loose ends …

Suchbewegungen zwischen HELLERAU und JVA zu Helmut Oehrings „EURYDIKE? vol. 2“

Ein utopischer und ein dystopischer Raum, ein avantgardistisch geprägtes Festspielhaus und ein mit Foucault beschreibbarer Strafapparat, Ober- und Unterwelt – was verbindet die beiden Orte? Wie lässt sich der Mythos um die im Hades verschwindende Eurydike im Spannungsfeld von Schuld, (weiblicher) Opfer- und (männlicher) Täterschaft, Isolation und Kommunikationsunfähigkeit lesen, das durch Helmut Oehrings Arbeit erzeugt wird? Und kann die Unterwelt für Eurydike gar zu einem eigenen Raum im Sinne Virginia Woolfs werden, an dem ihre Stimme erstmals erklingen darf?

Diese Seite starten Dramaturgiestudierende der HMT Leipzig als Satelliten, der die bei Oehring angelegten Themen umkreist und so zusätzliche und andere Perspektiven auf sie ermöglicht. Der vielfältige Themenfundus des Projekts wird als Anregung verstanden und um eigene Impulse ergänzt; die audiovisuelle Polyphonie bei Oehring findet ihre Entsprechung in der vielstimmigen Auseinandersetzung mit ihm. Die Beiträge sind keinem Ordnungsprinzip unterworfen und erlauben es, Materialien durch Verweise kommunizieren zu lassen, um immer neue Verknüpfungen herzustellen. „Loose ends…“ folgt keiner Chronologie und lädt dazu ein, an verschiedenen Stellen zu beginnen, durch die Beiträge zu springen und dabei unerwartete Wechselwirkungen zu entdecken.

Indem sich auditive mit visuellen Beiträgen abwechseln, eingesprochene Gedichte auf Gebärdenvideos oder kurze Texte folgen, werden Angebote sowohl an gehörlose als auch an hörende Menschen gemacht: Die Leerstelle zwischen Sehen und Hören soll nicht geleugnet werden, zugleich wird jedoch der Versuch unternommen, Brücken zwischen beiden Welten zu schlagen.

 Im Anfang war die Gebärde.
Der Anfang ist bei mir innen, immer Gebärde.
Kein Wort.
Ich höre mit den Augen. Mit anderen Augen.“

(Helmut Oehring, Mit anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten, München: btb Verlag, 2011, S. 11)

Helmut Oehring zu „Eurydike? vol. 2“

Nach der Audio-Video-Installation „Eurydike vol. 1“ 2019 beim TONLAGEN Festival / SPOR Festival Århus / KONTRAKLANG Festival der Akademie der Künste Berlin setzen Helmut Oehring, Stefanie Wördemann und Torsten Ottersberg mit „Eurydike? vol. 2“ den aktuellen Zyklus dokumentarpoetischer Werke mit Fokus auf isolierte weibliche Perspektiven in männlich tradierten Dramen fort. Das Tanz-Film-Requiem folgt Eurydike auf ihrem Weg aus der „Unterwelt“ – Isolation, äußerer wie innerer Gefangenschaft – zurück in die Gesellschaft und spiegelt Existenzen zwischen Opfer- und Täterschaft, Rache und Reue, Versuchen und Scheitern, Hoffnung und Kapitulation. Es portraitiert zugleich Häftlinge der JVA Dresden und Bautzen – Menschen, gefangen zwischen den Extremen von lebenslanger Haft und gesellschaftlicher wie medialer Isolation, möglicher Freilassung und „Resozialisierung“ in den gesellschaftlichen Alltag.

Monteverdis „L’Orfeo“

Musikalisch setzt sich Oehrings vokalinstrumentales audiovisuelles Tanz-Requiem „EURYDIKE? vol. 2“ mit Claudio Monteverdis „L’Orfeo” auseinander.

