Schwerpunkt Heiner Müller:

„Ich habe versucht, eine Hoffnung zu denken.“

Podiumsveranstaltung | zusätzlich Installation "Die Müllermatrix", Interrobang (DE)

Installation Film 2019/20

Geboren 1929 im sächsischen Eppendorf, wird Heiner Müller bis zu seinem Tod 1995 in Berlin nicht müde, das historische Fundament (des wiedervereinigten) Deutschlands umzugraben und unbequeme Kontinuitäten der gesellschaftlichen Strukturen freizulegen: Gewalt, soziale Ungerechtigkeit, Ausschlussmechanismen. „Was jetzt gebraucht wird, ist nicht Einheit, sondern die Ausformulierung der vorhandenen Differenzen“, erklärte Heiner Müller kurz nach der Wende. Die von Heiner Müller 1994 prophezeiten „neuen Mauern“ sind installiert, die osterweiterte Europäische Union schottet sich vor den Flüchtlingsströmen, den Konsequenzen mitverschuldeter Armut und Krieg ab. Was tun? – nachdem die großen Erzählungen und Subjekte der Revolutionen beerdigt sind? Gibt es neue Versuche, die alten Gedanken aufzugreifen und umzudeuten? Und welches Potenzial haben die Texte und das politische Denken von Heiner Müller für gegenwärtige Protestbewegungen? Im Osten bis Mitte der 1970er Jahre nicht gespielt, stießen Heiner Müllers Stücke in der BRD, in Frankreich oder in den USA auf großes Interesse. Was machte die Figur Müller anschlussfähig für die linken Diskurse im Westen? Wie veränderte die Wende seine Rezeption in Ost und West? Und warum wurde er nach 1990 zum vielleicht gefragtesten Gesprächspartner für die Medien? Diesen und anderen Fragen widmet sich eine Podiumsveranstaltung in Kooperation mit der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft.

