Proben … Tasten … Hören, Audiodeskription in HELLERAU,#2 – 2022
Aggregat^1 – von Kristina Dreit, #2 – 2022
How far is East, #2 – 2022
Don’t you dare! Wage es ja nicht!, #2 – 2022
Villa Massimozu Gast in HELLERAU,#2 – 2022
HYBRID Biennale 2022, #2 – 2022
Abschied und Beginn, #2 – 2022
Nordost Südwest, #2 – 2022
Nordost Südwest
„Nordost Südwest“ ist ein transnationales Projekt zeitgenössischer Kunst mit Ausstellungen, Performances und Kunstprojekten, das vom 23. September bis zum 6. November 2022 als Kooperation zwischen dem Kunsthaus Dresden und HELLERAU in der robotron-Kantine, in und um das Festspielhaus Hellerau und im Stadtraum zu sehen sein wird.
„Nordost Südwest“ ist dem ältesten und zugleich immer noch aktuellen, über Existenzen und Lebensperspektiven entscheidenden Orientierungsverfahren der Menschheit gewidmet, in dem es das eine nicht ohne das andere gibt: Während der „alte Osten“ und der „neue Westen“ sich je nach Perspektive und Abstand zu den Ereignissen mythisch oder diabolisch verklären, werden mit den Begriffen des „globalen Südens“ und des „globalen Nordens“ Beziehungs- und Konfliktlinien angesprochen, in denen ein globales koloniales Erbe fortlebt. „Nordost Südwest“ greift aktuelle Auseinandersetzungen mit diesem globalen, politischen und kulturellen Koordinatensystem auf und fragt, wie Akteur:innen und Gruppen innerhalb und jenseits etablierter Koordinaten und nationalen Strukturen agieren können?
Vom 23. September bis zum 6. November 2022 nimmt sich „Nordost Südwest“ mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen aus Bildender wie Darstellender Kunst dieser Fragestellung an. Das Projekt entsteht in einer kuratorischen Zusammenarbeit von Kunsthaus Dresden – Städtische Galerie für Gegenwartskunst, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, dem Beirut Art Center, dem KRAK Center for Contemporary Culture in Bihać, dem Performing Arts Institute in Warschau sowie weiteren Partner:innen in Beirut und der freien Szene in Dresden. Was Beirut, Bihać, War-schau und Dresden dabei verbindet, ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart von Krieg und Gewalt, mit sozialen und politischen Spannungen und Migration als prägende Erfahrung.
In HELLERAU, in der robotron-Kantine und im öffentlichen städtischen Raum sind Arbeiten von internationalen Künstler:innen zu sehen, die von den kuratorischen Partner:innen aus Beirut, Bihać und Warschau ausgewählt wurden. Darüber hinaus zeigen vier weitere Ausstellungsorte der freien Kunstszene in Dresden ausgewählte Werke aus der Schenkung Sammlung Hoffmann. So entspinnt sich durch die kuratorischen Ansätze und künstlerischen Zugänge ein sichtbares Netz(-werk) des Austausches und des gemein-samen Handelns zwischen den unterschiedlichen Orten, Institutionen und Künsten.
Im Rahmen von „Nordost Südwest“ widmet sich HELLERAU vom 30.09. bis 01.10.2022 den performativen Aspekten dieses Ausstellungsprojekts. Das Motiv des (Zu-)Hörens wie auch der Machtverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie bildet den Ausgangspunkt von vier künstlerischen Positionen, die von dem polnischen Kurator:innen-Duo Marta Keil und Grzegorz Reske vorgeschlagen wurden.