HALB-WEGS
ein virtueller Spaziergang vom Festspielhaus Hellerau zur JVA Dresden

3,8 Kilometer und 49 Minuten Fußweg liegen zwischen dem Festspielhaus Hellerau und der Justizvollzugsanstalt Dresden. Nur ein Stück Wald trennt die Institutionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
In seiner Produktion „EURYDIKE vol. 2” verbindet der Komponist Helmut Oehring diese beiden Orte, indem er für seine in Hellerau geplante Produktion unter anderem mit Inhaftierten der JVA kooperiert. Vor diesem Hintergrund widmen sich die Studentinnen Sofie Boiten und Maria Obermeier dem Weg zwischen beiden Institutionen und gehen den Fragen nach, welche Berührungspunkte die beiden Orte haben, was sie trennt und was einem auf der Strecke dazwischen begegnet.
Dabei erleben sie eine gewisse Unerreichbarkeit der beiden Orte – nicht nur die JVA Dresden ist für die Öffentlichkeit unzugänglich, auch das Festspielhaus Hellerau ist unter den aktuellen Coronabedingungen geschlossen. Deshalb versuchen sie, die eingeschränkte „analoge“ Zugänglichkeit der beiden Orte ins „Virtuelle“ zu erweitern, auf der Suche nach alternativen Eingängen, neuen Blickwinkeln und anderen Perspektiven. Sie verbinden das Konzept des strollen (dt. spazieren) mit dem des scrollen und verlagern die 3,8 Kilometer-Route ins Internet. Zum Startpunkt gelangen sie hier.

„Diese Eurydike hat sich im Hades eingerichtet, da fühlt sie sich wohl, ein Schatten unter Schatten.“

So Thomas Rothschild zur Erstaufführung von Elfriede Jelineks „Schatten (Eurydike sagt)“.
Zu lesen hier.

Der gesamte Text von Elfriede Jelinek ist zu lesen auf  www.elfriedejelinek.com (Menüpunkt Theater/Theatertexte).

Johann Anton de Peters, Bein- und Handstudie, 1700-1800.

 „Links die Welt der Stille, in der das Auge herrscht und Bewegung Sprache ist. Rechts die laute Welt, die Welt der Anderen. Hier herrscht das Ohr mit dem Auge, die LautSchrift. Eine anziehende Bedrohung. Die Töne, deren Ort, Bewegung, Klang und Sprache, deren Leben und Sterben ich spät kennenlerne, spiegeln für mich etwas wider, das mit der Kategorie, die alles bestimmt, zu tun hat: Unsicherheit. Entbehrung. Tröstung. Kraft.“

(Oehring, Mit anderen Augen, S. 36.)

Dantes und Botticellis Erkundungen des Reiches nach dem Tode

Sandro Botticelli wagte sich Ende des 15. Jahrhunderts an eine vollständige bildliche Darstellung der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri. Der florentinische Poet hatte in seiner Dichtung rund 200 Jahre zuvor eine Wanderung durch das Reich nach dem Tode unternommen. Einige der Zeichnungen einer Reise durch die drei Jenseitsreiche Inferno (Hölle), Purgatorio (Läuterungsberg) und Paradiso (himmlisches Paradies) haben wir hier zueinander in Beziehung gesetzt. Weiteres Bildmaterial und zusätzliche Informationen bietet das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Berlin: smb.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=97475

Im fünfundzwanzigsten Gesang des Purgatorio erkundigt sich Dante danach, wie es möglich sei, dass die Seelen der Verdammten nach Verlust ihres Körpers noch Höllenqualen erleiden können. Ihm wird erklärt, der Geist der Sünder sei immer noch im Besitz seiner Sinne und Empfindungen – eines „Schattenleibs“, der sie die göttliche Strafe auch körperlos spüren lässt:

„Und dann, ganz ebenso wie eine Flamme
Dem Feuer folgen muß, wohin es wandert,
So folgt auch seine neue Form dem Geiste.
Und da sie sich nach seinem Aussehn bildet,
Nennt man sie Schatten, und sie zeugt dann wieder
Aus sich die Sinne alle bis zum Sehen.
So kommt es, daß wir reden, daß wir lachen,
Und daß wir weinen müssen auch und seufzen,
Wie du wohl auf dem Berge hören konntest.
Und je nachdem uns die Begierden quälen,
Und andre Leidenschaften, wird der Schatten
Geformt, und dieses ist´s, was dich verwundert.“

(Zitat aus: Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übersetzt von Hermann Gmelin, Leipzig: Reclam, 1998.)

Überwachen und Strafen

 

(Alle Zitate aus: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Berlin: Suhrkamp, 2019.)

„Komponieren betrifft nicht mehr nur das Ohr, und der Komponist ist nicht mehr nur Spezialist fürs Auditive.

