischen Ansätze und künstlerischen Zugänge ein sichtbares Netz(-werk) des Austausches und des gemein-samen Handelns zwischen den unterschiedlichen Orten, Institutionen und Künsten.

Im  Rahmen  von  „Nordost  Südwest“  widmet  sich  HELLERAU  vom  30.09.  bis  01.10.2022  den  performativen  Aspekten dieses Ausstellungsprojekts. Das Motiv des (Zu-)Hörens wie auch der Machtverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie bildet den Ausgangspunkt von vier künstlerischen Positionen, die von dem polnischen Kurator:innen-Duo Marta Keil und Grzegorz Reske vorgeschlagen wurden.

Politics of Listening

Marta Keil und Grzegorz Reske (ResKeil), Performing Arts Institute, Warszawa, Kurator:innen (aus dem Englischen übersetzt)

Welche Form hat der Klang, der aus der Peripherien unserer Aufmerksamkeit stammt? Das Zentrum ist in der Regel gut hörbar, da es sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Zuhörer:innen stellt, egal ob sie es mögen oder nicht. Es spricht laut und verflacht dabei oft den Klang mit seinem eigenen, dominierenden Ton. Die Landschaft dessen, was wir hören, ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit verteilen. Und dies ist eine politische Entscheidung. Die Bedingungen für diese Entscheidung werden durch den Kontext geprägt, in dem wir lernen zuzuhören. Die Melodie der Stimme der Nachbar:in, das Geräusch der Straßen, das Fließen der Flüsse, die Art und Weise, wie ein:e Freund:in die Tür schließt, der Zeitpunkt im Jahr, an dem die Vögel und ihre morgendlichen Gespräche wiederkehren, die Reihenfolge, in der die Stimmen beim Familienessen erhoben werden.

Zuhören kann eine anspruchsvolle Aufgabe sein. Es erfordert eine echte Neugier für das, was wir noch nicht wissen und womit wir vielleicht nicht sicher umgehen können. Sich auf den Rhythmus desjenigen einzustellen, dem wir zuhören, bedeutet, diesem so viel Raum zu geben, wie er/sie braucht – und manchmal auch, unseren eigenen aufzugeben. Es ist also eine Übung zur Umverteilung unserer eigenen Ressourcen: Aufmerksamkeit, Zeit, Geduld, Neugier. Was braucht es, um sich im Zuhören zu üben? Wie viel Zeit braucht es, um sich auf neue Klänge und Stimmen einzustellen? Und wie ist mit dem Unbehagen umzugehen, das diese mit sich bringen könnten?

Wir sind beide Teil des Performing Arts Institute, der kollektiven Initiative mit Sitz in Warschau, Polen, dem postkommunistischen Land, das seit 1989 sein Bestes gibt, dem Westen mit aller Macht zu folgen. Im Moment ist unsere Perspektive jedoch etwas erschüttert, da wir beide kürzlich in die Niederlande gezogen sind. Entwurzelt aus dem Boden, der unsere Praxis nährte und formte, lernen wir immer noch, wie wir uns in einem neuen Kontext verwurzeln können. Wir müssen irgendwie neu zuhören lernen.

Für uns als Kurator:innen ist das Projekt „Nordost Südwest“ ein vielschichtiges Gespräch mit Stimmen aus den Regionen, die an der Peripherie oder Halbperipherie der westlichen, zentralistischen Perspektive liegen. Das für HELLERAU entwickelte performative Programm versammelt Künstler:innen aus Polen und Argentinien, die in verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Niederlande, Polen) ansässig sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Machtverhältnisse zwischen den Zentren und den Peripherien problematisieren – und dies nicht unweigerlich nur in geopolitischer Hinsicht, sondern ebenso auf der Ebene der sozialen und nicht-menschlichen Beziehungen. So thematisiert Wojtek Ziemilski den Diskurs des Theaters, seine Struktur und Instrumente und fragt danach, wem diese eigentlich gehören. Zorka Wollny schafft eine kraftvolle Klanglandschaft feministischer Stimmen, die den öffentlichen Raum erobern, Iwona Nowacka und Janek Turkowski hören der Nachbarschaft von HELLERAU aufmerksam zu und schaffen damit die Voraussetzungen für faszinierende Gespräche, die sonst kaum zustande kämen, und Nahuel Cano lädt uns auf eine Reise ein, die den Stimmen des Flusses folgt und seinen vergangenen und zukünftigen Strömungen und den menschlichen und nichtmenschlichen Bewohnern seines Territoriums lauscht. 