Politics of Listening
Marta Keil und Grzegorz Reske (ResKeil), Performing Arts Institute, Warszawa, Kurator:innen (aus dem Englischen übersetzt)
Welche Form hat der Klang, der aus der Peripherien unserer Aufmerksamkeit stammt? Das Zentrum ist in der Regel gut hörbar, da es sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Zuhörer:innen stellt, egal ob sie es mögen oder nicht. Es spricht laut und verflacht dabei oft den Klang mit seinem eigenen, dominierenden Ton. Die Landschaft dessen, was wir hören, ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit verteilen. Und dies ist eine politische Entscheidung. Die Bedingungen für diese Entscheidung werden durch den Kontext geprägt, in dem wir lernen zuzuhören. Die Melodie der Stimme der Nachbar:in, das Geräusch der Straßen, das Fließen der Flüsse, die Art und Weise, wie ein:e Freund:in die Tür schließt, der Zeitpunkt im Jahr, an dem die Vögel und ihre morgendlichen Gespräche wiederkehren, die Reihenfolge, in der die Stimmen beim Familienessen erhoben werden.
Zuhören kann eine anspruchsvolle Aufgabe sein. Es erfordert eine echte Neugier für das, was wir noch nicht wissen und womit wir vielleicht nicht sicher umgehen können. Sich auf den Rhythmus desjenigen einzustellen, dem wir zuhören, bedeutet, diesem so viel Raum zu geben, wie er/sie braucht – und manchmal auch, unseren eigenen aufzugeben. Es ist also eine Übung zur Umverteilung unserer eigenen Ressourcen: Aufmerksamkeit, Zeit, Geduld, Neugier. Was braucht es, um sich im Zuhören zu üben? Wie viel Zeit braucht es, um sich auf neue Klänge und Stimmen einzustellen? Und wie ist mit dem Unbehagen umzugehen, das diese mit sich bringen könnten?
Wir sind beide Teil des Performing Arts Institute, der kollektiven Initiative mit Sitz in Warschau, Polen, dem postkommunistischen Land, das seit 1989 sein Bestes gibt, dem Westen mit aller Macht zu folgen. Im Moment ist unsere Perspektive jedoch etwas erschüttert, da wir beide kürzlich in die Niederlande gezogen sind. Entwurzelt aus dem Boden, der unsere Praxis nährte und formte, lernen wir immer noch, wie wir uns in einem neuen Kontext verwurzeln können. Wir müssen irgendwie neu zuhören lernen.
Für uns als Kurator:innen ist das Projekt „Nordost Südwest“ ein vielschichtiges Gespräch mit Stimmen aus den Regionen, die an der Peripherie oder Halbperipherie der westlichen, zentralistischen Perspektive liegen. Das für HELLERAU entwickelte performative Programm versammelt Künstler:innen aus Polen und Argentinien, die in verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Niederlande, Polen) ansässig sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Machtverhältnisse zwischen den Zentren und den Peripherien problematisieren – und dies nicht unweigerlich nur in geopolitischer Hinsicht, sondern ebenso auf der Ebene der sozialen und nicht-menschlichen Beziehungen. So thematisiert Wojtek Ziemilski den Diskurs des Theaters, seine Struktur und Instrumente und fragt danach, wem diese eigentlich gehören. Zorka Wollny schafft eine kraftvolle Klanglandschaft feministischer Stimmen, die den öffentlichen Raum erobern, Iwona Nowacka und Janek Turkowski hören der Nachbarschaft von HELLERAU aufmerksam zu und schaffen damit die Voraussetzungen für faszinierende Gespräche, die sonst kaum zustande kämen, und Nahuel Cano lädt uns auf eine Reise ein, die den Stimmen des Flusses folgt und seinen vergangenen und zukünftigen Strömungen und den menschlichen und nichtmenschlichen Bewohnern seines Territoriums lauscht.
Projekte in HELLERAU
Wojtek Ziemilski
Ausgehend von einer persönlichen Familiengeschichte, widmet sich der polnische Regisseur und bildenden Künstler Wojtek Ziemilski in seinem jüngsten Bühnenstück dem Thema Vermächtnis und Erbe. Mit Anna Dzieduszycka, einer entfernten Cousine, renommierten Schauspielerin und Protagonistin des Stücks, sucht Ziemilski das Gespräch über die gemeinsame Vergangenheit und den Umstand des Erbens, von materiellen Gegenständen, körperlichen Merkmalen und kulturellen Werten. „Ode to Joy“, das im April 2022 im STUDIO teatrgaleria in Warschau Premiere feierte, ist ein Stück darüber, was uns familiär und menschlich verbindet, was wir erben, wovon wir uns befreien und was stets Teil von uns bleibt. Damit hinterfragt Ziemilski ebenso den Diskurs des Theaters, seine Strukturen und die Werkzeuge des Theaters und wem diese eigentlich gehören.
