Aksana Haiko, Frau mit Automat; Foto: Evgeny Bgancev

5 Tage Belarus, #1 – 2022

„Und doch ist die Energie des letzten Sommers nicht verschwunden. Sie hat sich verborgen und wartet. Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst. Wer in den Strom der Revolution eingetreten ist, für den gibt es kein Zurück.“ 
Artur Klinau (Acht Tage Revolution: Ein dokumentarisches Journal aus Minsk, Suhrkamp Verlag Berlin 2021) 

„Weißer Fleck“ nannte der Historiker Thomas Bohn einmal Belarus. Ein weißer Fleck ist Belarus seit dem 9. August 2020 nicht mehr. Nach der gefälschten Präsidentenwahl gingen Tausende auf die Straßen und protestierten friedlich. Das Regime antwortete mit brutaler Polizeigewalt, Gefängnis und Folter. Bilder der friedlichen Proteste von tausenden von Menschen mit Blumen, den belarussischen Farben, mit Liedern und spontanen Begegnungen und ihre gewalttätige Zerschlagung gingen um die Welt.

Trotz aller Gewalt bildete sich in den Wochen nach der gefälschten Präsidentenwahl eine von allen gesellschaftlichen Schichten getragene, mutige, gewaltfreie und dezentrale selbstorganisierte Protestbewegung heraus. Im Zentrum des Protestes standen Frauen, die die Staatsmacht immer wieder kreativ herausforderten. Belarus zeigte, dass hier eine neue postsowjetische Generation herangewachsen war, deren Einsatz für Demokratie, Gleichberechtigung und Mitsprache in einem breiteren Kontext europäischer und globaler Emanzipationsbewegungen zu sehen ist. Von Anfang an waren Künstler:innen maßgeblich an den Protesten beteiligt. Schon im Vorfeld der Wahl unterstützten und förderten die Künste demokratische Prozesse. Unabhängige Kunstorte bildeten Freiräume, in denen sich die Zivilgesellschaft traf. Die sich hier entwickelnde junge Szene emanzipierte sich von Kanon und Traditionen der Sowjetzeit und tauschte sich über neue künstlerische Formate mit internationalen Kolleg:innen aus.

Die großen Massenproteste sind vorerst Geschichte. Das Regime säubert systematisch und zerstört jegliches zivilgesellschaftliches Engagement. Unabhängige Institutionen und Medien werden verboten.

Umso wichtiger ist es, den Kontakt zu Akteur:innen der Zivilgesellschaft und zu Künstler:innen aus Belarus nicht abreißen zu lassen. Viele Akteur:innen haben in den letzten Monaten das Land verlassen und arbeiten jetzt im Exil–in Vilnius, Warschau, Kiew und auch in Deutschland. Sie arbeiten und denken weiter über die Zukunft ihres Landes nach.

Für „5 Tage Belarus“ lädt HELLERAU in einer mehrtägigen Veranstaltungsreihe mit Performances, Vorträgen, Gesprächen, Lesungen und Workshops Protagonist:innen der unabhängigen Kunst- und Kulturszene, aber auch Akteur:innen von NGOs und der Zivilgesellschaft aus Belarus und aus Exilorten belarussischer Künstler:innen nach Dresden ein. Damit möchte HELLERAU eine Wissenslücke über die Situation in Belarus füllen, tiefere Einblicke geben, geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge deutlich machen und Begegnungen herstellen. 

27.04.–01.05.2022 
5 Tage Belarus 
Festival 
Mit Aksana Haiko, Sviatlana Haidalionak, Olga Podgaiskaya, Marina Naprushkina, Julia Cimafiejeva&Alhierd Bacharevic, Olga Shparaga, Igor Shugeleev, Alexander Marchenko, Belarus Free Theatre u.a.  
Mitarbeit Programm: Johannes Kirsten  

Gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. 

Damit die Welt Belarus nicht vergisst 

Die Lyrikerin Julia Cimafiejeva (*1982) und der Prosaautor Alhierd Bacharevic (*1975) gehören zu den bekanntesten Autor:innen aus Belarus. Auf Deutsch sind von Julia Cimafiejeva „Minsk.Tagebuch“ und der Gedichtband „Zirkus“ und von Alhierd Bacharevic die Essaybände  „Sie haben schon verloren“ und „Berlin, Paris und das Dorf“ jeweils in der  edition.fotoTAPETA Berlin erschienen. Bacharevics Opus Magnum „Die Hunde Europas“ wird bei Voland & Quist erscheinen. Zum Festival „5 Tage Belarus“ sind beide Autor:innen zu einer Lesung mit Gespräch eingeladen. Der Dramaturg Johannes Kirsten sprach mit Alhierd Bacharevic. 