Projekte in HELLERAU

 Wojtek Ziemilski

Ausgehend von einer persönlichen Familiengeschichte, widmet sich der polnische Regisseur und bildenden Künstler Wojtek Ziemilski in seinem jüngsten Bühnenstück dem Thema Vermächtnis und  Erbe.  Mit  Anna  Dzieduszycka,  einer entfernten Cousine, renommierten Schauspielerin und Protagonistin des Stücks, sucht Ziemilski das Gespräch über die gemeinsame Vergangenheit und den Umstand des Erbens, von materiellen Gegenständen, körperlichen Merkmalen  und  kulturellen  Werten.  „Ode  to  Joy“,  das  im  April  2022  im  STUDIO teatrgaleria in Warschau Premiere feierte, ist ein Stück darüber, was uns familiär und menschlich verbindet, was wir erben, wovon wir uns befreien und was stets Teil von uns bleibt. Damit hinterfragt Ziemilski ebenso den Diskurs  des  Theaters,  seine  Strukturen  und die Werkzeuge des Theaters und wem diese eigentlich gehören.

Iwona  Nowacka & Janek  Turkowski

Die  polnische  Übersetzerin,  Autorin  und Kuratorin Iwona Nowacka und der polnische Regisseur Janek Turkowski verbindet  seit  2013  eine  kontinuierliche Zusammenarbeit, die sich insbesondere durch Langzeit-Filmprojekte kennzeichnet.  Sie  entstehen  zumeist  ortsgebunden  und  ihre  Erarbeitung  beruht  auf  Begegnungen  mit  Bewohner:innen, Archivdokumenten und ausdauernden  filmischen  Erkundungen.  Dabei  ergeben  sich  die  zu  erzählenden  Geschichten  durch  das  gefundene Material, dessen unterschiedliche Fragmente  sich  im  Ergebnis  zu  einer  Video-Storytelling-Performance  zusammenfügt.  Als  Ausgangspunkt  für  ihre  Arbeit  in    HELLERAU  werden  sich  die beiden Künstler:innen mit den land-wirtschaftlichen Aspekten der unmittelbaren Umgebung des Festspielhauses  beschäftigen  und  untersuchen,  welche postsowjetischen Spuren sich im Boden finden lassen.

Nahuel Cano

In „Ways to Listen to a River: Movement 1“ erkundet der argentinische Schauspieler und Performer Nahuel Cano die Umgebung von HELLERAU. Als Teil seiner ausgedehnten Forschung zur Kartierung von Klanglandschaften folgt er dabei  den  Stimmen  des  Wassers.  Die  entstehende klangliche Landkarte, die weit über die unmittelbaren Ufer der Flüsse  hinausragen  kann,  versucht  dabei  nicht  nur  die  historischen,  politischen  und  ökologischen,  sondern  ebenso die inneren, persönlichen Stimmen  der  Bewohner:innen –  Menschen und  nichtmenschliche  Leben – einzufangen. Jene Geschichten verdichten sich schließlich zusammen mit den filmischen Beiträgen des argentinischen Regisseurs Juan Fernández Gebauer zu  einer  spektralen  Erzählung,  einem  experimentellen Konzert, das dazu ein-lädt, jenen geisterhaften Stimmen des Wassers  zu  lauschen  und  gleichzeitig  Wege  zu  finden,  mit  dem  umzugehen,  was diese Gewässer über ihre Vergangenheit und Gegenwart und die Zukunft zu erzählen haben. 