Iwona Nowacka & Janek Turkowski
Die polnische Übersetzerin, Autorin und Kuratorin Iwona Nowacka und der polnische Regisseur Janek Turkowski verbindet seit 2013 eine kontinuierliche Zusammenarbeit, die sich insbesondere durch Langzeit-Filmprojekte kennzeichnet. Sie entstehen zumeist ortsgebunden und ihre Erarbeitung beruht auf Begegnungen mit Bewohner:innen, Archivdokumenten und ausdauernden filmischen Erkundungen. Dabei ergeben sich die zu erzählenden Geschichten durch das gefundene Material, dessen unterschiedliche Fragmente sich im Ergebnis zu einer Video-Storytelling-Performance zusammenfügt. Als Ausgangspunkt für ihre Arbeit in HELLERAU werden sich die beiden Künstler:innen mit den land-wirtschaftlichen Aspekten der unmittelbaren Umgebung des Festspielhauses beschäftigen und untersuchen, welche postsowjetischen Spuren sich im Boden finden lassen.
Nahuel Cano
In „Ways to Listen to a River: Movement 1“ erkundet der argentinische Schauspieler und Performer Nahuel Cano die Umgebung von HELLERAU. Als Teil seiner ausgedehnten Forschung zur Kartierung von Klanglandschaften folgt er dabei den Stimmen des Wassers. Die entstehende klangliche Landkarte, die weit über die unmittelbaren Ufer der Flüsse hinausragen kann, versucht dabei nicht nur die historischen, politischen und ökologischen, sondern ebenso die inneren, persönlichen Stimmen der Bewohner:innen – Menschen und nichtmenschliche Leben – einzufangen. Jene Geschichten verdichten sich schließlich zusammen mit den filmischen Beiträgen des argentinischen Regisseurs Juan Fernández Gebauer zu einer spektralen Erzählung, einem experimentellen Konzert, das dazu ein-lädt, jenen geisterhaften Stimmen des Wassers zu lauschen und gleichzeitig Wege zu finden, mit dem umzugehen, was diese Gewässer über ihre Vergangenheit und Gegenwart und die Zukunft zu erzählen haben.
Zorka Wollny
Die Arbeiten der polnischen Künstlerin Zorka Wollny bewegen sich an der Grenze von Theater und bildender Kunst und sind eng mit der Geschichte und der Architektur der jeweiligen Orte verbunden. Durch den Einsatz von klassischen Instrumenten, Alltagsgegenständen und Gesang schafft die Künstlerin immersive Soundlandschaften aus harmonischem Klang und ortsspezifischen Geräuschen. Mit „ Imperfect Choir” wird Wollny in HELLERAU gemeinsam mit Protagonist:innen eine chorische Arbeit auf Dresden entwickeln.
30.09. – 01.10.2022
Nordost Südwest
Festival
Ein Projekt in kuratorischer Zusammenarbeit des Kunsthauses Dresden mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, Beirut Art Center, KRAK Center for Contemporary Culture in Bihać und Performing Arts Institute in Warschau.
Mit Rana Haddad & Pascal Hachem (200 Grs.), Frenzy Höh-ne, Adela Jušić, Irma Markulin, Svea Duwe & Bettina Lehmann & Roswitha Maul, Omar Mismar, Šejla Kamerić, Darija Radaković, Artist Collective SCHAUM, Antje Seeger, Aida Šehović, Petra Serhal, Caroline Tabet, Janek Turkowski und Iwona Nowacka, Nahuel Cano, Zorka Wollny, Wojtek Ziemilski sowie Arbeiten der Schenkung Sammlung Hoffmann von Félix González-Torres, Tony Oursler und A K Dolven.
