Bandstand Musikvideos 2022, #1 – 2022

Das Musikvideo hat inzwischen eine lange, bewegte, teils zwiespältige, unbedingt aber auch aufregende und großartige Geschichte – und es hat definitiv eine Zukunft: 2021 öffnete sich das Musikfestival Bandstand unter der Leitung von Rosa Müller und Moritz Lobeck den digitalen Medien und präsentierte sich (nicht ganz freiwillig) ausschließlich online mit zahlreichen neuen Musikvideos. Nach dem Erfolg dieses Formats wird es auch 2022, neben der inzwischen bewährten Residenz-Kooperation mit Musicboard Berlin und mit Support vom Musikfonds, brandneue Bandstand Musikvideos geben. Aus den zahlreichen Bewerbungen des diesjährigen Open Calls hat die Bandstand-Jury, Stephanie von Beauvais, Sarah Farina und Rosa Müller, Musikprojekte, Bands und Solokünstler:innen mit Lebens- und Schaffensmittelpunkt in Sachsen ausgewählt. Ab März 2022 werden die nagelneuen Videos von AMORE MEOW, Baumarkt, DRONE OPERATØR, EVÎN, H.C. BEHRENDTSEN, Lea Matika, Olicía und The Equipment auf hellerau.live präsentiert. 

Wachstum dank Video 

Ein kleiner Exkurs von Tobi Müller 

Die Kultur der Musikvideos hatte in den Achtzigerjahren weniger ästhetische als ökonomische Folgen. Jenseits von knalligen Farben, schnellen Schnitten und sexualisierten Körpern in den Videos stellt der 1981 gegründete Sender MTV ab 1981 eine neue Dramaturgie vor, nämlich die der Unendlichkeit. Damals völlig verrückt: Music Television sendet vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen. Wer dran bleibt, erfährt einen psychedelischen Flow, bis hin zum Schwindel. Es ist ein ähnlicher Effekt, den die breite Bevölkerung erst in den Zehnerjahren des neuen Jahrtausends auf den Smartphones kennenlernen wird: das „endless scrolling“ in den sozialen Medien, wenn die Timeline kein Ende mehr kennt und man immer weiter nach unten wischen kann. Wir sollen auf keinen Fall aus- oder abschalten.  

Am Anfang der Achtzigerjahre steckte die Tonträgerindustrie in der Krise. Musikvideos waren auch ein neuer Kanal, um zu wachsen und Musik breiter zu verteilen. Fast gleichzeitig verändert ein anderes Gerät den Musikkonsum und prägt die Achtzigerjahre genauso: der Walkman von Sony und bald von anderen Herstellern. Der Bewegungsradius wird größer, die Durchdringung bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist hoch (die Älteren tragen, im Gegensatz zu heute, damals keine Kopfhörer in der Öffentlichkeit). Das führt auch dazu, dass öfter und länger Musik gehört wird. Für den Walkman gilt dasselbe wie für MTV: Der Konsum ist potenziell endlos, die meisten Geräte laufen im Auto-Reverse-Modus, ein Seitenwechsel der Tonbandkassette entfällt – zumindest solange die Batterien halten. Oder die Eltern einem sagen, es sei nun Zeit, den Fernseher auszumachen.  

Die Krise der Industrie zu Beginn des Jahrzehnts erscheint auch dank dieser Technologien und ihrer Geräte bald nur noch wie das Luftholen vor dem Höhenflug. Zwischen 1980 und 1993 steigen die Umsätze für Tonträger in den fünf stärksten Territorien USA, Großbritannien, Japan, Frankreich und Deutschland von neun auf dreißig Milliarden Dollar. Globale, auch musikferne Unternehmen investieren in den Musikmarkt, Fusionen großer Plattenfirmen verstärken die Marktkonzentration.

Doch diese Entwicklung war keinesfalls vorauszusehen. Als MTV am 1. August 1981 das erste Video ausstrahlt, ist der Sender nur in den USA und über teuren Kabelanschluss zu empfangen. Und auch wenn stets das erste auf dem Sender gespielte Video erwähnt, weil der Titel so gut passt, sprach aus „Video Killed The Radio Star“ von The Buggles bloß ein frommer Wunsch. Denn Radio war kein bisschen tot, erst recht nicht in einer Car Culture wie den USA. Gerne vergessen wird heute auch, dass Pop gerade in West-Europa Mangelware war.  

Man schaute, was die Eltern schauten, und einmal wöchentlich gab es eine Jugendsendung. Wenn The Buggles behaupteten, dass die Zeit des Radios nun vorbei sei, kratzte man sich in Europa am Kopf: Welches Radio denn? Denn auch da musste sich die popinteressierte Jugend mit vereinzelten Spartensendungen begnügen, außer man drehte auf Kurzwelle und fand luxemburgische oder britische Sender. In Westdeutschland waren es je nach Besatzungszone die Sender der britischen oder der US-amerikanischen Streitkräfte, die Popkultur ins Kinderzimmer brachten. Und in der DDR kam mit Elf99 kurz vor dem Mauerfall die erste Videosendung ins Programm, im Radio gab es ab 1986 mit DT64 einen eigenständigen Popsender. Video hat damit nicht das Radio gekillt, das es für Jugendliche noch gar nicht gab, sondern den Markt vergrößert.  

Lange bevor MTV erst 1987 mit einem europäischen Programm ins Kabelnetz aufgenommen wurde, war der Sender auch ein Testfeld, das vieles von dem bereits durchspielte, was später im Internet viel höher skalieren konnte: Die Entgrenzung und Aufspaltung von Märkten in einzelne Zielgruppen. Doch MTV fügte auch zusammen: Der Sender hätte ab Mitte der Achtzigerjahre nie so stark auf Hip-Hop und auch schwarze Dance Music gesetzt, wenn die weißen Vorstadtkinder nicht darauf gewartet hätten. Der gesellschaftliche Fortschritt, der mit mehr Diversität im Programm einhergeht, folgte gleichzeitig einer kapitalistischen Logik des Wachstums, im Pop des sich ausbreitenden Netzwerkes. Nicht umsonst heißt Fernsehsender auf US-Englisch „Network“. Tobi Müller ist freischaffender Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt und spricht über Pop, Darstellende Künste und Digitalität. Im Herbst 2021 erschien sein Buch „Play Pause Repeat – Was Pop und seine Geräte über uns Das Musikvideo hat inzwischen eine lange, bewegte, teils erzählen“ bei Hanser Berlin. 

07. – 13.03.2022  
Bandstand Musikvideos
www.hellerau.live 
Bandstand wird gefördert durch den Musikfonds e.V. aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.