Zorka Wollny

Die  Arbeiten  der  polnischen  Künstlerin  Zorka  Wollny  bewegen  sich  an  der  Grenze  von  Theater  und  bildender  Kunst und sind eng mit der Geschichte  und  der  Architektur  der  jeweiligen  Orte  verbunden.  Durch  den  Einsatz  von  klassischen  Instrumenten,  Alltagsgegenständen und Gesang schafft die Künstlerin immersive Soundlandschaften  aus  harmonischem  Klang  und ortsspezifischen Geräuschen. Mit „ Imperfect Choir” wird Wollny in HELLERAU gemeinsam mit Protagonist:innen eine chorische Arbeit auf Dresden entwickeln.

30.09. –  01.10.2022

Nordost Südwest

Festival

Ein Projekt in kuratorischer Zusammenarbeit des Kunsthauses Dresden mit  HELLERAU – Europäisches  Zentrum der Künste, Beirut Art Center, KRAK Center for Contemporary Culture in Bihać und Performing Arts Institute in Warschau. 

Mit Rana Haddad & Pascal Hachem (200 Grs.), Frenzy Höh-ne, Adela Jušić, Irma Markulin, Svea Duwe & Bettina Lehmann & Roswitha Maul, Omar Mismar, Šejla Kamerić, Darija Radaković, Artist Collective SCHAUM, Antje Seeger, Aida Šehović, Petra  Serhal,  Caroline  Tabet, Janek Turkowski und Iwona  Nowacka, Nahuel Cano, Zorka Wollny, Wojtek Ziemilski sowie Arbeiten der Schenkung Sammlung Hoffmann von Félix González-Torres, Tony Oursler und A K Dolven. 

Gefördert von Kulturstiftung des Bundes, Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Institut für Auslandsbeziehungen, Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Ostsächsischen Sparkasse Dresden

 

27.07.2022

Come Together, #2 – 2022

Mit „Come Together“ bezieht sich HELLERAU auf einen künstlerischen Forschungsprozess, der neue Wege der künstlerischen Zusammenarbeit, Vernetzung und Begegnung mit dem Publikum erprobt. Im Mittelpunkt steht die gemeinsame Suche nach Werten unseres Zusammenlebens und der Dialog zu Fragen von Gemeinschaft, Fürsorge und Empathie. Wie können Kunst und Kultur zum Wohlbefinden, zu seelischer und körperlicher Gesundheit beitragen? Wie können Fähigkeiten zur Empathie entwickelt und Resilienz gestärkt werden? 

Im Rahmen von „Come Together“ waren bereits im Frühjahr 2022 die Choreografinnen Dada  Masilo  und  Lia  Rodrigues  mit ihren Companien in HELLERAU zu Gast. Im September 2022 präsentiert HELLERAU beim Festival „Come Together“ unterschiedliche internationale Positionen von zeitgenössischen Choreografinnen zu den Themen Gemeinschaft und Empathie. Die gefeierte schottische Künstlerin Claire Cunningham lädt gemeinsam mit ihrem US-amerikanischen Kollegen Jess Curtis zu einem bewegenden Tanz-Dialog mit dem Publikum, Yasmeen Godder aus Israel zeigt drei miteinander verwobene Stücke, die Empathie in verschiedenen Ausprägungen ergründen.  Die ungarische Choreografin  Boglarka  Börcsök beschäftigt sich in „Figuring Age“ mit den körperlichen Auswirkungen des Alterns, während Gizem Aksu aus Istanbul ihre Tänzerinnen das gesamte „Archive of Feelings: Instanbul“ durchleben lässt.

