BREATHING MEMORIES, TRANSPARENT HISTORIES, #2 – 2020

Die Tänzerin und Choreografin Gizem Aksu berichtet über ihre Erfahrungen während ihrer Residenzzeit in HELLERAU.

„Mit dem Atem kommt die Vorstellungskraft, mit dem Atem kommt die Möglichkeit.“ (Sara Ahmed)

Wie können Tanz und Choreografie das Leben atmungsaktiver machen? Wie können wir, Tänzer*innen und Choreograf*innen, das Bewusstsein im Atem kultivieren, um gegen die erdrückende Gewalt von Neoliberalismus, Rassismus und Militarismus zu kämpfen? Das sind die Schlüsselfragen, die sich mir am Ende meiner Residenz in HELLERAU stellen. Ich bin glücklich, dass ich die pandemische Situation in HELLERAU verbracht habe, begleitet von Vögeln, Bäumen, bunten chemischen Reaktionen der Wolken, Geistern von Generationen von Künstler*innen, Aktivist*innen und Soldat*innen. Ich war an einem Ort, der mich jeden Tag daran erinnerte, dass das Leben gegenwärtig ist. In dieser Gegenwart verstand ich sehr gut, dass die „Selbstisolierung“ bereits ein diskursives menschliches Konzept ist, um die Situation zu beherrschen. Wie können wir uns von der augenblicklichen, spontanen, transkörperlichen Lebenskraft isolieren, die uns das Universum in jedem Augenblick bietet? Selbst wenn wir tot sind, ist der menschliche Körper weiterhin Teil des biologischen, chemischen, energetischen Lebens, das immer gegenwärtig ist. Der menschliche Körper weist immer über sich hinaus. Diese Transkorporalität macht unseren Körper erst lebendig. Die Pandemie-Erfahrung erinnert mich daran, wie der menschliche Körper mit seiner Umwelt und seiner Umgebung verbunden und von ihr abhängig ist. Unser Fleisch ist nicht die Grenze, sondern der Durchgang für diese Transkörperlichkeit, unser Atem ist nicht nur mechanisch, sondern auch ökologisch. Die Relationalität des menschlichen Körpers kann durch den Atem gelesen werden. Dennoch mag es herausfordernd sein, diese transkorporale Existenz innerhalb der Durchlässigkeit des Atems zu erkennen, weil es schwierig ist, die transparente Qualität „scheinbar undurchsichtiger Körper, einschließlich des menschlichen Körpers“ wahrzunehmen. In der transparenten Gegenwart des Atems werden viele Leiden, Traumata, Einschränkungen und Pandemien geschrieben. Transparente Geschichten von Erstickung, Unterdrückung, Kampf, Konflikt und Widerstand. In diesen Zusammenhang entwickelte ich während der Residenz die Projekte „Archiv der Gefühle: HELLERAU“, „Selbstisolation“ und „Ein atmendes Gedicht“. Ich hatte nicht immer so viel Glück: Es war traumatisch, mich 2016 „selbst zu isolieren“, während in Istanbul Bombenexplosionen stattfanden. Wer kann nicht atmen? Wessen Leben ist atmungsfähig? Die Atmung ist nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch, politisch und ökonomisch zu begreifen. Rukeli Trollman wurde während der Isolation in Dresden mein geistiger Freund. Ich besuchte ihn oft in seinem von der BEWEGUNG NURR geschaffenen Denkmal im Garten. Es war absolut atemberaubend, von ihm das Boxen zu lernen, wie ich einst den Volkstanz der Sinti und Roma lernte. Ich wollte eine körperliche, verschwitzte Performance schaffen, um an seine Kampfgeschichte zu erinnern. In meiner Perspektive greifen in der Bewegung Körper, Spiritualität und Politik ineinander. Der Körper erstickt, wenn das System sein Potenzial nur auf körperliche Arbeit reduziert, um Profit zu machen und hegemoniale oder nackte Gewalt zu reproduzieren. Diese Art von spirituellen Begegnungen ermöglicht es uns, aus der Geschichte des anderen zu lernen, die lineare Geschichte von Zeit und Raum zu durchqueren und uns jenseits des kartesianischen Verständnisses von Körper zu treffen. Körper verschwinden, aber transparente Spuren unserer Körper können bleiben. Meine Zeit in HELLERAU war geprägt von der Suche nach solchen Spuren. Meine Forschungsmethode würde ich als mikroskopische Aufmerksamkeit beschreiben, die auf die Suche nach transparenten Spuren gegangen ist: dem Hören der Stille der Geschichte und dem Bezeugen der Gegenwart der Architektur. Jeden Morgen betrachtete ich das Yin-Yang-Symbol auf dem Dach des Festspielhauses. Ich erinnerte mich daran, wie sehr wir miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, ich versuchte, die non-duale Präsenz von Ausatmung und Einatmung zu spüren. Ich versuchte, die Non-Dualität in meiner Transkörperlichkeit zu spüren. Ich versuchte, Hoffnung einzuatmen, mehr auf Gerechtigkeit zu drängen. Ich glaube, dass Tanz und Choreografie das Bewusstsein im Atem kultivieren können. Statt mich der Flut an Informationen in der globalen Paniksituation hinzugeben, versuchte ich meine Gegenwart zu spüren. Der lokale Raum navigierte meinen Körper, meinen Geist und meine Seele in unerwartete Richtungen. Die Verortung meiner selbst gab mir einen konkreten Boden, auf dem ich meine künstlerische Forschung beginnen konnte. Ich ließ mich von den lokalen Bedingungen bewegen. Dann wurde ich transparent. Dann wurde ich zum Atem. Für all dies herzlichen Dank an das Europäische Zentrum der Künste HELLERAU, Zentrum für Inspiration, Zentrum der freien Meinungsäußerung, Heim zur Selbstisolierung. Zentrum für soziale Gemeinschaft, Zentrum für geistige Reinigung, Zentrum für kreative Einatmung, Zentrum für künstlerische Ausatmung.

Gizem Aksu war im Rahmen des Residenzprogrammes „Be Mobile – Create Together“ von März bis Juni 2020 in HELLERAU und arbeitete hier unter anderem an ihrem Projekt „Archiv der Gefühle“.

„Be mobile – Create Together“ wird getragen von Institut français de Turquie, Niederländische Botschaft in der Türkei, Goethe-Institut Istanbul und Istanbul Foundation for Culture and Arts (İKSV).

Mehr Infos unter www.hellerau.org/residenzen