Programm

14:30 Uhr Podium I „Ich bin ein Landvermesser“ Zur Rezeption der Texte und Theaterarbeiten Heiner Müllers in Ost- und Westdeutschland, insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren. Mit: Andrea Koschwitz, Janine Ludwig, Frank Raddatz, Noah Willumsen 16:00 Uhr  Der Mann im Fahrstuhl – mit Günter Schabowski Eduard Erne (AT) | Film (20 Min.), Produktion TaT, Frankfurt a.M. 1990 16:45 Uhr Podium II „Was jetzt gebraucht wird, ist nicht Einheit, sondern … Differenzen“ Wie lassen sich Heiner Müllers Texte im Kontext heutiger gesellschaftlicher Umbrüche und Protestbewegungen lesen? Mit: Dirk Baecker, Alexander Karschnia, Till Müller-Klug, Anja Quickert Kurzbiografien der Teilnehmer*innen: Podium I Andrea Koschwitz, Diplom-Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin in Berlin. Seit 1984 Theaterarbeit als Schauspieldramaturgin in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz (u.a. 1986 bei Heiner Müllers „Der Bau“, Regie Frank Castorf), Schwerin (u.a. 1993 Heiner Müllers „Hamletmaschine“, Regie: Sabine Andreas) und an der Berliner Schaubühne. Ab 1998 arbeitete sie in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter anderem mit Frank Castorf, Christoph Marthaler und Dimiter Gotscheff zusammen. Von 2000 bis 2004 übernahm sie die Funktion der Leitenden Dramaturgin der Volksbühne. Ab 2004 war sie Chefdramaturgin am Staatsschauspiel Dresden und von 2006 bis 2011 am Maxim Gorki Theater Berlin. Von 2012 bis 2019 arbeitetet sie als Dramaturgin am Residenztheater München, unter anderem bei den Inszenierungen von Heiner Müllers Zement (Regie: Dimiter Gotscheff). Seit 2019 ist sie Dozentin für Dramaturgie und Theatergeschichte am Mozarteum Salzburg, der Akademie der Darstellenden Künste Ludwigsburg, der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin sowie der Filmuniversität Potsdam. Janine Ludwig, Literaturwissenschaftlerin und Akademische Direktorin des Durden-Dickinson-Bremen-Programms an der Universität Bremen (2013-14 Gastdozentin am Dickinson College). Sie veröffentlichte zwei Monographien zu Heiner Müller und zwei Sammelbände über Post-DDR-Literatur (mit Mirjam Meuser). Sie ist Vorstandsvorsitzende der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft und Stellvertretende Leiterin des Instituts für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (ifkud). Frank M. Raddatz ist Publizist, Dramaturg an diversen Theatern. Er arbeitete u.a. mit Heiner Müller, Dimiter Gotscheff, Theodoros Terzopoulos, Einar Schleef und Tadashi Suzuki. Zudem war er Künstlerischer Leiter der internationalen Kooperation Mania Thebaia (Düsseldorf/Epidaurus) 2002 und der Promethiade Athen – Essen – Istanbul 2010. Zwischen 2007 und Mai 2014 war er in der Chefredaktion von Theater der Zeit, seitdem arbeitet er für die Kulturzeitschrift Lettre International, Berlin. Er ist Mitglied des ITI und lehrt an verschiedenen Universitäten. Derzeit unterrichtet er an der Universität Greifswald und lebt in Berlin. Neben zahlreichen Publikation zu Ästhetik, Literatur und Theatertheorie ist seine aktuellste Veröffentlichung die vierbändigen Reihe „Performative Strategien“ für die Kunststiftung NRW im Alexanderverlag. Noah Willumsen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg zur Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Komparatistik, Kunstgeschichte und Philosophie (Pittsburgh, Berlin 2017). Er schreibt seine Dissertation zum Thema Medienmaterial: Heiner Müllers Interviews. Forschungsschwerpunkte: Schriftstellerinterviews, Rundfunkgeschichte, Mediengeschichte der DDR. Sein Band Brechts Gesammelte Interviews erscheint demnächst bei Suhrkamp. Podium II Dirk Baecker, Soziologe, Universität Witten/Herdecke, Studium der Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris, Promotion und Habilitation an der Universität Bielefeld, seit 1996 an der Universität Witten/Herdecke, seit 2007 an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, seit 2015 wieder an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsgebiete: soziologische Theorie, Kulturtheorie, Wirtschaftssoziologie, Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngste Veröffentlichungen: „4.0 oder Die Lücke die der Rechner“ lässt (Merve, 2018), „Intelligenz, künstlich und komplex“ (Merve, 2019). Alexander Karschnia, Theatermacher und -wissenschaftler: Performer, Texter & Theoretiker, Mitbegründer von andcompany&Co. Er schreibt für und über Theater, u.a. über Brecht, Müller, Schlingensief, Pollesch, Rimini Protokoll u.a. Zu seinen Jugendsünden zählen die Erfindung der Frankfurter NachtTanzDemos und die Übernahme von Schlingensiefs Partei CHANCE 2000. Er entwickelt lecture performances und organisiert Konferenzen, z.B.: ZUM ZEITVERTREIB, NA(AR) HET THEATER – after theatre?, die ersten Mülheimer FATZERTAGE, die Werkstattgespräche bei den diesjährigen Brechttagen in Augsburg oder das Symposium Performerism – Kreativität im Spätkapitalismus am FFT (Forum Freies Theater). Zusammen mit Kathrin Tiedemann kuratiert er dort auch die Reihe #futurepolitics. Till Müller-Klug, Gründungsmitglied von Interrobang, studierte in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft bei Professor Andrzej Wirth und promovierte über Nietzsches Theaterprojektionen. Ab Mitte der Neunziger bis Anfang der Nullerjahre war er in der internationalen Spoken-Word-Szene aktiv. Seit 2002 schrieb und realisierte er zahlreiche Theaterstücke und -projekte und Hörspiele. “Europa, eine Plagiate-Saga” (WDR 2012) und “Ich als Großprojekt” (WDR 2015) wurden von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste jeweils zum Hörspiel des Monats gewählt. “Sprachlabor Babylon” gewann den Kurd Laßwitz Preis und war nominiert für den Deutschen Hörbuch-Preis 2014. Sein neues Theaterstück “Der Minusmensch” wurde im Herbst 2016 am Schauspiel Leipzig uraufgeführt. Anja Quickert, Studium der Theaterwissenschaft, Neueren Deutschen Literatur und Philosophie in Mainz, Bologna, Warschau und Berlin. Anja Quickert lebt in Berlin, arbeitete als Dramaturgin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und heute als freie Dramaturgin. Sie schreibt als freie Autorin u.a. für „Theater heute“. Seit 2011 ist sie die Geschäftsführerin der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft. Sie verantwortet deren regelmäßige Veranstaltungsreihen − den „Müllermontag“ von 2012-2016 im Literaturforum im Brecht-Haus, den „Müllersalon“ im Deutschen Theater Berlin seit 2017. Sie hat an diversen Werkstätten der Gesellschaft dramaturgisch und organisatorisch mitgearbeitet und war Ko-Leiterin der internationalen „Müller-Konferenz“ „Das Rätsel der Freiheit“ 2014 sowie beim Theaterfestival „Heiner Müller!“ am HAU 2016. Seit 2018 ist sie Teil der DFG-Forschergruppe „Krisengefüge in den Künsten“ und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Trier. Außerdem zeigen wir während des gesamten Festivals im Ecksalon Ost die Installation Die Müllermatrix – Interrobang In der interaktiven Audio-Installation „Die Müllermatrix“ wird Heiner Müller reanimiert. Per Telefon kommuniziert das Publikum mit einem Müller-Cyborg. Halb Mensch, halb Telefoncomputer, äußert sich Heiner Müller zu verschiedensten Themengebieten der Gegenwart: vom Untergang Europas über Vorratsdatenspeicherung, Migration und soziale Ungleichheit bis hin zur zeitgenössischen Theaterlandschaft. Per Tastenwahl können die Teilnehmenden ihren Austausch mit Heiner Müller individuell gestalten, auf dem Resonanzboden von Müllers Äußerungen nach Antworten für das 21. Jahrhundert suchen und gemeinsam mit Müller in die dämonischen Tiefen des hypertextuellen Systems vordringen, in das er für diese Audioinstallation verpflanzt wurde. Interrobang haben mit der Analyse, O-Ton-Montage und Digitalisierung des umfangreichen Müller-Audiomaterials eine künstliche Heiner-Müller-Intelligenz erschaffen, die gespenstisch und befremdlich auf die Texte und Interviews Heiner Müllers zurückblickt und diese für die Gegenwart neu konfiguriert.