Gefördert von Kulturstiftung des Bundes, Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Institut für Auslandsbeziehungen, Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Ostsächsischen Sparkasse Dresden
Come Together, #2 – 2022
Mit „Come Together“ bezieht sich HELLERAU auf einen künstlerischen Forschungsprozess, der neue Wege der künstlerischen Zusammenarbeit, Vernetzung und Begegnung mit dem Publikum erprobt. Im Mittelpunkt steht die gemeinsame Suche nach Werten unseres Zusammenlebens und der Dialog zu Fragen von Gemeinschaft, Fürsorge und Empathie. Wie können Kunst und Kultur zum Wohlbefinden, zu seelischer und körperlicher Gesundheit beitragen? Wie können Fähigkeiten zur Empathie entwickelt und Resilienz gestärkt werden?
Im Rahmen von „Come Together“ waren bereits im Frühjahr 2022 die Choreografinnen Dada Masilo und Lia Rodrigues mit ihren Companien in HELLERAU zu Gast. Im September 2022 präsentiert HELLERAU beim Festival „Come Together“ unterschiedliche internationale Positionen von zeitgenössischen Choreografinnen zu den Themen Gemeinschaft und Empathie. Die gefeierte schottische Künstlerin Claire Cunningham lädt gemeinsam mit ihrem US-amerikanischen Kollegen Jess Curtis zu einem bewegenden Tanz-Dialog mit dem Publikum, Yasmeen Godder aus Israel zeigt drei miteinander verwobene Stücke, die Empathie in verschiedenen Ausprägungen ergründen. Die ungarische Choreografin Boglarka Börcsök beschäftigt sich in „Figuring Age“ mit den körperlichen Auswirkungen des Alterns, während Gizem Aksu aus Istanbul ihre Tänzerinnen das gesamte „Archive of Feelings: Instanbul“ durchleben lässt.
Ein Wiedersehen gibt es mit Reut Shemesh, die eine hintergründige Parabel über die Abgründe menschlicher Gemeinschaften zeigt und mit Lotte Mueller aus Leipzig, die ihr fulminantes zirzensisches Stück „Im/Mobility“ präsentiert. In den Kulturgarten und die Räume des Festspielhauses entführen Magdalena Weniger und Agata Siniarska mit ihren performativen Aktionen. Daneben ist eine filmische Arbeit von Gizem Aksu über Rukeli Trollmann und die Roma-Community in Istanbul zu sehen. Außerdem laden wir zu mehreren Gesprächen rund um die Themen Gemeinschaft, Empathie und Fürsorge ein.
Wie könnte eine Choreografie der Fürsorge aussehen?
Von Claire Cunningham
Als behinderter Mensch fällt es mir nicht leicht, mich mit dem Wort Pflege anzufreunden, denn es hat eine Menge Konnotationen, eine Menge sehr problematisches Gepäck.Allerdings habe ich in den vergangenen zehn Jahren als Performancekünstlerin über meinen Wunsch, behinderte, gehörlose, sehbehinderte, chronisch kranke und neurodi-verse Menschen in meinen Shows wahrhaft willkommen zu heißen, auch begonnen, der Welt meiner Arbeit genauso viel Aufmerksamkeit zu schenken wie dem Ablegen meiner eigenen Krücke.
Ich teile hier einige der vielen Fragen, an denen ich mit Mitstreiter:innen gearbeitet und über die ich mit Kolleg:innen nachgedacht habe, unter anderem mit dem Künstler und Dramaturgen Luke Pell, dem Choreografen und Regisseur Jess Curtis und der Wissenschaftlerin Julia Watts Belser. Meine Praxis und die Performances, die wir machen, sind aus dieser Befragung entstanden und wurden geprägt von Crip-, Queer- und Ally-Theorien. Wir haben uns die folgenden Eckpunkte gesetzt, die für uns eine Choreografie der Fürsorge ausmachen würden:
Design als Fürsorge
Wie könnte die Wahl des Ortes, an dem eine Performance stattfindet oder ihre Form, ein Akt der Fürsorge sein? Wie könnten gesellschaftspolitische Implikationen und Traumata, die mit Kleidung und Körperbild verbunden sind, in Bezug auf das Kostüm ein Akt der Fürsorge sein? Wie können die Verteilung des Publikums, die Wahl der Sitzplätze und die Möglichkeit des Verlassens einer Veranstaltung ein Akt der Fürsorge sein?