Ein Wiedersehen gibt es mit Reut Shemesh, die eine hintergründige Parabel über  die  Abgründe  menschlicher  Gemeinschaften zeigt und mit Lotte Mueller aus Leipzig, die ihr fulminantes zirzensisches Stück „Im/Mobility“ präsentiert. In den Kulturgarten und die Räume des Festspielhauses entführen Magdalena Weniger und Agata Siniarska mit  ihren performativen Aktionen. Daneben ist eine filmische Arbeit von Gizem Aksu über Rukeli Trollmann und die Roma-Community in Istanbul  zu  sehen.  Außerdem laden wir  zu  mehreren Gesprächen rund um die Themen Gemeinschaft, Empathie und Fürsorge ein.

Wie könnte eine  Choreografie  der  Fürsorge aussehen?

Von Claire Cunningham

Als  behinderter  Mensch  fällt  es  mir  nicht  leicht,  mich  mit  dem  Wort  Pflege  anzufreunden,  denn  es  hat  eine  Menge  Konnotationen, eine Menge sehr problematisches Gepäck.Allerdings habe ich in den vergangenen zehn Jahren als Performancekünstlerin über meinen Wunsch, behinderte, gehörlose, sehbehinderte, chronisch kranke und neurodi-verse Menschen in meinen Shows wahrhaft willkommen zu heißen, auch begonnen, der Welt meiner Arbeit genauso viel Aufmerksamkeit zu schenken wie dem Ablegen meiner eigenen Krücke.

Ich  teile  hier  einige  der  vielen  Fragen,  an  denen  ich  mit  Mitstreiter:innen gearbeitet und über die ich mit Kolleg:innen nachgedacht  habe,  unter  anderem  mit  dem  Künstler  und  Dramaturgen Luke Pell, dem Choreografen und Regisseur Jess Curtis und der Wissenschaftlerin Julia Watts Belser. Meine  Praxis  und  die  Performances,  die  wir  machen,  sind  aus dieser Befragung entstanden und wurden geprägt von Crip-, Queer- und Ally-Theorien. Wir haben uns die folgenden Eckpunkte gesetzt, die für uns eine Choreografie der Fürsorge ausmachen würden:

Design als Fürsorge

Wie könnte die Wahl des Ortes, an dem eine Performance stattfindet oder ihre Form, ein Akt der Fürsorge sein? Wie könnten gesellschaftspolitische Implikationen und Traumata, die mit Kleidung und Körperbild verbunden sind, in Bezug auf das Kostüm ein Akt der Fürsorge sein? Wie können die Verteilung  des  Publikums,  die  Wahl  der  Sitzplätze  und  die  Möglichkeit des Verlassens einer Veranstaltung ein Akt der Fürsorge sein?

Zeit als Fürsorge

Wie kann die Planung eines Kunstprojektes ein Akt der Für-sorge  sein,  indem  die  Bedürfnisse  der  Menschen  berück-sichtigt  werden?  Wie  kann  eine  Choreografie  ein  Akt  der  Fürsorge  sein,  indem  sie  berücksichtigt,  wie  sich  Körper  verändern? Wie können wir die Zeit, die unser Publikum investiert, anerkennen und respektieren?

Kommunikation als Fürsorge

Wie können wir unterschiedliche Arten der Kommunikation für unterschiedliche Menschen als einen Akt der Fürsorge anwenden  (im  Probenprozess  und  in  der  Performance)?  Wie  können  wir  respektieren,  dass  der  Austausch  von  In-formationen  ein  Akt  der  Fürsorge  ist,  und  wie  können  wir  seine Beziehung zur Selbstermächtigung anerkennen? Wie können wir einen Raum für den Austausch von Bedürfnissen und Anliegen auf eine Art und Weise schaffen, der kreative Prozesse fördert, aber die Erfahrungen der Menschen nicht vereinnahmt?

Leistung als Pflege

Inwiefern  ist  der  Akt  des  Aufführens  selbst  ein  Akt  der  Fürsorge? Wie können wir echte Verantwortung für die Sicherheit unseres Publikums übernehmen, bevor, während und  nachdem  sie  unsere  Arbeit  erleben?  Wie  können  wir  die potenziell traumatische Geschichte des Publikums vorsichtig(er)  wahrnehmen,  Machtdynamiken  erkennen  und  dennoch gemeinsam Risiken eingehen?