Gemeinhin ordnet man nämlich Ohr und Auge jeweils unterschiedliche kulturelle Funktionsweisen zu: Sehen bezieht sich in erster Linie auf Räumliches, Verharrendes, Hören dagegen auf Zeitliches und Vergehendes; das Auge ist feststellend und distanzbildend und besitzt demgemäß eine Affinität zu Objektivierung sowie zu Erkenntnis und Vergewisserung, während das Ohr als Organ der Passibilität die Welt einlässt, das Ereignishafte präferiert und dem Glauben nahe steht. Und auch in der Kunst sind die Bereiche klar verteilt: Malerei ist die Kunstform des Auges, Musik diejenige für das Ohr. So schematisch solch allgemeine Zuordnungen sein mögen: in ihnen deutet sich an, welches kultur- und kommunikationsgeschichtliche Gewicht einer Prävalenz einer der beiden Sinne zukommt. Die Kunst im 20. Jahrhundert hat sich mit solch einfachen Gegenüberstellungen bekanntlich nicht mehr zufrieden gegeben. Zahlreichen bildenden Künstlern galt es, den Aspekt der Zeitlichkeit im Räumlichen zu betonen, die auditiven Reste im Visuellen aufzuspüren, während Komponisten der scheinbaren Banalität, Musik sei ausschließlich zum Hören bestimmt, entgegenwirkten, indem sie bildlich-räumliche Konfigurationen zum Ausgangspunkt ihrer Musik machten und somit einer musikalischen Dimension zu ihrem Recht verhalfen, die im 19. Jahrhundert weitgehend ausgeblendet blieb.“

(Zitat aus: Daniel Kötter, Das Singen im Dunkeln, in: dissonanz, Nr. 74 (April 2002).)

Stimmlose Eurydike

Unsere Kommilitonin Marie Nandico hat zwei Opern zum Eurydike/Orpheus-Mythos untersucht und den Umfang der Eurydike-Gesangspassagen berechnet. Wir haben eine Position ergänzt. Heraus kam Folgendes:

Euridice (1600)
Jacopo Peri

Libretto: Ottavio Rinuccini
Gesangspassagen von Euridice: Sie singt in 2 Szenen (Szene 1 und 5)
Verhältnis: 5 von 134 Partiturseiten

L’Orfeo (1607)
Claudio Monteverdi
Libretto: Allessandro Striggio
Gesangspassagen der Eurydike: Sie singt in 2 Akten (Akt I und IV)
Verhältnis: 1,5 von 153 Partiturseiten

Orpheus und Eurydike (1762)
Christoph Willibald Gluck
Libretto: Raniero de‘ Calzabigi
Gesangspassagen der Eurydike: Sie singt in 3 Szenen (Dritter Akt, Szenen 1-3)
Verhältnis: ca. 26 von 190 Partiturseiten

(Die Partitur unten zeigt Eurydikes Gesangspassagen aus Monteverdis „L’Orfeo“.)

Am Wegrand

„Giselheer“ war der Kosename, den Else Lasker-Schüler für ihren zeitweiligen Geliebten Gottfried Benn verwendete. So lautet auch der Titel eins ihrer Gedichte, in dem sie ihn gegen Ende ihrer Beziehung direkt anspricht, „Höre! Letztes Lied an Giselheer“. „Ich bin dein Wegrand“, schreibt sie, worauf er seinerseits mit einem Gedicht und den brutalen Zeilen reagiert: „Niemand wird mein Wegrand sein / Lass deine Blüten nur verblühen / Mein Weg flutet und geht allein.“ Tatsächlich sind einige Frauen des Dichters erkrankt, gestorben, auf der Strecke geblieben; er selbst identifizierte sich mit der Figur des Orpheus als desjenigen, der mit dem Verlust weiterlebt und sich von diesem zum Gesang inspirieren lässt. Klaus Theweleit schreibt Benn zu, den Tod ihm naher Frauen zur Bedingung seines künstlerischen Schaffens gemacht zu haben. Ist Else Lasker-Schüler demnach auch als Eurydike zu verstehen, die in der Unterwelt verschwinden musste, um Orpheus zum Singen zu bringen?

(Vgl. Klaus Theweleit, Orpheus (und) Eurydike (= Buch der Könige, Bd. 1), Basel/Frankfurt a. M. 1988.)

Die Gedichte sprechen Gesa Schermuly, Blanka Winkler und Ronja Rath:

Höre (Letztes Lied an Giselheer)

Ich raube in den Nächten
Die Rosen deines Mundes,
Daß keine Weibin Trinken findet.

Die dich umarmt,
Stiehlt mir von meinen Schauern,
Die ich um deine Glieder malte.

Ich bin dein Wegrand.
Die dich streift,
Stürzt ab.

Fühlst du mein Lebtum
Überall
Wie ferner Saum?