Zeit als Fürsorge
Wie kann die Planung eines Kunstprojektes ein Akt der Für-sorge sein, indem die Bedürfnisse der Menschen berück-sichtigt werden? Wie kann eine Choreografie ein Akt der Fürsorge sein, indem sie berücksichtigt, wie sich Körper verändern? Wie können wir die Zeit, die unser Publikum investiert, anerkennen und respektieren?
Kommunikation als Fürsorge
Wie können wir unterschiedliche Arten der Kommunikation für unterschiedliche Menschen als einen Akt der Fürsorge anwenden (im Probenprozess und in der Performance)? Wie können wir respektieren, dass der Austausch von In-formationen ein Akt der Fürsorge ist, und wie können wir seine Beziehung zur Selbstermächtigung anerkennen? Wie können wir einen Raum für den Austausch von Bedürfnissen und Anliegen auf eine Art und Weise schaffen, der kreative Prozesse fördert, aber die Erfahrungen der Menschen nicht vereinnahmt?
Leistung als Pflege
Inwiefern ist der Akt des Aufführens selbst ein Akt der Fürsorge? Wie können wir echte Verantwortung für die Sicherheit unseres Publikums übernehmen, bevor, während und nachdem sie unsere Arbeit erleben? Wie können wir die potenziell traumatische Geschichte des Publikums vorsichtig(er) wahrnehmen, Machtdynamiken erkennen und dennoch gemeinsam Risiken eingehen?
Die Komplexität der Fürsorge
Was geschieht, wenn die Bedürfnisse und Wünsche der/des einen die Bedürfnisse der/des anderen beeinträchtigen? Wenn ein Bedürfnis nicht erfüllt werden kann, wie können wir diesen Mangel und unser Bedürfnis, ihn zu beseitigen, thematisieren, statt ihn einfach zu verschweigen? Können wir uns auch zu sehr sorgen?Übersetzung: André Schallenberg, die englischsprachige Originalfassung erschien 2022 in der Veröffentlichung „Gegenwart choreografieren“, herausgegeben von tanzhaus nrw und Alexander Verlag Berlin.
Claire Cunningham ist Performerin und Choreografin multidisziplinärer Performances und lebt in Glasgow, Schottland. 2017 bis 2019 war sie Factory Artist am tanzhaus nrw Düsseldorf. Außerdem ist sie Affiliate Artist bei The Place, London. Sie gilt als eine der international renommiertesten behinderten Künstlerinnen. Ihre Arbeiten basieren oft auf dem Studium und dem Gebrauch/Missbrauch ihrer Krücken und der Erkundung des Potenzials ihrer eigenen spezifischen Körperlichkeit. Daraus entwickelt sie eine eigene Tanztechnik, die traditionelle Tanzformen überwindet (die für nicht behinderte Körper entwickelt wurden). 2018 war sie zusammen mit Jess Curtis zur Tanzplattform Deutschland eingeladen. 2019 erhielt sie für das Ensemblestück „Thank You Very Much“ den CATS-Preis. Im Jahr 2021 wurde Claire Cunningham für ihre herausragende künstlerische Entwicklung im Bereich Tanz mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet.