Die Komplexität der Fürsorge

Was geschieht, wenn die Bedürfnisse und Wünsche der/des einen die Bedürfnisse der/des anderen beeinträchtigen? Wenn ein Bedürfnis nicht erfüllt werden kann, wie können wir diesen Mangel und unser Bedürfnis, ihn zu beseitigen, thematisieren, statt ihn einfach zu verschweigen? Können wir uns auch zu sehr sorgen?Übersetzung: André Schallenberg, die englischsprachige Originalfassung  erschien  2022  in  der  Veröffentlichung  „Gegenwart choreografieren“, herausgegeben von tanzhaus nrw und Alexander Verlag Berlin.

 

Claire Cunningham ist Performerin und Choreografin multidisziplinärer Performances und lebt in Glasgow, Schottland. 2017 bis 2019 war sie Factory Artist am tanzhaus nrw Düsseldorf. Außerdem ist sie Affiliate Artist bei The Place, London. Sie gilt als eine der international renommiertesten behinderten Künstlerinnen. Ihre Arbeiten basieren oft auf dem Studium und dem Gebrauch/Missbrauch ihrer Krücken und der Erkundung des Potenzials ihrer eigenen spezifischen Körperlichkeit. Daraus entwickelt sie eine eigene Tanztechnik, die traditionelle Tanzformen überwindet (die für nicht behinderte Körper entwickelt wurden). 2018 war sie zusammen mit Jess Curtis zur Tanzplattform Deutschland eingeladen. 2019 erhielt sie für das Ensemblestück „Thank You Very Much“ den CATS-Preis. Im Jahr 2021 wurde Claire Cunningham für ihre herausragende künstlerische Entwicklung im Bereich Tanz mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet.

Practicing Empathy

Von Yasmeen Godder

[…] In vielerlei Hinsicht ist Tanz per se empathisch: Das Publikum kann sich in den Körpern der Performer:innen wiederfin-den, sich mit ihnen identifizieren, Bezug zu ihnen aufnehmen und sich emotional mit ihnen verbinden. Untersuchungen zu Spiegelneuronen  und  ihrer  Rolle  beim  Betrachten  stützen  diesen Blick auf Tanz. Auch sie operieren mit dem Begriff der Empathie. Daher habe ich in „Practicing Empathy“ versucht, das, was  bereits  in  verschiedenen  Tanzpraktiken,  in  Proben, in der Performance und in experimentelleren Formaten vorhanden war, zu nutzen und herauszuarbeiten. Ich wollte herausfinden, wie Empathie auch außerhalb des Theaters Resonanz finden kann.

Zu  Beginn  meiner  Recherche  habe  ich  den  Blick  nach  innen  gerichtet:  Wie  können  wir  uns  als  Tanzcompany  bei  unseren täglichen Proben darauf fokussieren, empathisch zu agieren? Und wie kann das die Entstehung eines Stückes beeinflussen? Wir haben Rituale entwickelt, mit denen sich die Performer:innen körperlich und emotional nah kommen, und mit denen sie sich gegenseitig ihre Bedürfnisse und Verletzlichkeit offenbaren. Das hat zum ersten Stück geführt, „Practicing Empathy #1“, das im November 2019 Premiere am Susanne Dellal Center in Tel Aviv hatte. Es setzt sich aus repetitiven, körperlichen und stimmlichen Ritualen zusam-men, durch die die Gefühlswelt der Tänzer:innen und ihre Fähigkeit, diese komplexen Emotionen gemeinsam zu tragen, freigelegt werden. Das Publikum konnte Zeuge dieses sehr intimen Vorgangs  innerhalb  der  Gruppe  werden:  Über  die  Partitur der Stimmen, der Töne und Rhythmen, die sich ständig veränderten, vermittelte sich eine körperliche Erfahrung.