Alhierd Bacharevic, Sie und Ihre Frau, die Lyrikerin Julia Cimafiejeva, sind seit Ende November 2020 als „Writer-inExile“ in Graz. Das ist jetzt genau ein Jahr her.  

Der Begriff „Writer-in-Exile“ ist ein bisschen „unbehaglich“: Beide Teile sind wichtig, aber man ignoriert häufig den „Writer“, und nur das Exil ruft Interesse hervor. Glücklicherweise ist das bei uns nicht der Fall. Wir haben in diesem Jahr als Literat:innen viel geschafft. Wir kamen Ende November 2020 psychologisch stark verletzt nach Graz. Was wir in Minsk erlebt haben, ist ein großes Trauma. Unsere literarische Arbeit hat uns geholfen, das durchzustehen.

Das vergangene Jahr war auch ein Jahr zahlreicher Interviews: Julia und ich haben mehr als 70 Interviews für westliche und belarussische Medien gegeben. Seit einem Jahr leben wir in Sicherheit. Für uns gibt es in Graz die besten Bedingungen zum Schreiben und zum Leben, deshalb ist unsere wichtigste Mission jetzt, der Welt von Belarus, von der aktuellen Situation, aber nicht nur von Repressionen und Terror, sondern auch von der belarussischen Sprache und Kultur zu erzählen. Wir wurden überallhin eingeladen. Das Interesse an Belarus war so groß wie nie zuvor. Muss das immer so sein, dass die Welt sich für ein Land nur dann interessiert, wenn in diesem Land Faschismus, Terror und Gewalt herrschen? Wir tun alles, damit die Welt Belarus nicht vergisst. Manchmal muss man schreien, wenn die Welt uns nicht hört. Manche unserer Texte sind Schreie. Im vergangenen Jahr wurden aber auch Julias Bruder und seine Frau in Belarus verhaftet, nur dafür, dass sie Musik auf den Straßenprotesten 2020 gespielt haben. Ihnen drohen mehrere Jahre Haft. Jetzt schreiben wir Briefe an sie ins Gefängnis. Ein neues, sehr trauriges Genre. Es war ein langes und sehr erlebnisreiches Jahr.  

Hat sich Ihr Schreiben verändert?  

Alles, was wir dieses Jahr geschrieben haben, war und ist den Ereignissen in Belarus 2020-2021 gewidmet. Wir können uns nicht so wie früher nur auf unsere persönlichen Erlebnisse konzentrieren. Zu viel Schmerz, zu viel Zorn, zu tief sind die Wunden. Wir schreiben derzeit mehr Essays, mehr Publizistik, mehr Gedichte, weil wir in diesen Formen unsere Emotionen besser ausdrücken können. Es ist keine gute Zeit für Fiction. Um Romane zu schreiben, müssen die Ereignisse ein wenig vergessen werden. Aber in Belarus ändert sich im Moment alles sehr rasch. Wir erinnern uns an alles zu stark, nichts ist vergessen. Wenn wir die Nachrichten lesen oder an unsere Landsleute denken, tut es weh. Ich habe gemerkt, dass ich seit einem Jahr in meinem Schreiben viel häufiger das Wort „wir“ benutze. Wir fühlen gerade viel mehr Einigkeit mit unseren Leser:innen. Und ich fühle, wie ich die Ironie, meine rettende und heilende Ironie verliere. Es ist wirklich schlimm. Wie kann die Literatur ohne Ironie sein? Aber wie man jetzt über Belarus ironisch schreiben kann, weiß ich noch nicht. Die belarussische Literatur belachte immer den Staat, aber jetzt hassen wir dieses Regime. Ich stimme Julia zu, wenn sie sagt, dass die belarussische Literatur heute die Literatur der Zeitzeugnisse werden könnte. Julias „Minsk. Tagebuch“ beschreibt zum Beispiel unseren Alltag in Minsk im Sommer und im Herbst 2020 und auch unser Leben in Graz, als wir Minsk verlassen haben. Eine Dichterin hat ein Tagebuch über den Alltag verfasst–und ich, der Romancier, schreibe viele Gedichte und Publizistik. Wir wählen für uns neue Genres, um uns ausdrücken zu können und schreiben Briefe an unsere politischen Gefangenen – es ist eine große Herausforderung für jede Autorin und jeden Autor.  