Mein Tanzlied (Aus: Styx)

Aus mir braust finst’re Tanzmusik
Meine Seele kracht in tausend Stücken!
Der Teufel holt sich mein Missgeschick
Um es ans brandige Herz zu drücken.

Die Rosen fliegen mir aus dem Haar
Und mein Leben saust nach allen Seiten,
So tanz‘ ich schon seit tausend Jahr,
Seit meinen ersten Ewigkeiten.

Jugend

Ich hört Dich hämmern diese Nacht
An einem Sarg im tiefen Erdenschaft.
Was willst Du von mir, Tod!
Mein Herz spielt mit dem jungen Morgenrot
Und tanzt im Funkenschwarm der Sonnenglut
Mit all den Blumen und der Sommerlust.

Scher dich des Weges, alter Nimmersatt!
Was soll ich in der Totenstadt,
Ich, mit dem Jubel in der Brust!

Von anderen Räumen

„Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur reale (…) Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. (…) Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.

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Der erste Grundsatz lautet, dass es wahrscheinlich keine einzige Kultur gibt, die keine Heterotopien hervorbrächte. Es handelt sich hier um eine Konstante aller menschlichen Gruppen. (…)

In den sogenannten ´primitiven´ Gesellschaften gibt es eine Form von Heterotopie, die ich als Krisenheterotopie bezeichnen möchte. Das heißt, es gibt privilegierte, heilige oder verbotene Orte, die solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in dem sie leben, in einem Krisenzustand befinden. Dazu gehören etwa Heranwachsende, Frauen während der Monatsblutung, Frauen im Kindbett, Greise usw. In unserer Gesellschaft sind diese Krisenheterotopien im Verschwinden begriffen, auch wenn man noch einige Überreste finden kann. (…)

(…) [Sie] werden durch Heterotopien ersetzt, die man als Abweichungsheterotopien bezeichnen könnte: Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht. Dazu gehören Sanatorien und psychiatrische Anstalten, sicher auch die Gefängnisse, aber ohne Zweifel auch die Altersheime, die gleichsam an der Grenze zwischen Krisen- und Abweichungsheterotopien stehen, da das Alter letzlich eine Krise darstellt, aber auch eine Abweichung, denn in unserer Freizeitgesellschaft gilt Untätigkeit als Abweichung.

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Der zweite Grundsatz der Beschreibung von Heterotopien besagt, dass eine Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte bestehende und auch weiter fortbestehende Heterotopien in ganz anderer Weise funktionieren lassen kann. (…) Als Beispiel sei hier die merkwürdige Heterotopie des Friedhofs genannt.

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Dritter Grundsatz. Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen. So bringt das Theater auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung, die sich gänzlich fremd sind. (…)

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Vierter Grundsatz. Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen (…). Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben. So wird auch deutlich, dass der Friedhof tatsächlich ein hochgradig heterotoper Ort ist, denn er beginnt mit jener seltsamen Heterotopie, die der Verlust des Lebens für den Einzelnen darstellt, und mit jener Scheinewigkeit, in der er sich unablässig auflöst und verschwindet. (…)

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Fünfter Grundsatz. Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. Einen heterotopen Ort betritt man nicht wie eine Mühle. Entweder wird man dazu gezwungen wie im Fall der Kaserne oder des Gefängnisses, oder man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren. Man darf sie nur mit Erlaubnis betreten und nachdem man eine Reihe von Gesten ausgeführt hat. (…)

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Das letzte Merkmal der Heterotopien schließlich liegt darin, dass sie gegenüber dem übrigen Raum eine Funktion ausüben, die sich zwischen zwei extremen Polen bewegt. Entweder sollen sie einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarvt. Vielleicht war das lange Zeit die Aufgabe jener Freudenhäuser, die es heute nicht mehr gibt. Oder sie schaffen einen anderen Raum, einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist. Das wäre dann keine illusorische, sondern eine kompensatorische Heterotopie, und ich frage mich, ob das nicht in Teilen die Funktion mancher Kolonien gewesen ist.“

(Alle Zitate aus: Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006.)

„Wie lange werde ich geschrien haben, als Baby und Kleinkind, in der Wiege, im Bettchen? Ohne dass mich meine Eltern hörten, obwohl sie im Nebenzimmer saßen oder direkt neben mir im Elternbett schliefen?“

(Oehring, Mit anderen Augen, S.138.)