Practicing Empathy
Von Yasmeen Godder
[…] In vielerlei Hinsicht ist Tanz per se empathisch: Das Publikum kann sich in den Körpern der Performer:innen wiederfin-den, sich mit ihnen identifizieren, Bezug zu ihnen aufnehmen und sich emotional mit ihnen verbinden. Untersuchungen zu Spiegelneuronen und ihrer Rolle beim Betrachten stützen diesen Blick auf Tanz. Auch sie operieren mit dem Begriff der Empathie. Daher habe ich in „Practicing Empathy“ versucht, das, was bereits in verschiedenen Tanzpraktiken, in Proben, in der Performance und in experimentelleren Formaten vorhanden war, zu nutzen und herauszuarbeiten. Ich wollte herausfinden, wie Empathie auch außerhalb des Theaters Resonanz finden kann.
Zu Beginn meiner Recherche habe ich den Blick nach innen gerichtet: Wie können wir uns als Tanzcompany bei unseren täglichen Proben darauf fokussieren, empathisch zu agieren? Und wie kann das die Entstehung eines Stückes beeinflussen? Wir haben Rituale entwickelt, mit denen sich die Performer:innen körperlich und emotional nah kommen, und mit denen sie sich gegenseitig ihre Bedürfnisse und Verletzlichkeit offenbaren. Das hat zum ersten Stück geführt, „Practicing Empathy #1“, das im November 2019 Premiere am Susanne Dellal Center in Tel Aviv hatte. Es setzt sich aus repetitiven, körperlichen und stimmlichen Ritualen zusam-men, durch die die Gefühlswelt der Tänzer:innen und ihre Fähigkeit, diese komplexen Emotionen gemeinsam zu tragen, freigelegt werden. Das Publikum konnte Zeuge dieses sehr intimen Vorgangs innerhalb der Gruppe werden: Über die Partitur der Stimmen, der Töne und Rhythmen, die sich ständig veränderten, vermittelte sich eine körperliche Erfahrung.
Nachdem wir uns dieser nach innen gerichteten Recherche unterzogen hatten, war klar, dass diese Praxis nun mit Menschen von außerhalb der Company hinterfragt und weiterentwickelt werden musste. Mit Menschen aus verschiedenen Kulturen und Kontexten, deren Empathie-Empfinden wir hören und fühlen wollten. Wir waren daran interessiert, die Bestandteile von „Practicing Empathy #1“ mit dem Publikum zu teilen, allerdings ohne sie wirklich zu erklären. Auf der Grundlage dieser Begegnungen entwickelten wir eine zweite, partizipative Praxis, die als interaktive Aufwärmübung und vertrauensbildende Maßnahme eingesetzt werden konnte.
Als erstes hat die Company von Januar bis März 2020 einen langen Workshop abgehalten, zusammen mit Müttern aus der arabischen Community in Jaffa. Dadurch, dass wir unsere Erkenntnisse mit diesen wunderbaren Frauen geteilt haben, die ich durch die Schule meiner Tochter kannte, war es möglich, persönliche Geschichten auf eine sich gegenseitig bestärkende Weise auszutauschen und so gemeinsame Tänze der Empathie zu entwickeln.
Danach haben Monika Gillette, die Dramaturgin Anais Rödel und ich damit begonnen, eine Residenzwoche am tanzhaus nrw zu konzipieren, in der Absicht, verschiedene, mit dem Haus verbundene Gemeinschaften einzubeziehen und sie zur Teilnahme an einem Workshop mit der Company einzuladen. Jeden Tag haben wir uns mit einer anderen Gruppe getroffen: mit Migrant:innen, mit Menschen, die mit Parkinson leben, mit einer Jugendgruppe, mit Senior:innen, und auch mit professionellen Tänzer:innen. Jedes dieser Treffen haben wir speziell auf die jeweilige Gruppe zugeschnitten und die Gelegenheit genutzt, unsere partizipative Praxis vorzustellen, die sich mit jedem Tag weiterentwickelt und verändert hat. Bei all diesen Treffen haben wir Erfahrungen von großer Offenheit, von Freude, Gesang, Tanz und auch Tränen geteilt, und dementsprechend stark waren die zwischenmenschlichen Bindungen, die sich daraus entwickelt haben.