Im Sommer 2020 haben die Menschen für einen kurzen Moment ihre Angst verloren. Jetzt ist die Angst wieder da. Wie kann man den „Angststein“ von dem Julia Cimafiejeva in einem Gedicht schreibt, ein für allemal loswerden?  

Angst ist sehr natürlich für einen Menschen, sie schaltet den Mechanismus der Selbstbewahrung an. Nicht nur für eine Person, sondern auch für eine Nation. Einerseits hat die kollektive Angst der Belaruss:innen während der Stalin-Repressionen und während des Krieges zu unserer Bewahrung als Nation beigetragen. Andererseits hat sie dem Regime geholfen, sich so lange zu halten. Julias Gedicht ist eigentlich eine sehr schmerzhafte Reflexion dieses Themas. Die Angst sitzt tief in uns. Wir können uns nicht ohne sie vorstellen. Die Angst um sich selbst und um die Liebsten jagt heute tausende Belaruss:innen aus dem Land. Aber im Exil bewahren sie die Idee der belarussischen Freiheit, die Idee von einem neuen, von einem anderen Belarus. Die Geschichte geht nicht nur durch die Tapferkeit der Menschen weiter, sondern auch durch ihre Angst. So verstehe ich dieses Gedicht. Im Sommer haben wir unsere Angst überwunden und dann kam die Angst wieder. Vor allem weil wir Menschenwesen sind. Es ist unmöglich, keine Angst zu haben. Es ist wichtig, die eigene Angst anzunehmen. Einschüchterung ist die Politik der Mächtigen. Die Reaktion darauf ist Schweigen. Nicht Angst. Aber man kann Angst haben und auch mit Angst weiter widerstehen.  

Ist alles, was im Sommer 2020 erreicht wurde, heute verloren?    

Heute gibt es keine Massenproteste mehr, aber der Protest lebt im Bewusstsein der Menschen in Belarus weiter. Ein Leben wie früher ist unmöglich. Die Menschen glauben dem Staat und der Propaganda nicht mehr. Jede politische, gesellschaftliche, kulturelle Aktivität in Belarus ist jetzt streng verboten. Alle NGOs sind zerstört. Es gibt eine moralische Einigkeit der Belaruss:innen gegen die Diktatur, ein unglaublich großes Interesse an Kultur und Sprache und ein Erstarken der nationalen Identität. Im Sommer 2020 haben sich die Belaruss:innen selbst erkannt und gesehen, wie viele in Belarus trotz aller Propaganda-Beschwörungen Anhänger:innen der Veränderung sind. Dieses Regime war jahrzehntelang sicher, dass die Leute gleichgültig und nicht politisch sind. Im Sommer 2020 wurde Belarus aber auch von der ganzen Welt gesehen. Das sind die wichtigsten Leistungen und Errungenschaften der Revolution.  

Wie sollte ein zukünftiges Zusammenleben in einem Belarus ohne Lukaschenko aussehen? 

Bedauerlicherweise bedeutet ein Belarus ohne Lukaschenko nicht unbedingt ein freies Land. An seine Stelle können neue Verbrecher:innen treten. Unsere Aufgabe ist es, das zu verhindern. Natürlich träumen wir von einem demokratischen, europäischen Land ohne Gewalt, von einer parlamentarischen Republik mit einer starken Selbstverwaltung und ohne zensierendes Kulturministerium, von einem für alle offenen Land, das seine Vergangenheit bewältigt, von einer Gesellschaft, die ihre historische Verantwortung versteht. 

Ich habe Angst   
Ich bin daheim.  
Als Erbstück erhielt ich meine Angst – 
eine Familienreliquie,  
ein wertvoller Stein,  
weitergegeben  
von Generation 
zu Generation.   
aus: „Der Angststein“ von Julia Cimafiejeva 

01.05.2022 
Julia Cimafiejeva & Alhierd Bacharevic 
Lesung

Wer, wenn nicht wir. Wann, wenn nicht jetzt. 