Eurydike und Orpheus in der Bildenden Kunst

Any imposition of solitary confinement beyond 15 days constitutes torture

— Juan E. Méndez, United Nations special rapporteur, August 5, 2011

Federico Flores (16 years in solitary): The SHU makes you a different person. You start talking to yourself like they do in the soap operas. I’ve been with people that were the brightest people. One day they just started having conversations with nobody. Next thing you know, they’re banging on the walls or throwing feces.

Shawn Smith (15 years in solitary): I’ve had these cell walls make me see delusions. I’ve tried to kill myself a few times. I’ve smeared my own blood on my cell walls and ceiling. I would cut myself just to see my own blood.

Ray Luc Levasseur (13 years in solitary): If you take the water out of the toilet and holler into it, it acts as a megaphone, and the prisoner in the next cell can hear you through the other toilet a little bit.

Steven Czifra (8 years in solitary): That’s what people don’t understand when you try to explain. I’m there for eight years, and in that eight years, they have eight years of experiences. I have one day of experiences. Every day is the same.

Robert Saleem Holbrook (10 years in solitary): The noise in solitary is the contained energy of men literally buried alive.

(Alle Zitate aus: Nathaniel Penn, Buried Alive. Stories From Inside Solitary Confinement, URL: https://www.gq.com/story/buried-alive-solitary-confinement (22.04.2021).)

Helmut Oehring, GebärdenChoreografie Clip

Ein Beispiel von ca. 200 Clips als Material und Arbeitsgrundlage für die Mitwirkenden

Ein eigener Raum – und sei es in der Unterwelt?

„Indeed, if woman had no existence save in the fiction written by men, one would imagine her a person of the utmost importance; very various; heroic and mean; splendid and sordid; infinitely beautiful and hideous in the extreme; as great as a man, some think even greater. But this is woman in fiction. In fact, as Professor Trevelyan points out, she was locked up, beaten and flung about the room.
A very queer, composite being thus emerges. Imaginatively she is of the highest importance; practically she is completely insignificant. She pervades poetry from cover to cover; she is all but absent from history. She dominates the lives of kings and conquerors in fiction; in fact she was the slave of any boy whose parents forced a ring upon her finger. Some of the most inspired words, some of the most profound thoughts in literature fall from her lips; in real life she could hardly read, could scarcely spell, and was the property of her husband. (S. 51)

She knew, no one better, how enormously her genius would have profited if it had not spent itself in solitary visions over distant fields; if experience and intercourse and travel had been granted her. But they were not granted; they were withheld; and we must accept the fact that all those good novels, Villette, Emma, Wuthering Heights, Middlemarch, were written by women without more experience of life than could enter the house of a respectable clergyman; written too in the common sitting-room of that respectable house and by women so poor that they could not afford to buy more than a few quires of paper at a time upon which to write Wuthering Heights or Jane Eyre. (S. 82)

It was strange to think that all the great women of fiction were, until Jane Austen´s day, not only seen by the other sex, but seen only in relation to the other sex. And how small a part of a woman´s life is that. (S. 96)

Suppose, for instance, that men were only represented in literature as the lovers of women, and were never the friends of men, soldiers, thinkers, dreamers; how few parts in the plays of Shakespeare could be allotted to them; how literature would suffer! (S. 97)

For my belief is that if we live another century or so – I am talking of the common life which is the real life and not of the little separate lives which we live as individuals – and have five hundred a year each of us and rooms of our own; if we have the habit of freedom and the courage to write exactly what we think; if we escape a little from the common sitting-room and see human beings not always in their relation to each other but in relation to reality; and the sky, too, and the trees or whatever it may be in themselves; if we look past Milton´s bogy, for no human being should shut out the view; if we face the fact, for it is a fact, that there is no arm to cling to, but that we go alone and that our relation is to the world of reality and not only to the world of men and women, then the opportunity will come and the dead poet who was Shakespeare´s sister will put on the body which she has so often laid down.“

(S. 131/132)

(Alle Zitate aus: Virginia Woolf, A Room Of One´s Own, London: penguin books, 2004.)

(Schöne) Leichen. Ein Faszinosum für den (männlichen) Künstler?

„Blind sein trennt von den Dingen.
Taub sein von den Menschen.“

(Oehring, Mit anderen Augen, S. 129.)

