Abolirea familiei/Die Abschaffung der Familie

Nicoleta Esinencu (MDA)/HAU Hebbel am Ufer

Moldawisches Rumänisch, Russisch und Romani mit deutschen und englischen Übertiteln | Publikumsgespräch ab 22:00 Uhr am 25.10.

Theater Performance
Foto: Doro Tuch

Die Autorin und Regisseurin Nicoleta Esinencu verknüpft persönliche Erfahrungen des Verlusts der eigenen Eltern mit konkreten Entwicklungen der Familienpolitik im moldawischen Staat und mit der spezifischen Situation von Familien nach dem Zerfall der Sowjetunion. Sie fragt nach dem Begriff der „Familie“ im 21. Jahrhundert und was es heißt, in der heutigen Kultur über Familie zu sprechen. Ein Chor von Erzähler*innen verweist als kollektive Stimme auf die Mechanismen des staatlich geförderten Patriachats.

Das Thema Familie hat in der Republik Moldau besondere Bedeutung erlangt, denn nach dem Fall der Sowjetunion, als der neu geschaffene moldawische Staat das Wohl seiner Bürger nicht absichern konnte, verlagerte sich der ganze Druck des wirtschaftlichen Überlebens auf die Familie selbst.

Es war jeder einzelnen Familie überlassen, eine Lösung zu finden, um mit den veränderten Bedingungen fertig zu werden. Das Land zu verlassen, um im Ausland zu arbeiten, wurde zum Ausweg für den größten Teil der Bevölkerung. Dies führt seitdem zur Trennung und zum Auseinanderfallen vieler Familien und zur Entfremdung vieler Eltern von ihren Kindern, Männern von ihren Frauen, zu Brüchen zwischen Brüdern und Schwestern. Ein sehr konkretes, aber auch allgemeines Phänomen der Auflösung der Familie, dem der Staat einerseits bis heute in keiner Weise mit wirksamen Mitteln entgegenarbeitet, um auf der anderen Seite die Rhetorik fortzusetzen, dass die Familie als einer der höchsten traditionellen, christlichen und moldawischen Werte nicht infrage gestellt oder diskutiert werden darf.

Ausgehend von diesen konkreten Zusammenhängen und verknüpft mit der persönlichen Erfahrung des Verlusts der eigenen Eltern, fragt Nicoleta Esinencu nach dem Begriff der „Familie“ im 21. Jahrhundert? Was heisst es, in der heutigen Kultur über Familie zu sprechen? Eine Kultur, in der über die eigene Verletzlichkeit zu sprechen inakzeptabel ist, wobei die Familie eines unserer empfindlichsten Felder ist. Eine Kultur, in welcher es nicht erwünscht ist,  Familienbeziehungen zu relativieren oder infrage zu stellen.

Die Familie, die traditionelle Familie, die patriarchalische Familie, die monogame Familie – all das weckt geradezu idyllische Vorstellungen von Sorge, Liebe und Unterstützung. Nie geht es um Lieblosigkeit, Gewalt, emotionalen Terror oder Machtbeziehungen.

Auf der Bühne werden unterschiedliche Familien-Geschichten entwickelt. Die Geschichtenerzähler*innen bilden gleichwohl einen Chor – als eine kollektive Stimme, die die Mechanismen des staatlich geförderten Patriarchats verdeutlicht. Die mit dem Mythos der monogamen Familie aufräumt, der die traditionelle Familie in Bann hält; die einen bösen Blick wirft auf das Privateigentum; die das patriarchalische System verflucht und am Ende den Kapitalismus selbst.

Nicoleta Esinencu/teatru-spălătorie

Nicoleta Esinencu (*1978, Chișinău, UdSSR / Republik
Moldau) lebt und arbeitet als Autorin und Regisseurin in Chișinău. Nach einem Stipendium an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart wurde sie mit ihrem Text „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“ international bekannt. Das Stück gewann den rumänischen dramAcum-Theaterpreis und wurde 2005 im Reader des rumänischen Pavillons bei der 51. Biennale in Venedig veröffentlicht.

Die Künstlerin war 2008 und 2017 zu Gast bei der Leipziger Buchmesse und 2010 beim Internationalen Literaturfestival Berlin. 2009 wurde sie als eine von 16 Bühnenautor*innen vom Goethe-Institut zum Projekt „After the Fall – Europa nach 1989“ eingeladen, in dessen Rahmen sie die Performance „Antidote“realisierte.

2010 war Nicoleta Esinencu Mitbegründerin der unabhängigen Initiative teatru-spãlãtorie, die aus dem Bedürfnis heraus entstand, einen alternativen Kunstraum in Chișinăuzu schaffen, in dem Künstler*innen in Bezug auf die politischen und sozialen Ereignisse in Moldawien agieren und reagieren können. Da 2017 der Veranstaltungsort geschlossen werden musste, setzt das Frauenkollektiv teatru-spălătorie seitdem die Arbeit ohne eigene Bühne fort.Ihre viel diskutierten Theaterprojekte betrachten die gesellschaftliche Realität in der Republik Moldau und die damit verbundenen Widersprüche der postsowjetischen Zeit unter einem kritischen Blickwinkel auf die gesamteuropäische Geschichte.

Das HAU Hebbel am Ufer arbeitet seit 2012 kontinuierlich mit Nicoleta Esinencu und teatru-spălătorie zusammen. 2012 waren sie erstmals mit “Clear History” im Rahmen des Festivals “Many
Years After …” in Berlin zu Gast und bei “Good Guys Only Win in Movies” (2014) mit “Dear
Moldova, can we kiss just a little bit?” (gemeinsam mit Jessica Glause) und “American Dream”.

Im Rahmen des Festivals “Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss 100“ (2016) hatte die HAU-Auftragsarbeit “Life“ Premiere. Zuletzt war die Koproduktion “Requiem für Europa“ im Rahmen von “Comrades, I am not Ashamed of my Communist Past“ im HAU zu sehen. Die aktuelle internationale Koproduktion „NN “ ist erneut eine Auftragsarbeit des HAU Hebbel am Ufer.

Seit Juni 2019 ist Nicoleta Esinencu Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.