Nachdem wir uns dieser nach innen gerichteten Recherche unterzogen hatten, war klar, dass diese Praxis nun mit Menschen von außerhalb der Company hinterfragt und weiterentwickelt werden musste. Mit Menschen aus verschiedenen Kulturen und Kontexten, deren Empathie-Empfinden wir hören und fühlen wollten. Wir waren daran interessiert, die Bestandteile von „Practicing Empathy #1“ mit dem Publikum zu  teilen,  allerdings  ohne  sie  wirklich  zu  erklären.  Auf  der  Grundlage dieser Begegnungen entwickelten wir eine zweite, partizipative Praxis, die als interaktive Aufwärmübung und vertrauensbildende Maßnahme eingesetzt werden konnte.

Als  erstes  hat  die  Company  von  Januar  bis  März  2020  einen langen Workshop abgehalten, zusammen mit Müttern aus der arabischen Community in Jaffa. Dadurch, dass wir unsere Erkenntnisse mit diesen wunderbaren Frauen geteilt haben, die ich durch die Schule meiner Tochter kannte, war es möglich, persönliche Geschichten auf eine sich gegenseitig bestärkende Weise auszutauschen und so gemeinsame Tänze der Empathie zu entwickeln.

Danach  haben  Monika  Gillette,  die  Dramaturgin  Anais  Rödel  und  ich  damit  begonnen,  eine  Residenzwoche  am  tanzhaus nrw zu konzipieren, in der Absicht, verschiedene, mit dem Haus verbundene Gemeinschaften einzubeziehen und sie zur Teilnahme an einem Workshop mit der Company einzuladen. Jeden Tag haben wir uns mit einer anderen Gruppe getroffen: mit Migrant:innen, mit Menschen, die mit Parkinson leben, mit einer Jugendgruppe, mit Senior:innen, und auch mit professionellen Tänzer:innen. Jedes dieser Treffen haben wir speziell auf die jeweilige Gruppe zugeschnitten und die Gelegenheit genutzt, unsere partizipative Praxis vorzustellen, die sich mit jedem Tag weiterentwickelt und verändert hat. Bei all diesen Treffen haben wir Erfahrungen von großer Offenheit, von Freude, Gesang, Tanz und auch Tränen geteilt, und dementsprechend stark waren die zwischenmenschlichen Bindungen, die sich daraus entwickelt haben.

Die  Treffen  boten  außerdem  die  Möglichkeit,  sich  über  Themen  wie  die  deutsch-jüdischen  Be-ziehungen, Krankheiten, Vertrauen, Altern  sowie  über  die  Auswirkungen  und  Existenz  unterschiedlicher  kultureller  Tanzhintergründe auszutauschen. „Practicing Empathie #2“ kam nie zur Premiere. Viele Impulse des Stückes hätten  Berührung,  Atmen  und  physische  Nähe zwischen Fremden in einer Weise erfordert, die durch die Verbreitung von COVID-19  untragbar  wurde.  Nach  dem  Ende des ersten Lockdowns in Israel im Frühjahr  2020,  als  der  Company  endlich  wieder  Treffen  erlaubt  waren,  beschlossen wir, aus dem angesammelten Recherchematerial eine andere Fassung des Werkes für das Festival Hatira Le‘Maga (Streben nach Berufung) am Habeit Theater in Jaffa zu entwickeln. Dieses Festival gab Werke für je zwei bis fünf Zuschauer:innen in Auftrag.

„Practicing  Empathy  #2by2“  hat  auf  den  geforderten  Abstand  von  zwei  Metern  im  Sinne  des  Social  Distancing  so reagiert, dass eine Einladung an ein Publikum von zwei Personen erging, gemeinsam mit zwei Performer:innen in einer nonverbalen Reise gegenseitiger Bewegung, Interaktion  und  Vertrauen  aufzubauen.  Das  zwei  mal  zwei  Meter  große Quadrat, in dem die Choreografie stattfand, war auf dem Boden markiert. So haben wir ein Gefühl der Sicherheit geschaffen, das es ermöglicht, Nähe und Empathie zu praktizieren, insbesondere nach dem Trauma der Pandemie, die so stark in unser aller Leben eingegriffen hat. Obwohl sich diese Arbeit stark von dem ursprünglichen Entwurf  von  „Practicing  Empathy  #2“  unterschied,  fußten  Erkenntnis und Herangehensweise sehr wohl auf dem Wis-sen und der Erfahrung, die wir während der Residenzwoche am tanzhaus nrw gesammelt hatten.