Die Treffen boten außerdem die Möglichkeit, sich über Themen wie die deutsch-jüdischen Be-ziehungen, Krankheiten, Vertrauen, Altern sowie über die Auswirkungen und Existenz unterschiedlicher kultureller Tanzhintergründe auszutauschen. „Practicing Empathie #2“ kam nie zur Premiere. Viele Impulse des Stückes hätten Berührung, Atmen und physische Nähe zwischen Fremden in einer Weise erfordert, die durch die Verbreitung von COVID-19 untragbar wurde. Nach dem Ende des ersten Lockdowns in Israel im Frühjahr 2020, als der Company endlich wieder Treffen erlaubt waren, beschlossen wir, aus dem angesammelten Recherchematerial eine andere Fassung des Werkes für das Festival Hatira Le‘Maga (Streben nach Berufung) am Habeit Theater in Jaffa zu entwickeln. Dieses Festival gab Werke für je zwei bis fünf Zuschauer:innen in Auftrag.
„Practicing Empathy #2by2“ hat auf den geforderten Abstand von zwei Metern im Sinne des Social Distancing so reagiert, dass eine Einladung an ein Publikum von zwei Personen erging, gemeinsam mit zwei Performer:innen in einer nonverbalen Reise gegenseitiger Bewegung, Interaktion und Vertrauen aufzubauen. Das zwei mal zwei Meter große Quadrat, in dem die Choreografie stattfand, war auf dem Boden markiert. So haben wir ein Gefühl der Sicherheit geschaffen, das es ermöglicht, Nähe und Empathie zu praktizieren, insbesondere nach dem Trauma der Pandemie, die so stark in unser aller Leben eingegriffen hat. Obwohl sich diese Arbeit stark von dem ursprünglichen Entwurf von „Practicing Empathy #2“ unterschied, fußten Erkenntnis und Herangehensweise sehr wohl auf dem Wis-sen und der Erfahrung, die wir während der Residenzwoche am tanzhaus nrw gesammelt hatten.
Ursprünglich war vorgesehen, dass „Practicing Empathy #3“ als gemeinsame Arbeit meiner Company mit verschiedenen Communities entsteht und aufgeführt wird, während wir mit den anderen beiden Arbeiten auf Tour gehen. Nach so vielen Jahren des Reisens wollte ich gern den Austausch, den wir als Company mit Menschen vor Ort hatten, über die Aufführungen hinaus ausweiten und noch mehr über Em-pathie lernen.
Im Kern sollte das Projekt „Practicing Empathy“ den Ansatz des gegenseitigen Austauschs verfolgen, und zwar in unterschiedlichen Formen. Die ursprüngliche Idee von „Practicing Empathy #3“ war ein einwöchiger Workshop und Proben mit Leuten vor Ort, einschließlich einer informellen Aufführung als Reihe mit den beiden anderen Arbeiten. Jedoch wurde mir klar schnell klar, dass eine Tour unter Pandemie-Bedingungen nicht umsetzbar ist, also begann ich, allein im Studio zu arbeiten.
Bis heute inspiriert mich die Komplexität des Themas Empathie und die Tatsache, dass sie nicht nur auf eine Weise gezeigt werden kann, sondern sich künstlerisch, zwischen-menschlich oder gesellschaftlich äußern kann. In dem Moment, in dem ich mich dem Tanz als Kunstform verschreibe, verpflichte ich mich auch dazu, mit anderen Menschen zusammenzutreffen und mich auf sie einzulassen. Ich möchte die kostbare gemeinsame Zeit einer Performance dafür nutzen, Menschen behutsam in Richtung Offenheit, Neugierde und Sensibilität zu bewegen, auch wenn dies manchmal Ver-wirrung hervorruft und Herausforderungen mit sich bringt. Dies kann sich auf persönlicher Ebene auswirken, aber auch in Fragen von Hierarchien, Konflikten und Vorurteilen. Ich hoffe, auch weiterhin Verbindungen zwischen diesen unter-schiedlichen Formen der Empathie zu finden und sie als eine Art Sensor nutzen zu können, der mich auf meinem eigenen Weg navigiert.
