Bild: Victoria Lomasko

Voices: Victoria Lomasko, #2 – 2021

Victoria Lomasko war Artist in Residence beim Festival „Karussell – Zeitgenössische Perspektiven russischer Kunst“ im Januar 2020. Damals ahnte kaum jemand, dass das folgende Jahr so bewegt werden würde: die Pandemie, die Proteste gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus, der Giftanschlag auf Alexej Nawalny. Johannes Kirsten, Kurator von „Karussell“, sprach mit Victoria Lomasko anlässlich ihres von Januar bis Sommer 2021 regelmäßig erschienenen gezeichneten Tagebuchs über die aktuellen Ereignisse.  

Wie hast du die Präsidentschaftswahlen in Belarus und die sich anschließenden Proteste wahrgenommen? 

Für mich ist das Teil eines großen Themas. Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, Material für ein Buch über den postsowjetischen Raum zu sammeln. Während der Pandemie, als die Revolution in Minsk begann, änderte ich meine Einstellung zu diesem Buch. Vor der Pandemie war es eher von Nostalgie gegenüber der Sowjetunion getragen. Aber während der Pandemie hatte ich es auf einmal satt, in diesem Land mit seinem Regime zu sein und ich habe so gut verstanden, was in Belarus passierte. Auf einmal wusste ich, welche Geschichte ich erzählen möchte, die Geschichte von einer kompletten Befreiung von der Sowjetunion, eine endgültige Verabschiedung der Sowjetunion! Ich bin dann zur belarussischen Botschaft in Moskau gefahren. Dort waren vorwiegend sehr junge Menschen auf einer Solidaritätsaktion für die belarussischen Proteste unterwegs. Bei der ganzen Geschichte mit Belarus und auch mit Nawalny geht es nicht darum, dass Putin ein Dieb ist und er einen Palast hat und Ljoscha Nawalny ein Prachtkerl ist, nein – es geht darum, dass ein Generationswechsel stattfindet. Es gibt die sowjetische Generation, es gibt die postsowjetische Generation und es gibt eine neue Generation, die überhaupt nichts mehr von der Sowjetunion weiß und davon auch überhaupt nichts mehr wissen will. Sie möchten ein anderes Leben leben und mit dem sowjetischen Erbe überhaupt nichts mehr zu tun haben. Diejenigen, die noch aus der Sowjetunion kommen, wehren sich mit allen Kräften dagegen. 

Du bist nicht nur zur belarussischen Botschaft in Moskau, sondern auch nach Minsk gefahren, um mit eigenen Augen zu sehen, was passiert. Kannst du von dieser Reise berichten? 

Ich wollte unbedingt nach Minsk fahren. Als ich mich in den Minibus setzte, sah ich, dass ich der einzige Fahrgast war. Der Fahrer sagte, dass niemand mehr kommen würde, denn die Grenzen seien wegen der Pandemie geschlossen. Niemand werde reingelassen und weil er unsicher sei, ob meine Arbeitseinladung wirklich ausreiche, solle ich mich an der Grenze lieber in eine große Reisetasche setzen. Ich war Tag und Nacht unterwegs, um in Minsk anzukommen. „Man kann nicht zeichnen, wenn immer das Gefühl da ist, gleich einen Schlag abzubekommen.“ Dort wurde die Künstlerin Nadja Sayapin verhaftet, eine andere Aktivistin verurteilt und ich war bei der Gerichtsverhandlung dabei. Am nächsten Tag bin ich zur Kundgebung aufgebrochen, wo ich zum ersten Mal gesehen habe, wie Frauen zusammengeschlagen wurden. Das war brutal. Das sah genauso aus wie dann später hier in Moskau am 31. Januar 2021. Menschen wurden einfach auf den Boden geschmissen. Einen Teil meiner Zeit habe ich damit zugebracht, mir die Stadt anzuschauen. Ich wollte sehen, wie sich die Stadt verändert hat und welche Zeichen der Partisan:innen noch erhalten geblieben sind (gemeint sind Zeichen der Opposition, die zahlreichen Graffitis und weiß-rot-weißen Fahnen und Bänder) noch erhalten geblieben sind. Ich wollte sehen, wie das gewöhnliche Leben zu einem ungewöhnlichen geworden ist und wartete auf diese Großdemonstration, die immer sonntags stattfand. Eigentlich passiert alles spontan. Wo sich die Menschen treffen, wohin sie aufbrechen – alles passiert spontan. Die Aktivistin, die mich beherbergt hat, musste an diesem Tag woanders hin. Ihre Schwester, die nichts mit den Protesten und Kundgebungen zu tun hatte, wollte mich dennoch begleiten. Wir hatten Angst. Nichts war klar. Wenn ich festgenommen werde, werde ich dann zurückgeschickt, mit einem Einreiseverbot belegt, oder werde ich einem Gerichtsverfahren zugeführt? 

Ich habe bei Instagram gesehen, dass du auch am „Platz des Wandels“ warst (ein von den Demonstrant:innen so genannter Platz, ein Hof zwischen Wohnhäusern, wo auf ein Trafohäuschen ein Graffiti gesprüht wurde, das zu einem Symbolbild des Protests geworden ist). 

Ja, ich bin da gewesen. Ich war auch bei einer Gerichtsverhandlung gegen die Organisator:innen der Streiks. Ich habe viele Zeichnungen gemacht und eine lokale Zeitung hat Nachrichten publiziert und sie mit meinen Zeichnungen versehen. Im September 2020 hatten wir eine ganz andere Welt. Große Demonstrationen. Jetzt wissen wir überhaupt nicht, welche Zeit anbrechen wird. Ich glaube aber, dass bestimmte Veränderungen vonstatten gehen werden – nicht nur von unten, nicht nur, dass Menschen auf die Straße gehen. Es wird auch Veränderungen von oben geben.