Ursprünglich war vorgesehen, dass „Practicing Empathy #3“ als gemeinsame Arbeit meiner Company mit verschiedenen Communities entsteht und aufgeführt wird, während wir mit den anderen beiden Arbeiten auf Tour gehen. Nach so vielen Jahren des Reisens wollte ich gern den Austausch, den wir als Company mit Menschen vor Ort hatten, über die Aufführungen  hinaus  ausweiten  und  noch  mehr  über  Em-pathie lernen.

Im  Kern  sollte  das  Projekt  „Practicing  Empathy“  den  Ansatz des gegenseitigen Austauschs verfolgen, und zwar in  unterschiedlichen  Formen.  Die  ursprüngliche  Idee  von  „Practicing Empathy #3“ war ein einwöchiger Workshop und Proben  mit  Leuten  vor  Ort,  einschließlich  einer  informellen Aufführung als Reihe mit den beiden anderen Arbeiten. Jedoch  wurde  mir  klar  schnell  klar,  dass  eine  Tour  unter  Pandemie-Bedingungen  nicht  umsetzbar  ist,  also  begann  ich, allein im Studio zu arbeiten.

Bis heute inspiriert mich die Komplexität des Themas Empathie und die Tatsache, dass sie nicht nur auf eine Weise gezeigt werden kann, sondern sich künstlerisch, zwischen-menschlich oder gesellschaftlich äußern kann. In dem Moment, in dem ich mich dem Tanz als Kunstform verschreibe, verpflichte ich mich auch dazu, mit anderen Menschen zusammenzutreffen und mich auf sie einzulassen. Ich möchte die kostbare gemeinsame Zeit einer Performance dafür nutzen, Menschen behutsam in Richtung Offenheit, Neugierde und Sensibilität zu bewegen, auch wenn dies manchmal Ver-wirrung hervorruft und Herausforderungen mit sich bringt. Dies kann sich auf persönlicher Ebene auswirken, aber auch in  Fragen  von  Hierarchien,  Konflikten  und  Vorurteilen.  Ich  hoffe, auch weiterhin Verbindungen zwischen diesen unter-schiedlichen Formen der Empathie zu finden und sie als eine Art Sensor nutzen zu können, der mich auf meinem eigenen Weg navigiert.

Gekürzte Version, die vollständige Textversion erschien 2022 in der Veröffentlichung „Gegenwart choreografieren“,  herausgegeben  von  tanzhaus  nrw  und  Alexander  Verlag Berlin.

Yasmeen Godder wurde in Jerusalem geboren und wuchs in New York City auf, wo sie auch Tanz studierte. Seit 1999 lebt und arbeitet sie wieder in Israel. Als Choreografin tourt sie mit ihrer Company weltweit. In ihrem Studio in Jaffa, das Recherche- und Produktionsort ist, unterrichtet sie und veranstaltet zahlreiche Projekte, u.a. mit der arabisch-jüdischen Community. In den letzten Jahren entwickelte sie zudem mit der Dramaturgin und Tänzerin Monica Gilette eine intensive Arbeit gemeinsam mit Menschen mit Parkinson-Krankheit, die einen großen Einfluss auf ihre künstlerische Praxis hatte. 2001 gewann Godder den renommierten Bessie Award, gefolgt von einer Vielzahl anderer internationaler Auszeichnungen. 2018 erhielt sie die Valeska-Geert-Gastprofessur am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin.