Gekürzte Version, die vollständige Textversion erschien 2022 in der Veröffentlichung „Gegenwart choreografieren“, herausgegeben von tanzhaus nrw und Alexander Verlag Berlin.
Yasmeen Godder wurde in Jerusalem geboren und wuchs in New York City auf, wo sie auch Tanz studierte. Seit 1999 lebt und arbeitet sie wieder in Israel. Als Choreografin tourt sie mit ihrer Company weltweit. In ihrem Studio in Jaffa, das Recherche- und Produktionsort ist, unterrichtet sie und veranstaltet zahlreiche Projekte, u.a. mit der arabisch-jüdischen Community. In den letzten Jahren entwickelte sie zudem mit der Dramaturgin und Tänzerin Monica Gilette eine intensive Arbeit gemeinsam mit Menschen mit Parkinson-Krankheit, die einen großen Einfluss auf ihre künstlerische Praxis hatte. 2001 gewann Godder den renommierten Bessie Award, gefolgt von einer Vielzahl anderer internationaler Auszeichnungen. 2018 erhielt sie die Valeska-Geert-Gastprofessur am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin.
16. – 24.09.2022
Come Together
Festival
16./17.09.2022
The Way You Look (at me) Tonight
Claire Cunningham & Jess Curtis
16./17./18.09.2022
Figuring Age
Boglárka Börcsök
17./18.09.2022
GOLA 4th Movement
Reut Shemesh
20./21.09.2022
Practicing Empathy #1/#2by2/#3
Yasmeen Godder
22./24.09.2022
Ein kollektiver Zauberspruch für die Erde
Agata Siniarska
22.–24.09.2022
Compost Composing
KOMA&Ko/Magdalena Weniger
23./24.09.2022
Im/Mobility
Lotte Mueller
23./24.09.2022
Archive of Feelings: Instanbul
Gizem Aksu
+ Workshops, Gespräche, Filmscreenings
Außerdem sind drei weitere Choreograf:innen als Residenzkünstler:innen zu Gast in HELLERAU: Wen Hui, Pawel Sakowicz sowie Katia Manjate und Amilton Neves.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grund-lage des vom Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.
Statement of Solidarity with the Ukrainian people
Für 2,00€ erhalten geflüchtete Personen aus der Ukraine gegen Vorlage eines entsprechenden Nachweises Eintritt zu unseren Vorstellungen.
Біженці з України можуть потрапити на наші вистави за €2,00 за наявності відповідних документів.
Das Bündnis internationaler Produktionshäuser verurteilt aufs Schärfste den Einmarsch und Kriegsbeginn durch russische Truppen in der Ukraine und den damit verbundenen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Wir sind schockiert über dieses Ausmaß an Verletzung von Menschenrechten, über die Gewaltausübung an der ukrainischen Bevölkerung und über die außerordentliche Gefährdung des Friedens in Europa.
Wir erklären uns solidarisch mit allen friedliebenden Menschen und wir stehen ein für den Schutz demokratischer, offener Gesellschaften. Als international arbeitende Produktionshäuser nutzen wir unsere Kontakte und Netzwerke, um mit unseren Möglichkeiten und Arbeitsprogrammen den bedrohten Künstler:innen und Kolleg:innen eine Stimme zu geben und ihnen zur Seite zu stehen.
Альянс міжнародних виробників рішуче засуджує початок війни і вторгнення російських військ в Україну та пов’язане з цим різке порушення міжнародного права. Ми шоковані рівнем порушень прав людини, насильством проти українського населення та надзвичайною загрозою миру в Європі.
Ми заявляємо про нашу солідарність з усіма миролюбними людьми і стаємо на захист демократичних, відкритих суспільств. Як міжнародні виробникі, ми використовуємо наші контакти та мережі, щоб надати голос митцям і колегам, яким загрожує небезпека, і підтримати їх у наших можливостях та робочих програмах.