Von Marina Naprushkina  

Mama 
Mama zeigt stolz auf die weißen Chrysanthemen in der Kristallvase. Von der Demonstration, sagt sie zu mir. Du kennst Tante Lena, sie verpasst ja keine einzige Protestaktion. Lena hat eine Schwester. Die ist wirklich eine Aktivistin. Sie meinte nur: Wie, du kommst nicht mit? Natürlich bin ich mitgegangen.  

Freundin  
Ich habe Schiss. Und wie. Aber ich weiß: Ich kann nicht NICHT hingehen. Verstehst du? Meine Kinder schmieren mir morgens ein Brot und sagen: Mama, nimm mit, falls du heute Abend nicht nach Hause zurückkommst. Ich frage euch, ist das normal?  

Videobeschreibung #1  
Abendlicht, im Hof des Gefängnisgebäudes. Um die zwanzig Männer in schwarzer Kleidung und Polizeiuniformen mit Schlagstöcken in den Händen. Sie warten. Manche von ihnen tragen Masken. Ins Bild rennen Menschen, die aus einem Wagen getrieben werden, einzeln. Sie rennen mit den Händen hinter dem Kopf, Kopf nach unten. Sobald eine Person ins Bild gerannt kommt, schlagen die Uniformierten mit Schlagstöcken auf sie ein. Runter den Kopf, Arschloch! Lauf, Arschloch, schneller! Komm schon, du Miststück, schneller! Menschenschreie, wieder Schläge zu hören. Auf die Knie! Auf die Knie! Schreie. Die Geschlagenen schreien vor Schmerzen. Kurz vor der Wand fällt einer der Geschlagenen auf die Knie. Etwa 30 Menschen rennen durch den „Korridor“. Alle? Nein, jetzt kommt die Elite! Sekunden später rennt wieder eine Person ins Bild. Kopf runter, verdammt! Lauf, Du Arsch! Auf die Knie! Abschaum! Hier ist es, hier ist das Miststück, Vieh, schlag drauf, eine Zugabe bitte! Es wird geschlagen. Schneller, mehr, kommt! Vitaĺ, gibt es noch weitere? Hier bricht die Aufnahme ab. 

Tante Tanja 
Das mit einem Grabstein für Großvater wird in diesem Monat nichts. Ich konnte in der Werkstatt keinen erreichen. Dann habe ich rausgefunden, dass die beiden Handwerker in der Nacht nach der Wahl festgenommen wurden. Einer ist im Krankenhaus, geschlagen, zwei Rippen sind gebrochen.  

Sicherheit  
Wenn ihr Barrikaden, OMON-Kräfte oder mögliche Provokationen seht, lasst euch nicht in eine Ecke treiben. Verstreut euch durch die Höfe, wählt Umwege und benachbarte Straßen. Es gibt zehn Möglichkeiten, wie ihr zur Partyzanski-Allee kommt! Ladet vorher den Stadtplan auf euer Gerät herunter! Seid vorsichtig, bewegt euch in großen Gruppen und lasst euch nicht von unbekannten Personen in Masken entführen. Bei Blockaden sucht nach einem Umweg! Und vergesst nicht Masken, Hüte und Ersatzhandy.  

Bildbeschreibung #3  
Mehrere Menschen stehen auf der Straße und blockieren den Verkehr. Sie haben ein Banner über die Straße gespannt: 5 Tote, 13.550 Inhaftierte, 450 Folterfälle, 73 politische Gefangene. UND DU HAST ANGST  

Aus dem Chat  
Ich melde mich später. Beide Hände voll mit Regenschirm und Flagge.  

Marina Naprushkina (*1981 in Minsk) ist Bildende Künstlerin, Aktivistin und Autorin. 2007 gründete sie das Büro für Antipropaganda und 2013 die Initiative „Neue Nachbarschaft/Moabit“. 2015 erhielt sie den Sussmann Artist Award, 2017 den ECF Princess Margriet Award for Culture. Für „5 Tage Belarus“ entwickelt sie eine performative Arbeit. Die Textauszüge stammen aus „Wer, wenn nicht wir. Wann, wenn nicht jetzt“ von Marina Naprushkina, erschienen in: Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution, Herausgegeben von Andreas Roste, Nina Weller, Thomas Weiler, Tina Wünschmann; edition.fotoTAPETA, 2020