 

16. – 24.09.2022

Come Together

Festival

16./17.09.2022

The Way You Look (at  me)  Tonight

Claire Cunningham & Jess Curtis

 

16./17./18.09.2022

Figuring Age

Boglárka Börcsök

 

17./18.09.2022

GOLA 4th  Movement

Reut Shemesh

 

 20./21.09.2022

Practicing  Empathy #1/#2by2/#3

Yasmeen Godder

 

22./24.09.2022

Ein kollektiver Zauberspruch für die Erde

Agata Siniarska

 

22.–24.09.2022

Compost  Composing

KOMA&Ko/Magdalena Weniger

 

23./24.09.2022

Im/Mobility

Lotte Mueller

 

23./24.09.2022

Archive of  Feelings:  Instanbul

Gizem Aksu

 

+ Workshops, Gespräche, Filmscreenings

 

Außerdem sind drei  weitere  Choreograf:innen als Residenzkünstler:innen zu Gast in  HELLERAU: Wen Hui, Pawel  Sakowicz sowie Katia  Manjate und Amilton Neves.

 

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grund-lage des vom Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.

 

25.02.2022

Statement of Solidarity with the Ukrainian people

Für 2,00€ erhalten geflüchtete Personen aus der Ukraine gegen Vorlage eines entsprechenden Nachweises Eintritt zu unseren Vorstellungen.
Біженці з України можуть потрапити на наші вистави за €2,00 за наявності відповідних документів.

Das Bündnis internationaler Produktionshäuser verurteilt aufs Schärfste den Einmarsch und Kriegsbeginn durch russische Truppen in der Ukraine und den damit verbundenen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Wir sind schockiert über dieses Ausmaß an Verletzung von Menschenrechten, über die Gewaltausübung an der ukrainischen Bevölkerung und über die außerordentliche Gefährdung des Friedens in Europa.

Wir erklären uns solidarisch mit allen friedliebenden Menschen und wir stehen ein für den Schutz demokratischer, offener Gesellschaften. Als international arbeitende Produktionshäuser nutzen wir unsere Kontakte und Netzwerke, um mit unseren Möglichkeiten und Arbeitsprogrammen den bedrohten Künstler:innen und Kolleg:innen eine Stimme zu geben und ihnen zur Seite zu stehen.

 Альянс міжнародних виробників рішуче засуджує початок війни і вторгнення російських військ в Україну та пов’язане з цим різке порушення міжнародного права. Ми шоковані рівнем порушень прав людини, насильством проти українського населення та надзвичайною загрозою миру в Європі.

Ми заявляємо про нашу солідарність з усіма миролюбними людьми і стаємо на захист демократичних, відкритих суспільств. Як міжнародні виробникі, ми використовуємо наші контакти та мережі, щоб надати голос митцям і колегам, яким загрожує небезпека, і підтримати їх у наших можливостях та робочих програмах.

Unterstützungsmöglichkeiten

Aktuelles Bündnis internationaler Produktionshäuser

07.02.2022

Bandstand Musikvideos 2022, #1 – 2022

07.02.2022

Watch Out!, #1 – 2022

07.02.2022

Transverse Orientation, #1 – 2022

07.02.2022

Lieder ohne Worte, #1 – 2022

07.02.2022

5 Tage Belarus, #1 – 2022

07.02.2022

Lia Rodrigues, #1 – 2022

07.02.2022

Ohne Masse keine Macht, #1 – 2022

07.02.2022

On Kinships and Twins, #1 – 2022

07.02.2022

Young Stage, #1 – 2022

07.02.2022

CLAIMING COMMON SPACES IV: Cool Down, #1 – 2022

06.02.2022

Pflanzen-Meditation: Eine praktische Anleitung, #1 – 2022

06.02.2022

Gesichter in HELLERAU – Friedemann Heinrich, Finanzmanagement & Controlling, #1 – 2022

06.02.2022

Für Claudia „Wanda“ Reichardt, #1 – 2022

06.02.2022

Für Claudia „Wanda“ Reichardt, #1 – 2022

06.02.2022

Der europäische Kunstsachse, #1 – 2022