Ohrsinn / Unsinn / Eigensinn

„Es ist ein durch das Hören gestählter Blick, in den sich die Linearität und der horizontale Verlauf einer (imaginierten) Stimme eingeschrieben hat.
Sinn und Unsinn sind Kriterien, die einem Blick gehorchen, der auf unsichtbare Weise mit den Ohren verbunden ist. (…)
Sinn und Unsinn sind Kriterien, die einem durch die phonetische Schrift geprägten Blick gehorchen, der darin geübt ist, graphisches und lautliches Symbol unter Verzicht auf die Anbindung an das Sichtbare zu koppeln. (…)

Sinn und Unsinn sind Kriterien eines lesenden Blicks, der in der überwiegenden Mehrzahl männlich war.“

(Zitate aus: Iris ter Schiphorst, Ohrsinn / Unsinn / Eigensinn. Eine kurze Abhandlung über Schrift, in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 101, 29. Jg. (1998), S. 8-9.)

Orpheus en de Hellehond van de Hades

„Orpheus en de Hellehond van de Hades” von Frank Groothof mit einem Liedtext von Marjet Huiberts

Zerberus, Dämon der Grube:

guten Morgen, liebe Toten
wisst ihr, dass ihr im Hades seid
der herrliche Hades
wo das Leben ein Fest ist
wo es weder Hunger noch Schmerz gibt
der herrliche Hades
wo du nach deinem Erdenleben
deine wohlverdiente Ruhe kannst genießen
der herrliche Hades
wo das Essen immer gut ist
nie wieder Rosenkohl
meistens essen wir Pommes
der herrliche Hades
und niemals ist es hier langweilig
im Hades kann man viel machen
der herrliche Hades
man spielt ‘survival’ oder Lingo
und jeden Freitagabend Bingo
der herrliche Hades
und du kannst auch angenehm schwimmen
wenn es warm ist, springst du einfach in den Styx hinein
der herrliche Hades
und vor allem an heißen Tagen
sind dort meistens viele hübsche Mädchen
der herrliche Hades
im Saal hier hinten kann man Karten spielen
aber meistens gibt es dort nur alte Frauen
wenn du keine Lust hast, Blackjack oder Mau-Mau zu spielen
dann kannst du auch “laserquesten”
oder du logst dich auf MSN ein
der herrliche Hades

nirgendwo ist es so gut wie hier
denn nirgendwo gibt es so viel Unterhaltung
du würdest sterben für diese Freude
ha ha Hades, der herrliche Hades
nirgendwo ist es so gut wie hier
denn nirgendwo gibt es so viel Unterhaltung
du würdest sterben für diese Freude
ha ha Hades, der herrliche Hades

der herrliche Hades

es gibt jedoch eine Einschränkung
du darfst nimmer aus dem Hades raus
der herrliche Hades
aber das würdest du doch auch gar nicht wollen
deinen schönen Tod so zu verschwenden
der herrliche Hades
wir sind die Wächter
niemand darf den Hades heimlich verlassen
der herrliche Hades
mit der Hilfe von Monitoren
behalten wir hier alles im Blick
der herrliche Hades
benutze deinen Verstand und versuch nicht zu entkommen
denn dann müssen wir dich ernsthaft behelligen
zu fünft werden wir dich knallhart beißen
und deinen ganzen Körper aufreißen
und wir werden dich durch den ganzen Hades ziehen

der herrliche Hades

nirgendwo ist es so gut wie hier
denn nirgendwo gibt es so viel Unterhaltung
du würdest sterben für diese Freude
ha ha Hades, der herrliche Hades
nirgendwo ist es so gut wie hier
denn nirgendwo gibt es so viel Unterhaltung
du würdest sterben für diese Freude
ha ha Hades, der herrliche Hades
nirgendwo ist es so gut wie hier
denn nirgendwo gibt es so viel Unterhaltung
du würdest sterben für diese Freude
ha ha Hades, der herrliche Hades
nirgendwo ist es so gut wie hier
denn nirgendwo gibt es so viel Unterhaltung
du würdest sterben für diese Freude
ha ha Hades, oh der herrliche Hades

Orpheus en de Hellehond van de Hades, NL - DT

A Room of Her Own?

Inferno, Hades, Unterwelt: Orte gemarterter Seelen, auf ewig verstummter Schatten, ziellos umherirrender Verlorener? Oder womöglich Eurydikes Raum, in dem sie erstmals bei sich sein kann und die Rahmenbedingungen dafür findet, ihre eigene Stimme erklingen zu lassen? Kein Frühstück ans Bett, keine Haushälterin – sondern schlichtweg A Room Of Her Own?

(Alle Zitate aus: Mason Currey, Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstler, Zürich/Berlin: Kein & Aber, 2014.)